Zur Analyse der Ursachen von Ungleichheit
Ökonomen streiten sich gern darüber, in welchem Verhältnis einzelne Faktoren zu der wachsenden Ungleichheit in Amerika führten. Das zunehmende Auseinanderklaffen von Löhnen und Kapitaleinkommen und die Tatsache, dass ein wachsender Prozentsatz der Einkünfte auf jene Formen entfällt, die besonders ungleich verteilt sind, trugen dazu bei, dass das Markteinkommen immer weiter auseinanderdriftet. Ein Rückgang der Steuerprogression und Ausgabenkürzungen sind für eine noch stärkere Zunahme des Transfereinkommens nach Steuern mitverantwortlich.
Die Erklärung für die Zunahme der Streuung von Löhnen und Gehältern ist besonders umstritten. Einige konzentrieren sich auf den technischen Wandel und die damit verbundene Begünstigung von Hochqualifizierten. Andere legen das Augenmerk auf gesellschaftliche Faktoren: die Schwächung der Gewerkschaften oder die schwindende Geltungskraft sozialer Normen, die der Vergütung von Führungskräften Schranken setzten. Wieder andere rücken die Globalisierung in den Mittelpunkt. Einige betonen die wachsende Bedeutung der Finanzmärkte. Hinter jedem Erklärungsansatz stehen mächtige Gruppeninteressen: Wer darum kämpft, Märkte zu öffnen, schreibt der Globalisierung nur eine unwesentliche Rolle zu; wer sich für eine Stärkung der Gewerkschaften einsetzt, sieht in deren Schwächung den zentralen Faktor. Dann wieder prägen die unterschiedlichen Aspekte der Ungleichheit die jeweiligen Debatten: Die wachsende Bedeutung der Finanzmärkte hat vielleicht wenig mit der Polarisierung der Löhne in der Mittelschicht zu tun, dafür aber eine Menge mit der Zunahme von Einkommen und Vermögen an der Spitze. Außerdem variiert die Bedeutung der verschiedenen Faktoren je nach Zeitpunkt: Die Globalisierung hat seit dem Jahr 2000 vermutlich eine wichtigere Rolle gespielt als in dem vorhergehenden Jahrzehnt. Dennoch besteht unter Ökonomen zunehmend Einigkeit, dass sich die Wirkungen der einzelnen Kräfte kaum fein säuberlich auseinanderhalten und zergliedern lassen. Wir können keine kontrollierten Experimente durchführen, um herauszufinden, wie sich die Ungleichheit entwickelt hätte, wenn wir, unter ansonsten gleichen Bedingungen, stärkere Gewerkschaften gehabt hätten. Außerdem wechselwirken die Kräfte miteinander: Die Wettbewerbsorientierung der Globalisierung – die Drohung, Arbeitsplätze ins Ausland zu verlagern – hat entscheidend zur Schwächung der Gewerkschaften beigetragen.80
Aus meiner Sicht geht die Debatte häufig am Wesentlichen vorbei: dass die Ungleichheit in Amerika (und einigen anderen Ländern) so stark zugenommen hat, dass man sie nicht mehr ignorieren kann. Der technische Fortschritt (der Hochqualifizierte begünstigt) mag für gewisse Aspekte unseres gegenwärtigen Ungleichheitsproblems, insbesondere was die Polarisierung am Arbeitsmarkt angeht, von zentraler Bedeutung sein. Aber selbst wenn dem so ist, müssen wir nicht tatenlos zusehen und uns mit den Konsequenzen abfinden. Habgier mag der menschlichen Natur innewohnen, doch das heißt nicht, dass wir nichts tun könnten, um die Folgen dessen abzufedern, was gewissenlose Banker durch wettbewerbswidrige Praktiken und Ausbeutung der Armen anrichten. Wir können und sollten Banken regulieren, ausbeuterische Kreditvergabe verbieten, die Banken für ihre betrügerischen Produkte zur Rechenschaft ziehen und sie für den Missbrauch von Monopolmacht bestrafen. Mit stärkeren Gewerkschaften und besseren Bildungschancen ließe sich auch der Begünstigung Hochqualifizierter durch den technischen Wandel etwas entgegensetzen. Außerdem muss sich der technische Fortschritt nicht zwangsläufig so entwickeln: Wenn man Unternehmen dazu zwingen würde, für die ökologischen Folgen ihrer Produktion finanziell einzustehen, würde sie dies vielleicht dazu ermuntern, von technischen Neuerungen, die Hochqualifizierte begünstigen, auf technische Innovationen umzustellen, die Ressourcen schonen. Niedrige Zinsen mögen Unternehmen dazu ermuntern, in der Produktion auf Roboter umzustellen, die leicht zu automatisierende Arbeitsplätze Geringqualifizierter ersetzen; mit alternativen makroökonomischen und Investitionsstrategien ließe sich das Tempo drosseln, mit dem Facharbeiter aus unserer Volkswirtschaft verdrängt werden. Und selbst wenn die Ökonomen sich nicht darüber einig sind, wie die Rolle der Globalisierung bei der Zunahme der Ungleichheit genau zu veranschlagen ist, benachteiligen die Asymmetrien der Globalisierung Arbeitnehmer besonders stark, und dies können wir besser steuern, und zwar so, dass das Maß an Ungleichheit womöglich verringert wird.
Deutlich wurde ebenfalls, dass das Wachstum des Finanzsektors gemessen am US-Volkseinkommen (manchmal als »Finanzialisierung« der Wirtschaft bezeichnet) die Ungleichheit verschärft hat – sowohl, was die Vermögen an der Spitze als auch die Armut am Fuß der Einkommenspyramide betrifft. Jamie Galbraith hat gezeigt, dass dort, wo der Finanzsektor groß ist, auch Ungleichheit herrscht, und dieser Zusammenhang ist kein Zufall.81 Wir sahen, wie Deregulierung sowie versteckte und offene staatliche Subventionen die Wirtschaft verzerren und nicht nur einen größeren Finanzsektor hervorbrachten, sondern auch dessen Fähigkeit steigerten, Geld von unten nach oben umzuverteilen. Wir brauchen den Prozentsatz der Ungleichheit, der der erhöhten Finanzialisierung der Wirtschaft zuzuschreiben ist, nicht genau zu kennen, um einzusehen, dass sich politisch etwas ändern muss. Gegen jeden Faktor, der zur Ungleichheit beiträgt, muss etwas unternommen werden, wobei besonderer Nachdruck auf jene gelegt werden sollte, die gleichzeitig direkt unsere Wirtschaft schwächen, etwa durch das Fortbestehen von Monopolmacht und eine wettbewerbsverzerrende Wirtschaftspolitik. Ungleichheit ist mittlerweile fest in unserem Wirtschaftssystem verankert; es bedarf einer umfassenden Agenda – die ausführlich in Kapitel 10 beschrieben wird –, um sie wieder auszumerzen.