Zum Schluss

In den Jahren vor Ausbruch der Krise betrachteten viele Europäer Amerika als ein Vorbild und fragten, wie sie ihre Wirtschaft reformieren könnten, um sie genauso leistungsfähig zu machen wie die US-amerikanische. Auch Europa hat seine Probleme, die vor allem daher rühren, dass sich Länder zu einer Währungsunion zusammenschlossen, ohne die politischen und institutionellen Voraussetzungen zu schaffen, die notwendig gewesen wären, um die Funktionsfähigkeit dieser Währung sicherzustellen. Für dieses Versagen werden sie einen hohen Preis zahlen. Aber abgesehen davon, wissen sie (und die Menschen überall auf der Welt) jetzt, dass das Pro-Kopf-Einkommen noch nicht darüber Aufschluss gibt, wie es den meisten Bürgern einer Gesellschaft geht und wie gut daher die Wirtschaft in einem grundlegenden Sinne funktioniert. Die Daten über das Pro-Kopf-Einkommen hatten sie zu der irrigen Annahme veranlasst, die wirtschaftliche Situation der Amerikaner entwickle sich gut. Heute glauben sie das nicht mehr. Ökonomen, die hinter die Fassade blickten, wussten schon 2008, dass das mit Schulden finanzierte Wachstum nicht nachhaltig war; und selbst als alles gut zu laufen schien, ging das Einkommen der meisten Amerikaner zurück, obgleich die unverhältnismäßig hohen Vermögenszuwächse der Reichen das Gesamtbild verzerrten.

Der Erfolg einer Volkswirtschaft lässt sich nur dann angemessen beurteilen, wenn man verfolgt, wie sich der Lebensstandard – im weitesten Sinne – der meisten Bürger über einen längeren Zeitraum entwickelt. So gesehen lässt die Leistung der US-Wirtschaft seit mindestens dreißig Jahren zu wünschen übrig. Zwar ist das Pro-Kopf-Einkommen zwischen 1980 und 2010 um 75 Prozent gestiegen,100 das Einkommen der meisten männlichen Vollzeitbeschäftigten im gleichen Zeitraum aber gesunken. Diesen Arbeitnehmern verschaffte die US-Wirtschaft nicht die Steigerung des Lebensstandards, die sie sich erwarteten. Es ist nicht so, dass die amerikanische Wirtschaftslokomotive ins Stocken geraten wäre. Vielmehr wurde diese Lokomotive in einer Weise gesteuert, dass die Wachstumsgewinne in zunehmendem Maß einem kleinen Teil an der Spitze zugutekamen, der sich sogar etwas von dem aneignete, was früher den sozial schwachen Haushalten zufiel.

In diesem Kapitel ging es um einige unangenehme Tatsachen über die US-Wirtschaft:

  1. Die jüngsten Einkommenszuwächse flossen überwiegend dem oberen einen Prozent der Einkommensverteilung zu.
  2. Die Folge davon ist wachsende Ungleichheit.
  3. Den Haushalten mit niedrigen und mittleren Einkommen geht es heute finanziell schlechter als zu Beginn des Jahrhunderts.
  4. Die Disparitäten in der Vermögensverteilung übertreffen noch die der Einkommensverteilung.
  5. Ungleichheit tritt nicht nur beim Einkommen, sondern auch bei zahlreichen anderen Variablen zutage, in denen sich der Lebensstandard widerspiegelt, etwa bei der Frage der Arbeitsplatzsicherheit und im Bereich Gesundheit.
  6. Für sozial schwache Haushalte sind die Lebensumstände besonders schwierig – und sie haben sich in der Rezession noch weiter verschlechtert.
  7. Es findet eine Erosion der Mittelschicht statt.
  8. Die Einkommensmobilität ist gering – die Annahme, die USA seien ein Land der unbegrenzten Möglichkeiten, ist ein Mythos.
  9. Die Ungleichheit ist in den USA ausgeprägter als in allen anderen fortgeschrittenen Industrienationen. Der Staat tut hier weniger, um diese Ungerechtigkeiten zu korrigieren, und die Ungleichheit verschärft sich deutlicher als in vielen anderen Ländern.

Der politischen Rechten in den USA sind die in diesem Kapitel beschriebenen Fakten unangenehm. Die Analyse steht im Widerspruch zu einigen der lieb gewonnenen Mythen, die die Rechte gern propagiert: dass Amerika ein Land der unbegrenzten Möglichkeiten sei, dass die meisten Menschen von der Marktwirtschaft profitierten, insbesondere seitdem Reagan die Wirtschaft deregulierte und den staatlichen Einfluss zurückdrängte. Anhänger der Rechten würden diese Tatsachen gern leugnen, was angesichts der Datenfülle jedoch schwierig ist. Sie können insbesondere nicht bestreiten, dass es den unteren und mittleren Einkommensgruppen finanziell immer schlechter geht, während die Reichen einen immer höheren Prozentsatz des Volkseinkommens an sich reißen. Und dieser Anteil ist so viel größer, dass das, was für den Rest übrig bleibt, immer kleiner wird; er ist so viel größer, dass die Aufstiegschancen derer, die im unteren oder mittleren Einkommensfeld liegen, weit geringer sind als die Chancen derjenigen, die oben sind, dort zu bleiben. Die Rechte kann nicht einmal bestreiten, dass der Staat zu einer wirkungsvollen Armutsbekämpfung in der Lage ist, denn im Falle der Altersarmut ist er effektiv eingeschritten. Und dies bedeutet, dass Kürzungen bei staatlichen Programmen wie der Rentenversicherung wahrscheinlich zu einem Anstieg der Armut führen, sofern diese Kürzungen in ihren Auswirkungen nicht gründlich durchdacht sind.

Die Rechte kontert darauf mit vier Gegenargumenten. Das erste lautet, dass es in jedem Jahr Menschen gibt, die unvermittelt schwere Einkommenseinbußen erleiden, während andere einen Geldsegen erleben. Worauf es wirklich ankomme, sei die Ungleichheit auf Lebenszeit. Diejenigen mit den niedrigsten Einkommen würden in späteren Jahren tendenziell höhere Einkommen erzielen, so dass die Ungleichheit, auf die gesamte Lebensspanne betrachtet, geringer sei, als es die Daten nahelegen. Wirtschaftswissenschaftler haben Unterschiede im Lebenseinkommen gründlich analysiert – und leider entspricht der Wunsch der Rechten nicht der heutigen Wirklichkeit: Die Ungleichheit auf Lebenszeit ist sehr ausgeprägt, fast genauso groß wie die in puncto Einkommen zu jedem beliebigen Zeitpunkt, und sie hat in den letzten Jahren massiv zugelegt.101

Die Rechte behauptet manchmal auch, die Armut in Amerika sei keine echte Armut. Schließlich kämen die meisten Armen in den USA in den Genuss von Grundgütern, die den Bedürftigen in anderen Ländern nicht zur Verfügung stünden. Sie sollten dankbar dafür sein, dass sie in den USA lebten. Sie hätten Fernseher, Innentoiletten, Heizung (die meisten) und Zugang zu kostenlosem Schulunterricht. Ein Expertengremium der National Academy of Sciences kam jedoch zu dem Ergebnis, dass man die relative Entbehrung nicht unberücksichtigt lassen dürfe.102 In Anbetracht grundlegender sanitärer Versorgungsstandards in den US-amerikanischen Städten seien Innentoiletten eine Selbstverständlichkeit. Billige chinesische Fernseher können sich selbst die Bedürftigen leisten  – und tatsächlich gibt es selbst in armen indischen und chinesischen Dörfern im Allgemeinen Fernsehen. Dies ist in der heutigen Welt kein Ausweis des Wohlstands mehr. Die Tatsache, dass Menschen einen kleinen Fernseher besitzen, bedeutet keineswegs, dass sie nicht in tiefer Armut lebten – und bedeutet auch nicht, dass sie am amerikanischen Traum teilhätten.103

Der dritte Einwand bezieht sich auf die statistischen Daten, an denen herumgedeutelt wird. Einige behaupten, die Inflationsrate werde zu hoch geschätzt, so dass die Einkommenszuwächse zu niedrig veranschlagt würden. Ich vermute indes, dass die Schufterei der typischen amerikanischen Familie in den Zahlen allenfalls unterschätzt wird. Wenn Familienmitglieder Überstunden machen, um ihren Lebensstandard  – »für die Familie« – zu halten, leidet oft das Familienleben. Auch die oben angesprochene zunehmende Unsicherheit, mit der die Armen und die Mittelschicht in Amerika konfrontiert sind, spiegelt sich in den Einkommensstatistiken nicht wider. Das wahre Ausmaß der Ungleichheit ist vermutlich viel größer als aus der Bemessung der Einkommensunterschiede hervorgeht. So korrigierte etwa das US-Bundesamt für Statistik die Armutsquote für das Jahr 2010 von 15,2 auf 16 Prozent, als es die Armutsstatistiken gründlicher analysierte.104

Das letzte Gegenargument der Konservativen bezieht sich auf eine ökonomische und moralische Rechtfertigung der Ungleichheit, verbunden mit der Behauptung, bei dem Versuch, etwas dagegen zu unternehmen, werde man »die goldene Gans schlachten« und die US-amerikanische Volkswirtschaft so schwächen, dass die Armen noch schlechter dastünden als heute.105 Ungleichheit, so sagte Mitt Romney, sei so ein Thema, über das man nur im stillen Kämmerlein und im privaten Rahmen diskutieren solle.106 Die Armen seien in diesem Land der unbegrenzten Möglichkeiten an ihrem Elend selber schuld.

In den folgenden Kapiteln werde ich auf diese Argumente eingehen. Ich werden zeigen, dass wir die allermeisten Armen nicht für ihre Not verantwortlich machen sollten und dass an der Behauptung der Reichen, sie hätten ihr Geld »aus eigener Kraft« verdient, nicht viel dran ist. Wir werden sehen, dass das obere eine Prozent sein Einkommen im Großen und Ganzen nicht bedeutenden gesellschaftlichen Beiträgen verdankt, weil es beispielsweise als große Denker unser Verständnis der Welt verändert oder als große Innovatoren unsere Wirtschaft umgestaltet hätte. Ich werde auch darlegen, weshalb die Schaffung einer Gesellschaft mit einem geringeren Maß an Ungleichheit eine dynamischere Wirtschaft hervorbringen kann.

Das Trauma der Großen Rezession – in deren Gefolge viele Menschen ihren Arbeitsplatz und ihr Heim verloren haben – löste eine Kettenreaktion aus, die sich nicht nur auf das Leben der unmittelbar Betroffenen, sondern auch auf die Gesellschaft als solche auswirkt. Wir erkennen jetzt, dass die Wirtschaft schon vor der Rezession nicht das zum Wohle der meisten Amerikaner leistete, was sie hätte leisten sollen. Wir können vor der wachsenden Ungleichheit in den Vereinigten Staaten und deren gravierenden ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Folgen nicht mehr die Augen verschließen. Aber wenn wir verstehen wollen, was wir dagegen tun können, müssen wir zunächst die ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Kräfte verstehen, die diese Ungleichheit hervorbrachten.

Der Preis der Ungleichheit: Wie die Spaltung der Gesellschaft unsere Zukunft bedroht
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