Das Versagen des politischen Systems
Das politische System scheint genauso zu versagen wie das Wirtschaftssystem. Angesichts der hohen Jugendarbeitslosigkeit weltweit – in Spanien fast 50 Prozent und 18 Prozent in den Vereinigten Staaten12 – erstaunt es vielleicht weniger, dass Proteste ausbrachen, als vielmehr, dass es so lange dauerte, bis es dazu kam. Die Arbeitslosen, darunter junge Menschen, die fleißig studiert und alles getan hatten, was von ihnen erwartet worden war (»die sich an die Spielregeln hielten«, wie einige Politiker zu sagen pflegen), standen vor einer schwierigen Entscheidung: arbeitslos bleiben oder eine Stelle annehmen, für die sie weit überqualifiziert waren. In vielen Fällen hatten sie nicht einmal eine Wahl: Es gab einfach keine Arbeitsplätze, und zwar schon seit Jahren. Dass die Massenproteste so lange auf sich warten ließen, lässt sich möglicherweise damit erklären, dass im Anschluss an die Krise große Hoffnungen in die Demokratie gesetzt wurden: Die Menschen glaubten daran, dass sich das politische System bewähren würde, indem es jene zur Rechenschaft zog, die die Krise verursacht hatten, und das Wirtschaftssystem rasch wieder in Ordnung brachte. Aber Jahre nach dem Platzen der Blase zeigte sich klar und deutlich, dass unser politisches System dabei versagte, so wie es ihm auch nicht gelungen war, die Krise zu verhüten, die wachsende Ungleichheit einzudämmen, die Unterprivilegierten zu schützen, das unlautere Geschäftsgebaren der Großunternehmen zu verhindern. Erst jetzt gingen die Menschen auf die Straße.
Amerikaner, Europäer und Bürger anderer demokratischer Staaten sind sehr stolz auf ihre demokratischen Institutionen. Aber die Demonstranten zweifeln daran, dass in ihren Ländern tatsächlich demokratische Verhältnisse herrschen. Wahre Demokratie umfasst mehr als das Recht, alle paar Jahre zur Wahl zu gehen. Die Alternativen müssen echte Alternativen sein. Die Politiker müssen auf ihre Bürger hören. Aber in zunehmendem Maße und insbesondere in den Vereinigten Staaten scheint das politische System immer mehr auf das Prinzip »ein Dollar, eine Stimme« als auf den Gurndsatz »eine Person, eine Stimme« hinauszulaufen. Statt das Marktversagen zu korrigieren, verstärkte das politische System dieses noch.
Politiker beklagen in ihren Reden den Niedergang unserer Werte und unserer Gesellschaft und berufen dann Vorstandschefs und andere Topmanager in hohe Regierungsämter, die zu der Zeit, als das System so kläglich versagte, im Finanzsektor das Heft in der Hand hielten. Wir hätten nicht erwarten dürfen, dass die Architekten des Systems, das nicht funktioniert hatte, das System so umbauen würden, dass es den Interessen der Allgemeinheit dient. Sie taten es auch nicht. Das Versagen von Politik und Wirtschaft geht Hand in Hand, und das eine verschlimmert das andere. Ein politisches System, das den Stimmen der Reichen mehr Gewicht verschafft, bietet hinreichend Gelegenheiten, Gesetze und sonstige Rechtsvorschriften – und ihre Umsetzung – so zu gestalten, dass sie den Durchschnittsbürger nicht nur nicht vor der Macht der Begüterten schützen, sondern auch die Reichen auf Kosten der übrigen Gesellschaft weiter bereichern.
Damit komme ich zu einer der zentralen Thesen dieses Buches: Auch wenn grundlegende ökonomische Kräfte im Spiel sein mögen – die Politik hat den Markt so gestaltet, dass die Reichen auf Kosten der Übrigen begünstigt werden. Jedes Wirtschaftssystem braucht Regeln und Vorschriften; es muss innerhalb eines rechtlichen Ordnungsrahmens arbeiten. Derartige Rahmen gibt es viele, und jeder hat Folgen für die Einkommens- und Vermögensverteilung sowie für Wachstum, Effizienz und Stabilität. Die Wirtschaftselite hat auf ein Regelwerk gedrängt, von dem sie auf Kosten der Übrigen profitiert, aber dieses Wirtschaftssystem ist weder effizient noch gerecht. Wir werden sehen, wie sich unsere Ungleichheit in jeder wichtigen Entscheidung widerspiegelt, die wir als Nation treffen – von unserem Staatshaushalt bis zu unserer Geldpolitik, ja sogar bis zu unserem Justizsystem –, und ich zeige auch, wie diese Entscheidungen selbst dazu beitragen, die Ungleichheit aufrechtzuerhalten und zu verschärfen.13 In einem politischen System, das so empfänglich für die Wünsche der Finanzwelt ist, führt wachsende ökonomische Ungleichheit zu einem zunehmenden politischen Machtgefälle, einer unheilvollen Verschränkung zwischen Politik und Wirtschaft. Und beide zusammen prägen gesellschaftliche Kräfte wie Sitten und Institutionen – und werden ihrerseits von diesen geprägt –, die ihren Teil dazu beisteuern, diese Ungleichheit noch voranzutreiben.