Umverteilung von unten nach oben
Um ihr Einkommen auf Kosten der übrigen gesellschaftlichen Gruppen zu erhöhen, machen sich die Reichen unter anderem ihre Marktmacht und ihren politischen Einfluss zunutze.
Der Finanzsektor kennt sich in den unterschiedlichsten Formen von Rent-Seeking bestens aus. Wir haben bereits einige davon erwähnt, doch es gibt noch viele weitere: Man nutzt Informationsasymmetrien (beim Verkauf von Wertpapieren, die als Verlustgeschäfte für die Käufer konstruiert werden, wobei die Verantwortlichen wussten, dass die Käufer dies nicht wissen);10 man geht unvertretbare Risiken ein, wobei der Staat absichert, rettet und die Verluste übernimmt, und aus diesem Wissen heraus kann man Kredite zu niedrigeren Zinsen aufnehmen, als es einem sonst möglich wäre; man beschafft sich extrem zinsgünstige – mittlerweile fast zinslose – Kredite bei der US-Notenbank.
Aber die ungeheuerlichste Form des Rent-Seeking – die zudem in den letzten Jahren perfektioniert wurde – war die Fähigkeit des Finanzsektors, die Armen und Uninformierten auszunutzen, indem er gewaltige Profite damit machte, dass er diese Gruppen durch aggressive, ausbeuterische Kreditvergabe und missbräuchliche Kreditkartenpraktiken ökonomisch regelrecht ausschlachtete.11 Auch wenn jeder nur wenig besitzen mag – es gibt so viele Arme, dass ein bisschen von jedem einen ordentlichen Batzen ergibt. Das leiseste Gespür für soziale Gerechtigkeit – oder auch die Sorge um die Effizienz des gesamten Systems – hätte die Regierung dazu veranlassen müssen, diese Aktivitäten zu verbieten. Schließlich wurden im Rahmen der Umverteilung von unten nach oben erhebliche Summen aufgebraucht, weshalb es sich um ein Negativsummenspiel handelt. Aber die Regierung hat diesen Praktiken kein Ende gesetzt, nicht einmal dann, als um das Jahr 2007 herum immer deutlicher wurde, was da vor sich ging. Der Grund war offensichtlich. Der Finanzsektor hatte viel Geld für Lobbyarbeit und Wahlkampfspenden ausgegeben, und diese Investitionen hatten sich ausgezahlt.
Ich erwähne den Finanzsektor auch deshalb, weil er erheblich zu dem heutigen Ausmaß der Ungleichheit in unserer Gesellschaft beigetragen hat.12 Die Rolle des Finanzsektors bei der Entstehung der Krise in den Jahren 2008/9 ist für alle unverkennbar. Nicht einmal diejenigen, die in dem Sektor arbeiten, bestreiten dies, obwohl jeder überzeugt davon ist, dass ein anderer Teil des Finanzsektors die Hauptschuld trägt. Vieles von dem, was ich über den Finanzsektor gesagt habe, ließe sich allerdings auch über andere wirtschaftliche Akteure sagen, die an der Schaffung der gegenwärtigen Disparitäten ebenfalls beteiligt waren.
Der moderne Kapitalismus ist zu einem komplexen Spiel geworden, und diejenigen, die dabei gewinnen, brauchen mehr als nur ein bisschen Grips. Allerdings zeichnen sich die Gewinner oft auch durch weniger bewundernswerte Eigenschaften aus: die Fähigkeit, das Gesetz zu umgehen oder es zu seinem eigenen Vorteil zu beeinflussen; die Bereitschaft, andere auszunutzen, selbst die Armen, und, wenn nötig, unfair zu spielen.13 Wie es einer der erfolgreichen Spieler in diesem Spiel ausdrückte, ist der alte Spruch: »Es ist egal, ob du gewinnst oder verlierst, was zählt, ist wie du spielst«, Unsinn. Das Einzige, was zählt, ist, ob du gewinnst oder verlierst. Der Markt stellt eine einfach Methode bereit, um Erfolg oder Misserfolg auszuweisen: die Summe Geldes, die jemand besitzt.
Die Tatsache, dass sie im Rent-Seeking-Spiel zu den Gewinnern zählen, hat vielen an der Spitze der Einkommenspyramide ein Vermögen beschert. Allerdings lässt sich nicht nur auf diesem Weg ein Vermögen machen und erhalten. Wie wir später sehen werden, spielt das Steuersystem ebenfalls eine Schlüsselrolle. Denjenigen an der Spitze ist es gelungen, ein Steuersystem zu konzipieren und durchzusetzen, in dem sie weniger als ihren gerechten Anteil zahlen: Sie zahlen einen niedrigeren Prozentsatz ihres Einkommens als diejenigen, die viel ärmer sind. Wir nennen solche Steuersysteme regressiv.
Regressive Steuern und Rent-Seeking stehen als Instrumente, die der Umverteilung von unten nach oben, insbesondere nach ganz oben dienen, im Zentrum der Entwicklung, die zu dem krassen Auseinanderdriften der Vermögensverhältnisse führte, das wir heute in den USA beobachten. Allgemeinere Kräfte sind für zwei andere Aspekte der Ungleichheit – das Aushöhlen der Mittelschicht und die Zunahme der Armut – mitverantwortlich. Rechtsnormen zur Unternehmensführung beeinflussen die Verhaltensnormen, die für die Führungskräfte dieser Unternehmen ausschlaggebend sind, und legen fest, wie Erträge zwischen dem Topmanagement und anderen Anspruchsgruppen (Arbeitnehmern, Aktionären und Anleihegläubigern) aufgeteilt werden. Makroökonomische Strategien bestimmen, ob die Lage am Arbeitsmarkt angespannt ist oder nicht, wie hoch folglich die Arbeitslosigkeit ist und wie die Marktkräfte wirken, um den Ertragsanteil der Arbeitnehmer zu verändern. Wenn die Währungsbehörden durch ihre Politik die Arbeitslosigkeit hoch halten (und sei es aus Inflationsangst), dann werden die Löhne nur gering steigen. Starke Gewerkschaften haben dazu beigetragen, Disparitäten in der Einkommensverteilung auszugleichen, schwächere Gewerkschaften dagegen machen es Topmanagern, die sich dabei manchmal mit Marktkräften verbünden, die sie selbst maßgeblich gestalten, leicht, die Ungleichheit zu verschärfen. Bei diesen Fragen – der Macht der Gewerkschaften, der Effektivität der Corporate Governance und der Geldpolitik – sind politische Weichenstellungen entscheidend.
Noch einmal: Selbstverständlich spielen auch Marktkräfte eine entscheidende Rolle, wenn etwa Veränderungen in Technologie und Bildung sich auf Angebot und Nachfrage auf dem Facharbeitsmarkt auswirken, selbst wenn diese Kräfte teilweise durch die Politik geprägt werden. Doch anstatt dass sich diese Marktkräfte und die Politik gegenseitig austarieren, der politische Prozess also in Zeiten, in denen die Marktkräfte Disparitäten womöglich verschärfen, lindernd wirkt und die Regierung die Exzesse des Marktes zügelt, haben die beiden im heutigen Amerika zusammengearbeitet, um Einkommens- und Vermögensdisparitäten noch zu steigern.