KAPITEL 6
1984 hat begonnen
Im letzten Kapitel ging es um das große Rätsel, wie es sein kann, dass es dem obersten einen Prozent in einer Demokratie, die angeblich auf dem Grundsatz der Gleichheit aller Wählerstimmen basiert, gelungen ist, die Politik für seine Interessen einzuspannen. Ich habe geschildert, wie Entmachtung, Enttäuschung und Entmündigung die Wahlbeteiligung senken und einem System Vorschub leisten, in dem der Wahlerfolg hohe Investitionen erfordert und in dem die Vermögenden politische Investitionen tätigen, die satte Renditen abwerfen – oftmals höhere Erträge als ihre sonstigen Investitionen.
Die Begüterten haben noch eine andere Möglichkeit, um von der Regierung das zu erhalten, was sie wollen: Sie können die 99 Prozent davon überzeugen, dass sie die gleichen Interessen haben. Diese Strategie erfordert ziemlich eindrucksvolle Täuschungsmanöver, weichen die Interessen des einen Prozents und die der 99 Prozent doch in vielerlei Hinsicht deutlich voneinander ab.
Die Tatsache, dass es dem obersten einen Prozent so erfolgreich gelungen ist, die öffentliche Meinung zu manipulieren, zeigt, wie formbar Überzeugungen sind. Wenn andere dies tun, nennen wir es »Gehirnwäsche« und »Propaganda«.1 Wir missbilligen solche Versuche als unausgewogen und manipulativ, ohne zu erkennen, dass in unseren Demokratien etwas ganz Ähnliches geschieht. Das Besondere unserer Zeit besteht darin, dass wir sehr viel mehr darüber wissen, wie man Wahrnehmungen und Überzeugungen gezielt beeinflussen kann – dank der Fortschritte der sozialwissenschaftlichen Forschung.
Die herrschende volkswirtschaftliche Lehrmeinung geht gleichwohl noch immer davon aus, dass Individuen festgefügte Präferenzen und vollkommen rationale Erwartungen und Wahrnehmungen haben. Menschen wissen, was sie wollen. Aber in diesem Punkt irrt sich die herkömmliche Volkswirtschaftslehre. Wenn dem so wäre, könnte Werbung wenig ausrichten.2 Unternehmen machen sich jüngste Fortschritte auf den Gebieten der Psychologie und der Wirtschaftswissenschaften zunutze, um die Vorlieben und Überzeugungen von Verbrauchern so zu manipulieren, dass diese dazu veranlasst werden, ihre Produkte zu kaufen. In diesem Kapitel werden wir erfahren, wie das eine Prozent Ansichten über Fairness und Effizienz, über die Stärken und Schwächen von Staat und Markt und sogar über die Ungleichheit im heutigen Amerika geprägt hat.
Es ist offensichtlich, dass viele, wenn nicht die meisten Amerikaner die bei uns herrschende Ungleichheit nur ungenügend erfassen: Sie halten deren Ausmaß für niedriger, als es tatsächlich ist, sie unterschätzen ihre negativen wirtschaftlichen Folgen,3 sie unterschätzen die Fähigkeit des Staates, etwas dagegen zu tun, und sie überschätzen die Kosten entsprechender Korrekturmaßnahmen. Ihnen ist nicht einmal klar, was der Staat tatsächlich tut; viele Menschen, die soziale Maßnahmen wie Medicare sehr schätzen, wissen gar nicht, dass es sich um eine staatliche Maßnahme handelt.4 Einer aktuellen Studie zufolge glaubten die Befragten im Schnitt, dass das obere Fünftel der Bevölkerung knapp unter 60 Prozent des gesamten Privatvermögens besitzt, während diese Gruppe in Wirklichkeit etwa 85 Prozent des Privatvermögens auf sich vereint. (Interessanterweise hielten die Befragten im Schnitt eine Vermögensverteilung für ideal, bei der die oberen 20 Prozent knapp über 30 Prozent des Vermögens besitzen. Die Amerikaner erkennen an, dass ein gewisses Maß an Ungleichheit unvermeidlich und vielleicht sogar wünschenswert ist, wenn Leistungsanreize geschaffen werden sollen; aber das in der amerikanischen Gesellschaft erreichte Maß geht weit über dieses Niveau hinaus.)5
Amerikaner schätzen jedoch nicht nur das Ausmaß der Ungleichverteilung falsch ein, sie unterschätzen auch das Ausmaß der Veränderungen, die in den letzten Jahren stattgefunden haben. Nur 42 Prozent der Amerikaner sind der Ansicht, die Ungleichheit habe sich in den vergangenen zehn Jahren verschärft, während sie in Wirklichkeit drastisch angestiegen ist.6 Auch was die Einschätzung der sozialen Mobilität anbelangt, geht die Wahrnehmung offensichtlich an der Realität vorbei. In mehreren Studien wurde belegt, dass die soziale Mobilität zu optimistisch eingeschätzt wird.7 Doch die Amerikaner sind nicht die Einzigen, denen solche Fehler unterlaufen. Länderübergreifend scheint es eine umgekehrte Korrelation zwischen Entwicklungstrends in puncto Ungleichheit und den entsprechenden Wahrnehmungen zu geben. Eine vorgeschlagene Erklärung lautet, dass die Ungleichheit, wenn sie so groß ist wie in den Vereinigten Staaten, weniger auffällt – vielleicht weil Menschen mit unterschiedlichem Einkommen und Vermögen unter sich bleiben.8 Doch wie immer sie auch entstehen mögen: Diese irrigen Überzeugungen haben weitreichende Konsequenzen für die Politik und insbesondere die Wirtschaftspolitik.
Wahrnehmungen haben von jeher die Wirklichkeit geprägt, und die Untersuchung der Frage, wie sich Überzeugungen entwickeln, bildet einen Schwerpunkt der Geistesgeschichte. So sehr die Mächtigen Überzeugungen prägen wollen und dabei auch erfolgreich sind – alles haben sie nicht im Griff. Ideen führen ein Eigenleben, und globale Veränderungen in Wirtschaft und Technik beeinflussen Ideen (so wie Ideen einen enormen Einfluss auf unsere Wirtschaft haben). Das besondere Kennzeichen unserer Zeit ist indes die Tatsache, dass das oberste eine Prozent besser als früher darüber informiert ist, wie sich Präferenzen und Überzeugungen in einer Weise prägen lassen, die es ihm erlaubt, seinen Interessen Geltung zu verschaffen, und dazu außerdem mehr Instrumente und Ressourcen als früher einsetzen kann.
In diesem Kapitel gehe ich auf einige der wirtschaftswissenschaftlichen und psychologischen Forschungsarbeiten ein, die unser Verständnis der Zusammenhänge zwischen Wahrnehmungen und Wirklichkeit vertieft haben. Und ich zeige, wie sich das eine Prozent diese Fortschritte für seine Ziele zunutze macht – um das Gleichheitsgefälle in der amerikanischen Gesellschaft geringfügiger und akzeptabler aussehen zu lassen, als es ist beziehungsweise sein sollte.