Jenseits der Marktkräfte: Gesellschaftliche Veränderungen
Bis jetzt haben wir den Einfluss von Marktkräften, Politik und Rent-Seeking auf den hohen Grad von Ungleichheit in unserer Gesellschaft diskutiert. Ebenso wichtig sind allgemeine gesellschaftliche Veränderungen, die sowohl Normen als auch Institutionen betreffen.30 Diese werden ebenfalls von der Politik geprägt und prägen ihrerseits die Politik. Die augenfälligste gesellschaftliche Veränderung ist der Niedergang der Gewerkschaften: Waren 1980 noch 20,1 Prozent der Lohn- und Gehaltsempfänger in den USA gewerkschaftlich organisiert, sank dieser Prozentsatz bis 2010 auf 11,9 Prozent.31 Ein ökonomisches Machtgefälle und ein politisches Vakuum waren die Folge. Ohne den Schutz, den eine Gewerkschaft bietet, ist es den Arbeitern noch schlechter ergangen, als es ansonsten der Fall gewesen wäre. Marktkräfte schränkten die Einflussmöglichkeiten der verbliebenen Gewerkschaften weiter ein. Die Drohung mit Arbeitsplatzverlusten durch Verlagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland hat die Macht der Gewerkschaften erodieren lassen. Ein schlechter Job ohne angemessene Bezahlung ist besser als gar kein Job. Aber so, wie unter Präsident Franklin Delano Roosevelt die gewerkschaftliche Organisierung gefördert wurde, so haben republikanische Politiker sowohl auf einzelstaatlicher wie auf Bundesebene im Namen der Flexibilisierung des Arbeitsmarktes auf die Schwächung der Gewerkschaften hingearbeitet. Den Auftakt markiert die Niederschlagung des Fluglotsenstreiks durch Präsident Reagan im Jahr 1981.32
Nach gängiger volkswirtschaftlicher Lehrmeinung tragen flexible Arbeitsmärkte zu ökonomischer Schlagkraft bei. Ich dagegen behaupte, dass ein starker arbeitsrechtlicher Schutz von Arbeitnehmern ein andernfalls bestehendes ökonomisches Machtungleichgewicht korrigiert. Ein derartiger Schutz steigert die Loyalität der Arbeitnehmer zu ihren Firmen, ihre Leistungsbereitschaft und ihre Motivation, in sich selbst und in ihre Arbeitsplätze zu investieren. Außerdem verbessert er den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Atmosphäre am Arbeitsplatz.33 Die Tatsache, dass die Entwicklung am amerikanischen Arbeitsmarkt in der Großen Rezession so unbefriedigend verlaufen ist und dass sich die Situation amerikanischer Arbeitnehmer seit mittlerweile dreißig Jahren ständig verschlechtert, sollte Zweifel an den mythischen Vorzügen eines flexiblen Arbeitsmarktes aufkommen lassen. In den Vereinigten Staaten gelten Gewerkschaften jedoch als Hort der Unbeweglichkeit und daher als eine Ursache für die Ineffizienz des Arbeitsmarktes, was ihr Ansehen inner- wie außerhalb der Politik nachhaltig beschädigt hat.34
Ungleichheit mag zugleich Ursache wie Folge der Entwicklung sein, die in den letzten vierzig Jahren zum Zusammenbruch des gesellschaftlichen Zusammenhalts geführt hat. Das Muster und das Ausmaß der Lohn- und Gehaltsschwankungen in Prozent des Volkseinkommens lassen sich kaum mit einer Theorie in Einklang bringen, die sich ausschließlich auf herkömmliche ökonomische Faktoren stützt. So haben sich beispielsweise im verarbeitenden Gewerbe über dreißig Jahre lang, von 1949 bis 1980, Produktivität und realer Stundenlohn parallel entwickelt. Im Jahr 1980 dann begannen sie plötzlich auseinanderzudriften – der reale Stundenlohn stagnierte fast fünfzehn Jahre lang, ehe er wieder, fast im Gleichschritt mit der Produktivität, zu steigen begann, und zwar bis Anfang der nuller Jahre, als der Reallohn abermals weitgehend stagnierte. Diese Daten lassen sich unter anderem dahingehend deuten, dass sich Topmanager in den Phasen, in denen die Lohnzuwächse weit hinter den Produktivitätssteigerungen zurückblieben, einen höheren Anteil an den »Renten« sicherten, die ihre Unternehmen abwarfen.35
Das Ausmaß, in dem dies geschieht, wird nicht nur von ökonomischen und gesellschaftlichen Kräften (der Fähigkeit und Bereitschaft von Vorstandschefs, einen höheren Prozentsatz der Unternehmenserträge für sich selbst abzuzweigen), sondern auch von der Politik beeinflusst und davon, welchen rechtlichen Ordnungsrahmen diese setzt.