Die Hypothekenkrise und der Rechtsstaat
Als die durch zweitklassige Hypotheken verursachte Krise schließlich offen ausbrach und die Große Rezession von 2008 auslöste, wurde die Reaktion Amerikas auf die darauf folgende Flut von Zwangsverkäufen zum Testfall für das Rechtsstaatsverständnis in den USA. Im Zentrum der Eigentumsrechte und des Verbraucherschutzes stehen strenge Verfahrensgarantien (wie etwa Dokumentationspflichten), um diejenigen zu schützen, die Verträge abschließen. Solche Garantien sollten auch Eigenheimbesitzer sowie Kreditgeber schützen. Wenn die Bank behauptete, dass ein Kreditnehmer ihr Geld schulde, dann war sie gesetzlich dazu verpflichtet, Beweise dafür vorzulegen, bevor sie die Zwangsvollstreckung betreiben konnte. Wird eine Hypothek (ein Schuldanerkenntnis eines Hausbesitzers gegenüber einem Kreditgeber) von einem Kreditgeber an einen anderen übertragen, dann ist gesetzlich vorgeschrieben, dass aus den begleitenden Geschäftsunterlagen die Höhe der Schulden und der Rückzahlungen des Kreditnehmers eindeutig hervorgehen müssen.
Doch die Banken hatten so schnell so viele Hypotheken ausgestellt, dass sie den elementaren Verfahrensgarantien wenig Beachtung geschenkt hatten. Und als es den Banken und anderen Kreditgebern mit der Vergabe immer neuer Darlehen gar nicht schnell genug gehen konnte, griffen, wie nicht weiter verwunderlich, betrügerische Praktiken um sich. Die Zahl der Ermittlungsverfahren des FBI stieg stark an.29 Die Kombination aus häufig betrügerischen Praktiken und Missachtung von Verfahrensgarantien war tödlich.
Die Banken wollten ein schnelleres und kostengünstigeres System für den Forderungstransfer, also entwickelten sie ihr eigenes System, MERS (Mortgage Electronic Registry System) genannt. Aber wie so vieles, was die Banken in den Tagen des Goldrausches in Gang setzten, war auch dieses System mangelhaft, ohne Sicherungsvorkehrungen, und es lief auf den Versuch hinaus, Rechtsvorschriften, die Schuldner schützen sollten, zu umgehen. So schrieb ein Rechtsexperte: »MERS und diejenigen, die daran beteiligt waren, glaubten, sie könnten das Eigentumsrecht ohne demokratisches Mandat umschreiben.«30
Als die Immobilienpreisblase schließlich platzte, wurden die Gefahren, die sich aus der mangelnden Sorgfalt der Banken bei der Kreditvergabe und bei der Dokumentation der Geschäftsvorgänge ergaben, offenkundig. Die Banken waren gesetzlich dazu verpflichtet, die Höhe der ausstehenden Forderungen genau nachzuweisen. Nun zeigte sich, dass sie eben dies in vielen Fällen schlicht nicht konnten.
All dies erschwerte den anschließenden Säuberungsprozess. Die schiere Zahl der notleidenden Hypotheken, die in die Millionen ging, machte alles noch schlimmer. Das gigantische Ausmaß der Aufgabe brachte die Banken auf die Idee des »Robo-Signing«. Statt neue Mitarbeiter einzustellen, die die Unterlagen sichteten, um zu überprüfen, ob sich die Forderungen gegen einen Hypothekenschuldner tatsächlich auf den behaupteten Betrag beliefen, und anschließend eine eidesstattliche Versicherung über die erfolgte Prüfung abzugeben, ließen viele Banken eine einzelne Person Hunderte dieser eidesstattlichen Erklärungen unterzeichnen, ohne auch nur einen Blick in ihre Unterlagen zu werfen. Die für die gerichtlichen Verfahrensanforderungen notwendige Überprüfung der Unterlagen hätte sich negativ auf den Gewinn der Bank ausgewirkt. Und so begannen die Banken, vor Gericht systematisch die Unwahrheit zu sagen. Leitende Angestellte der Banken wussten dies; das System war so konzipiert, dass sie, entgegen ihren Behauptungen, die Unterlagen gar nicht prüfen konnten.
Dies bereicherte die alte Doktrin von der »Systemrelevanz« (too big to fail) um eine neue Facette. Die Großbanken wussten, dass sie so groß waren, dass sie gerettet werden müssten, falls sie sich bei ihren Hasardspielen mit riskanten Krediten verzockten. Sie wussten auch, dass sie zu groß und zu mächtig waren, um zur Rechenschaft gezogen zu werden, falls man sie bei ihren Lügen ertappen sollte. Was sollte die Regierung tun? Die Millionen von Zwangsverkäufen, die bereits getätigt worden waren, rückgängig machen? Gegen die Banken Bußgelder in Milliardenhöhe verhängen – wie es die Behörden hätten tun sollen? Aber dies würde die Banken erneut in eine prekäre Lage bringen und eine weitere staatliche Rettungsaktion erforderlich machen, zu welcher der Regierung sowohl die Mittel als auch der politische Wille fehlten. Vor Gericht zu lügen ist normalerweise ein ernstes Delikt. Gewohnheitsmäßig Hunderte von Malen vor Gericht zu lügen hätte ein umso schwereres Vergehen sein sollen. Dahinter steckte ein erhebliches Maß an krimineller Energie. Wenn Unternehmen wie normale Bürger behandelt worden wären,31 dann wären in einem US-Bundesstaat, der die »Three Strikes«-Regelung anwendet (nach drei Straftaten, etwa Ladendiebstählen, wird zwingend eine lebenslange Freiheitsstrafe verhängt), diese Wiederholungstäter zu mehrfach lebenslänglich ohne Bewährung verurteilt worden. Tatsächlich ist kein einziger Bankmanager wegen dieser Vergehen zu einer Haftstrafe verurteilt worden. Tatsächlich haben bis zum Zeitpunkt der Drucklegung dieses Buches weder Justizminister Eric Holder noch einer der US-Bezirksstaatsanwälte Klagen wegen arglistiger Täuschung im Zusammenhang mit Zwangsvollstreckungen aus Hypotheken erhoben. Im Anschluss an das Bausparkassendebakel der achtziger Jahre dagegen hatte das US-Justizministerium bis 7000 strafrechtliche Ermittlungsverfahren 1990 eingeleitet, die bis 1992 zu 1100 Anklageerhebungen führten, von denen 839 mit einer Verurteilung endeten (etwa 650 davon zu einer Freiheitsstrafe).32 Heute handeln die Banken einfach ihre Bußgelder mit den Behörden aus – und in einigen Fällen sind die Bußgelder geringer als die Gewinne, die sie mit ihren illegalen Aktivitäten erwirtschafteten.33
Die Banken verstießen nicht bloß gegen einige technische Verfahrensformalitäten. Hier geht es nicht um Verbrechen ohne Opfer. Für viele Banker war der Meineid, den sie leisteten, als sie die eidesstattlichen Versicherungen unterzeichneten, um die Zwangsvollstreckungen durchzupeitschen, nichts als eine lässliche Bagatelle. Aber es ist ein grundlegendes Prinzip einer jeden rechtsstaatlichen Ordnung im Allgemeinen und der Eigentumsrechte im Besonderen, dass man niemanden aus seinem Eigenheim vertreiben sollte, wenn man nicht eindeutig nachweisen kann, dass er einem Geld schuldet. Die Banken haben ihre Zwangsvollstreckungen jedoch so eifrig betrieben, dass selbst einige Eigenheimbesitzer, die überhaupt keine Schulden hatten, auf die Straße gesetzt wurden. Für einige Darlehensgeber sind das nur »Kollateralschäden«, während die Banken Millionen von Amerikanern sagen, sie müssten ihre Häuser verlassen – etwa acht Millionen seit Beginn der Krise und geschätzten drei bis vier Millionen, denen dies noch bevorstehen dürfte.34 Die Zwangsvollstreckungen wären sogar noch schneller abgewickelt worden, wenn die Regierung nicht eingegriffen hätte, um das »Robo-Signing« zu unterbinden.
Die Rechtfertigung der Banken – dass die meisten Menschen, die aus ihren Häusern geworfen worden waren, Schulden hatten – war ein Beleg dafür, dass Amerika sich von rechtsstaatlichen Grundsätzen entfernt hatte. Jeder gilt so lange als unschuldig, bis seine Schuld erwiesen ist. Doch nach der Logik der Banken musste der Hausbesitzer seine Unschuld beweisen, also die Tatsache, dass er keine Verbindlichkeiten (gegenüber den Banken) hatte. In unserer Rechtsordnung ist es unzulässig, eine unschuldige Person zu verurteilen, und es sollte genauso unzulässig sein, jemanden zur Räumung seiner Immobilie zu zwingen, wenn er keine Hypothekenschulden hat. Angeblich wird in unserer Rechtsordnung der Unschuldige geschützt. Das US-amerikanische Rechtssystem erlegt demjenigen, der einen Anspruch erhebt, die Beweislast auf und hat Verfahrensgarantien verankert, die diesem Erfordernis Rechnung tragen sollen. Aber die Banken haben diese Verfahrenssicherungen ausgehebelt.
Tatsächlich hat das bestehende System es ihnen leicht gemacht, mit diesem Verhalten durchzukommen – zumindest bis es in der Öffentlichkeit einen lauten Aufschrei gab. In den meisten Bundesstaaten bedurfte es keiner gerichtlichen Anhörung, um die Zwangsräumung anzuordnen. Aber ohne Anhörung kann man eine ungerechtfertigte Zwangsvollstreckung nicht ohne Weiteres (oder überhaupt) verhindern. Einige Beobachter erinnerte diese Situation an die Tage des »Wilden Ostens« nach dem Zusammenbruch des Kommunismus, als die bestehende Rechtsordnung – insbesondere das Konkursgesetz – in Russland dazu benutzt wurde, um eine Gruppe von Eigentümern durch eine andere zu ersetzen. Richter wurden gekauft, Dokumente gefälscht, und der Prozess ging reibungslos über die Bühne. In den Vereinigten Staaten funktioniert die Korruption auf einer höheren Ebene. Nicht einzelne Richter werden gekauft, sondern die Gesetze selbst, durch Wahlkampfspenden und Lobbyarbeit, jene Mechanismen, die sich mittlerweile als »Korruption amerikanischen Stils« einen Namen gemacht haben. In einigen Bundesstaaten werden die Richter gewählt, und in diesen Bundesstaaten besteht eine noch engere Verflechtung zwischen Geld und »Gerechtigkeit«. Die Finanzoligarchie benutzt Wahlkampfspenden, um Richter, die ihren Anliegen wohlwollend gegenüberstehen, an die entsprechenden Schaltstellen zu hieven.35
In der Reaktion der Regierung auf diese massiven Verletzungen rechtsstaatlicher Verfahrensregeln durch die Banken spiegelt sich unser neuer Stil der Korruption wider: Tatsächlich hat die Regierung Obama Versuche von Bundesstaaten, Banken zur Rechenschaft zu ziehen, bekämpft. So drohte eine der von der Bundesregierung kontrollierten Banken36 damit, ihre Geschäftstätigkeit in Massachusetts einzustellen, als die Generalbundesanwältin dieses Bundesstaates die Banken verklagte.
Die Generalbundesanwältin, Martha Coakley, hatte sich über ein Jahr lang um einen außergerichtlichen Vergleich mit den Banken bemüht, aber diese hatten sich als unnachgiebig und unkooperativ erwiesen. Für sie waren die Verbrechen, die sie begangen hatten, etwas, das man durch geschicktes Verhandeln aus der Welt schaffen konnte. Die Banken (so Coakleys Vorwurf) hätten ihre Hypothekenschuldner in betrügerischer Absicht arglistig getäuscht; sie hätten nicht nur gegen Kreditnehmer, die in Zahlungsschwierigkeiten waren, in unzulässiger Weise die Zwangsvollstreckung betrieben (sie führte 14 Fälle an) und sich dabei auf gefälschte rechtserhebliche Dokumente gestützt, sie hätten in vielen Fällen Eigenheimbesitzern auch versprochen, Hypothekendarlehen zu modifizieren, und sich dann nicht daran gehalten. Es handelte sich nicht um »versehentliche« Probleme, vielmehr hatte das Ganze Methode, wobei das elektronische Registrierungssystem MERS den Rechtsrahmen, den der Bundesstaat zur Dokumentation von Eigentumsverhältnissen eingeführt hat, unterlief. Die Generalbundesanwältin von Massachusetts wies das Argument, wonach die Banken »zu groß [seien], um zur Rechenschaft gezogen zu werden«, ausdrücklich zurück: »Die Banken mögen glauben, sie wären zu groß, um sie pleitegehen zu lassen, oder zu groß, um sich um die Folgen ihrer Handlungen scheren zu müssen, doch wir glauben nicht, dass sie zu groß sind, um sich an Recht und Gesetz zu halten.«37
Ende Februar 2012 deckte das Wall Street Journal einen weiteren anrüchigen Aspekt der US-Hypothekenkrise auf. So wie es bei der Gewährung von Hypotheken zu Diskriminierungen kam, worauf ich in Kapitel 3 hinwies, so kam es auch bei den Zwangsvollstreckungen zu Diskriminierungen – diesmal nicht auf der Basis der Rassenzugehörigkeit, sondern auf der Basis des Einkommens. Im Schnitt dauerte es zwei Jahre und zwei Monate, bis die Banken die Zwangsvollstreckung aus Hypotheken von über einer Million Dollar anstrengten, sechs Monate länger als bei Hypotheken unter 100 000 Dollar. Dafür gab es viele Gründe: Zum einen gaben sich die Banken mehr Mühe, diesen großen Schuldnern entgegenzukommen, zum anderen schalteten diese Kreditnehmer mehr Anwälte ein, um sich zur Wehr zu setzen.38
Die Diskussion in diesem Kapitel und in Kapitel 6 hat gezeigt, wie der Finanzsektor dafür sorgte, dass sich die »Rechtsstaatlichkeit« fast immer zu seinen Gunsten und zum Nachteil der amerikanischen Durchschnittsbürger auswirkte. Er verfügt über die erforderlichen Mittel, die Organisation und die Anreize; und er erreichte, was er sich vorgenommen hatte, durch einen Angriff auf mehreren Ebenen: So gelang es ihm, eine gläubigerfreundliche Reform des Insolvenzrechts durchzusetzen; dafür zu sorgen, dass gewinnorientierte Privathochschulen weitgehend unabhängig von der Einhaltung von Standards Zugang zu Studentendarlehen erhielten, die Aufhebung von Gesetzen gegen Zinswucher zu erreichen, Gesetze zur Einschränkung ausbeuterischer Kreditvergabepraktiken zu verhindern und sogar die schwachen Verfahrensgarantien zu umgehen, die sicherstellen sollten, dass die Zwangsvollstreckung nur gegen Eigenheimbesitzer betrieben wird, die tatsächlich verschuldet sind. Aber bei der Kreditvergabe und bei den Zwangsvollstreckungen hatte es der Finanzsektor vor allem auf die Schwachen, die Ungebildeten und die Armen abgesehen. Moralische Skrupel wurden bei dem hehren Unterfangen der Umverteilung von unten nach oben geflissentlich beiseitegeschoben.
In Kapitel 6 sahen wir, dass die Hypothekenkrise selbst hätte weitgehend vermieden werden können, wenn wir den Banken keinen so großen Einfluss eingeräumt und eine geordnete Umschuldung zugelassen hätten, wie wir es ja auch bei Großunternehmen tun. Bei jedem Schritt auf diesem Weg, von der anfänglichen Darlehensgewährung bis zur abschließenden Zwangsvollstreckung, gab es Alternativen und Regulierungen, die die leichtfertige, ausbeuterische Kreditvergabe eingeschränkt und die Stabilität der Wirtschaft erhöht – vielleicht sogar die Große Rezession selbst verhindert – hätten, doch in einem politischen System, in dem das Geld regiert, hatten diese Alternativen keine Chance.
Das Hypothekendebakel und die Fortführung ausbeuterischer Kreditvergabe und »Insolvenzreformen« werfen tief greifende Fragen über die »Rechtsstaatlichkeit« auf, die allgemein als Kennzeichen einer fortgeschrittenen, zivilisierten Gesellschaft betrachtet wird. Der Rechtsstaat soll die Schwachen vor den Starken schützen und ein faires Verfahren für alle gewährleisten. Im Gefolge der Hypothekenkrise geschah weder das eine noch das andere. Statt eines Rechtsstaates, der die Schwachen beschützt, hatten wir Gesetze, Regeln und eine Exekutive, die den ohnehin schon mächtigen Banken noch mehr Macht verschafften. Durch die Umverteilung von unten nach oben verschärften sie die mit der Ungleichheit verbundenen Probleme an beiden Enden der Einkommens-und Vermögensverteilung.