Deregulierung
Eine unausgewogene Politik auf der Basis extremer Ungleichheit vermag noch auf andere Weise zu Instabilität zu führen: durch Deregulierung. Deregulierung hat maßgeblichen Anteil an der Instabilität, die wir und viele andere Länder erleben. Es lag im kurzsichtigen Interesse der Vermögenden, Aktiengesellschaften und insbesondere dem Finanzsektor freie Hand zu lassen; sie benutzten ihren politischen Einfluss und ihre Macht zur Meinungsbildung dazu, die Deregulierung voranzutreiben, zunächst in der Luftfahrtbranche und anderen Verkehrssektoren, dann in der Telekommunikationsindustrie und schließlich – und da waren die Folgen am gefährlichsten – auf den Finanzmärkten.12
Gesetzliche Vorschriften sind die Spielregeln, die die Funktionstüchtigkeit unseres Systems verbessern sollen: um freien Wettbewerb sicherzustellen, Missbrauch zu verhindern und diejenigen zu schützen, die sich nicht selbst schützen können. Ohne gesetzliche Beschränkungen greifen die im letzten Kapitel beschriebenen Formen von Marktversagen – bei denen Märkte keine effizienten Ergebnisse produzieren – immer weiter um sich. Im Finanzsektor zum Beispiel kommt es dann zu Interessenkonflikten und Auswüchsen wie übermäßiger Kreditvergabe, Überschuldung, überzogener Risikobereitschaft und Spekulationsblasen. Aber die Akteure im Unternehmenssektor sehen die Dinge anders: Sie sehen vor allem die Gewinnsteigerungen, die ihnen der Wegfall gesetzlicher Beschränkungen beschert. Sie denken nicht an die allgemeinen und oftmals langfristigen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Folgen, sondern an ihren beschränkten, kurzfristigen Eigennutz, an die Gewinne, die sie jetzt womöglich einstreichen.13
Im Gefolge der Weltwirtschaftskrise, der ähnliche Exzesse vorausgingen, erließ die Regierung strenge Vorschriften zur Regulierung der Finanzmärkte, unter anderem den Glass-Steagall Act von 1933, der die Banken zwang, das Einlagen- und Kreditgeschäft vom Wertpapiergeschäft zu trennen, und außerdem zu einem Einlagensicherungsfonds führte. Diese konsequent durchgesetzten Gesetze leisteten dem Land gute Dienste: In den Jahrzehnten nach ihrer Verabschiedung blieb der Wirtschaft jene Art von Finanzkrise erspart, die die Vereinigten Staaten (und andere Länder) bis dahin wiederholt heimgesucht hatten. Mit der Aufhebung dieses Ordnungsrahmens im Jahr 1999 brachen sich die Auswüchse erneut und mit noch größerer Wucht Bahn: Die Banken setzten technische, wirtschaftswissenschaftliche und insbesondere finanzwirtschaftliche Fortschritte sehr schnell praktisch um. Diese Innovationen eröffneten Möglichkeiten zur Erhöhung der Fremdfinanzierung, mit denen sich die noch vorhandenen Vorschriften umgehen ließen und die die Aufsichtsbehörden nicht richtig durchschauten, sie boten neue Optionen zur ausbeuterischen Kreditvergabe und leisteten neuen Tricks Vorschub, mit denen unvorsichtige Kreditkartennutzer hinters Licht geführt werden konnten.
Die Verluste infolge der unzureichenden Auslastung von Produktionsmitteln, die mit der Großen Rezession und anderen konjunkturellen Abschwüngen einhergeht, sind enorm. Die schiere Vergeudung von Ressourcen, die diese jüngste durch den privaten Sektor verursachte Krise mit sich brachte – eine Differenz in Höhe von Billionen von Dollar zwischen dem Wert an Gütern und Dienstleistungen, die die Wirtschaft (bei Kapazitätsauslastung) hätte produzieren können, und der tatsächlichen Produktion – übertrifft alles, was eine demokratisch gewählte Regierung jemals an Finanzmitteln verschwendete. Der Finanzsektor gab vor, seine Innovationen hätten einen wirtschaftlichen Produktivitätsschub ausgelöst – eine Behauptung, für die es keine Beweise gibt –, und doch besteht kein Zweifel daran, dass gerade er für Instabilität und Ungleichheit verantwortlich ist. Selbst wenn der Finanzsektor dreißig Jahre lang zu einem um 0,25 Prozent höheren Wachstum geführt hätte – eine Annahme, die weit über das hinausgeht, was selbst die eifrigsten Fürsprecher des Sektors beteuern –, würde dies doch kaum die Verluste ausgleichen, die sein Fehlverhalten auslöste.
Wir haben gesehen, dass Ungleichheit Instabilität erzeugt, und zwar sowohl durch die Deregulierungspolitik als auch infolge der wirtschaftspolitischen Maßnahmen, die in der Regel als Reaktion auf die unzureichende Gesamtnachfrage ergriffen werden. Keines von beidem ist eine notwendige Folge der Ungleichheit: Wenn unsere Demokratie besser funktionierte, hätte sie sich vielleicht der politischen Forderung nach Deregulierung widersetzt und auf die schwache Gesamtnachfrage in einer Weise reagiert, die nachhaltiges Wachstum gestärkt anstatt eine Blase erzeugt hätte.14
Es gibt weitere negative Effekte dieser Instabilität: Sie erhöht die Risiken. Firmen sind risikoscheu, was bedeutet, dass sie einen Ausgleich für das Eingehen von Risiken verlangen. Ohne einen solchen Ausgleich drosseln sie ihre Investitionstätigkeit und das Wachstum fällt niedriger aus.15
Ungleichheit erzeugt Instabilität und diese Instabilität wiederum Ungleichheit – einer der fatalen Teufelskreise, um die es in diesem Kapitel geht. In Kapitel 1 sahen wir, dass die Große Rezession den unteren und sogar den mittleren Einkommensgruppen besonders übel mitgespielt hat, und dies ist typisch: Einfache Arbeitnehmer sehen sich mit höherer Arbeitslosigkeit, niedrigeren Löhnen, sinkenden Immobilienpreisen und dem Verlust eines Großteils ihres Vermögens konfrontiert. Da die Reichen besser in der Lage sind, Risiken zu tragen, ernten sie die Belohnung, die die Gesellschaft als Ausgleich für die Übernahme höherer Risiken bereitstellt.16 Wie immer zahlen sich die politischen Maßnahmen, für die sie sich einsetzten und die anderen so hohe Kosten aufbürdeten, offensichtlich für sie aus.
Im Gefolge der globalen Finanzkrise des Jahres 2008 setzt sich heute weltweit die Einsicht durch, dass Ungleichheit zu Instabilität führt und Instabilität ihrerseits Ungleichheit verschärft.17 Selbst der IWF, der die Stabilität der Weltwirtschaft gewährleisten soll und den ich heftig dafür kritisiert habe, dass er den Folgen, die seine Auflagen für die Armen bedeuten, nicht genügend Aufmerksamkeit schenkt, hat, wenn auch reichlich spät, eingeräumt, dass er das Thema Ungleichheit nicht ignorieren kann, wenn er seinen Auftrag erfüllen soll. In einer Studie aus dem Jahr 2011 zog der IWF folgendes Fazit: »Wir stellten fest, dass längere Wachstumsphasen durchgängig mit einer Angleichung der Einkommensverteilung verbunden sind. Ein Abbau der Ungleichheit und nachhaltiges Wachstum sind daher über längere Zeiträume betrachtet möglicherweise zwei Seiten derselben Medaille.«18 Im April 2011 unterstrich der damalige geschäftsführende Direktor des IWF, Dominique Strauss-Kahn: »Letztlich sind Beschäftigung und Gerechtigkeit Bausteine ökonomischer Stabilität und wirtschaftlichen Wohlstandes, politischer Stabilität und des Friedens. Damit gehören sie zu den Kernaufgaben des IWF und müssen ins Zentrum der wirtschaftspolitischen Agenda gerückt werden.«19