Ungleichheit und Ungerechtigkeit
Selbst wenn Märkte stabil sind, führen sie, überlässt man sie sich selbst, oftmals zu einem hohen Maß an Ungleichheit, also zu Ergebnissen, die weithin als ungerecht angesehen werden. Laut jüngsten Erkenntnissen der wirtschaftswissenschaftlichen und psychologischen Forschung (die in Kapitel 6 erörtert werden) messen Menschen der Gerechtigkeit eine hohe Bedeutung bei. Der Eindruck, dass die wirtschaftlichen und politischen Systeme ungerecht seien, hat die weltweiten Proteste mehr als alles andere befeuert. In Tunesien und Ägypten sowie anderswo im Nahen Osten sind Arbeitsplätze nicht nur grundsätzlich Mangelware, hinzukommt, dass die wenigen offenen Stellen, die es gibt, an diejenigen vergeben werden, die über Beziehungen verfügen. In den Vereinigten Staaten und Europa scheint es gerechter zuzugehen, aber das ist nur bei oberflächlicher Betrachtung der Fall. Wer die besten Hochschulen mit den besten Noten absolviert, hat auch bessere Chancen auf eine gute Stelle. Aber das System ist unfair, weil wohlhabende Eltern ihre Kinder auf die besten Kindergärten, Grundschulen und Highschools schicken und diese Schüler viel bessere Chancen haben, von einer Elite-Universität angenommen zu werden. Die Amerikaner erkannten, dass die Occupy-Wall-Street-Demonstranten von ihren Werten sprachen, und aus diesem Grund sagten zwei Drittel der Amerikaner, sie befürworteten den Protest, auch wenn die Zahl der Demonstranten vergleichsweise klein war. Falls es den geringsten Zweifel an dieser Unterstützung gegeben haben sollte, wurde dieser dadurch ausgeräumt, dass die Demonstranten innerhalb kürzester Zeit 300 000 Unterschriften sammeln konnten, um die Proteste fortzuführen, als der New Yorker Bürgermeister Michael Bloomberg drohte, das Camp im Zuccotti Park unweit der Wall Street räumen zu lassen.5 Und Rückendeckung kam nicht nur von den Mittellosen und Unzufriedenen. Auch wenn die Polizei gegenüber den Protestierern in Oakland mit unverhältnismäßiger Gewalt vorgegangen sein mochte – und die 30 000, die sich am Tag nach der gewaltsamen Räumung des Lagers den Protesten anschlossen, schienen ebenfalls dieser Meinung zu sein –, brachten einige Polizisten bemerkenswerterweise ihre Unterstützung für die Demonstranten zum Ausdruck. Die Finanzkrise machte vielen Menschen bewusst, dass unser Wirtschaftssystem nicht nur ineffizient und instabil ist, sondern auch von Grund auf ungerecht. Tatsächlich war laut einer jüngsten Meinungsumfrage im Anschluss an die Krise (und die Reaktion der Regierungen Bush und Obama) fast die Hälfte der Befragten dieser Ansicht.6 Zu Recht empfand man es als äußerst ungerecht, dass viele im Finanzsektor (die ich, als Kürzel, oftmals einfach als »die Banker« bezeichnen werde) überhöhte Boni kassierten, während diejenigen, die unter den Folgen der durch diese Banker verursachten Krise litten und leiden, ihren Arbeitsplatz los sind; oder dass der Staat die Banken rettete, aber nur widerwillig die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes für diejenigen verlängerte, die ohne eigenes Verschulden trotz mehrmonatiger Suche keine Stelle finden konnten;7 oder dass der Staat den Millionen von Eigenheimbesitzern, die ihre Häuser verloren, nur symbolische Hilfe anbot. Inmitten der Krise wurde deutlich, dass die relative Höhe des Gehalts sich nicht nach dem Beitrag des Erwerbstätigen zum gesamtgesellschaftlichen Wohl richtet, sondern nach etwas anderem, denn Banker erhielten üppige Boni, obwohl ihr Beitrag zum Wohl der Allgemeinheit – oder auch nur zu dem Wohl ihrer Firmen – negativ ausgefallen war. Der Reichtum der Eliten und der Banker scheint sich ihrer Leistungsfähigkeit und ihrer Bereitschaft, andere auszunutzen, zu verdanken. Ein Aspekt der Gerechtigkeit, der tief im amerikanischen Wertesystem verwurzelt ist, betrifft die Chance, etwas aus sich zu machen. Die USA sahen sich selbst von jeher als ein Land der Chancengleichheit. Geschichten vom »Amerikanischen Traum« über Menschen, die es von ganz unten bis an die Spitze schafften, machen den Mythos Amerika mit aus. Aber wie ich in Kapitel 1 zeigen werde, scheint der amerikanische Traum vom Land der unbegrenzten Möglichkeiten immer mehr genau das zu sein: ein Traum, ein Mythos, getragen von Anekdoten und Geschichten, aber nicht von empirischen Daten. Die Chancen eines amerikanischen Bürgers, es »vom Tellerwäscher zum Millionär« zu schaffen, sind geringer als die von Bürgern anderer fortgeschrittener Industrieländer. Es gibt einen komplementären Mythos, der besagt, dass derjenige, der es weit nach oben gebracht hat, hart arbeiten muss, um dort zu bleiben; tut er das nicht, erlebt er (oder seine Nachkommenschaft) einen jähen sozialen Abstieg. Aber wie ich in Kapitel 1 ausführlich darlegen werde, ist auch dies weitgehend ein Mythos, denn die Kinder der oberen Zehntausend werden mit hoher Wahrscheinlichkeit ihrerseits der Oberschicht angehören.
In gewisser Weise nahmen die jugendlichen Demonstranten in Amerika und andernorts das, was sie von ihren Eltern und von Politikern gehört haben, für bare Münze – so wie es die amerikanische Jugend vor fünfzig Jahren während der Bürgerrechtsbewegung getan hat. Damals haben sie die Werte Gleichheit, Fairness und Gerechtigkeit als Maßstab zur Beurteilung dessen herangezogen, wie die weiße Bevölkerungsmehrheit mit den Afroamerikanern umging, und sind zu dem Schluss gelangt, dass sie den Anforderungen nicht genügte. Heute benutzen sie die gleichen Werte, um die Leistungsfähigkeit unseres Wirtschafts- und Rechtssystems zu beurteilen, und stellen fest, dass das System den Amerikanern aus der Unter- und Mittelschicht nicht gerecht wird – die nicht eine Minderheit, sondern die Mehrheit der Amerikaner darstellen, unabhängig von ihrer Herkunft.
Wenn Präsident Obama und unser Gerichtssystem diejenigen, die unsere Wirtschaft an den Rand des Ruins getrieben haben, eines rechtswidrigen Handelns »schuldig« gesprochen hätten, dann hätte man vielleicht sagen können, dass das System funktioniert. Dann wären immerhin einige zur Rechenschaft gezogen worden. Tatsächlich aber wurden jene, die in dieser Weise hätten verurteilt werden sollen, oftmals gar nicht erst angeklagt, und wenn doch, wurde in der Regel ihre Unschuld festgestellt oder sie wurden jedenfalls nicht verurteilt. Aus der Hedgefonds-Branche wurden einige später wegen Insiderhandels verurteilt, aber das ist ein Nebenkriegsschauplatz, fast ein Ablenkungsmanöver. Die Hedgefonds-Industrie hat die Krise nicht verursacht. Das waren die Banken. Und die Banker sind praktisch alle freigesprochen worden.
Wenn niemand zur Rechenschaft gezogen wird, wenn niemand für die Ereignisse verantwortlich gemacht werden kann, dann bedeutet dies, dass das Problem im ökonomischen und politischen System begründet liegt.