Fairness und Desillusionierung

Für die meisten Amerikaner ist die Bedeutung von Fairness offensichtlich. Tatsächlich war die Fairness unseres Wirtschaftssystems einer der Aspekte unserer Gesellschaft, auf den die Amerikaner von jeher besonders stolz waren – die Tatsache, dass es jedem eine Chance gab. Neuere Forschungen haben gezeigt, wie wichtig Fairness für die meisten Menschen ist (auch wenn sich Wirtschaftswissenschaftler weiterhin fast ausschließlich auf Effizienz konzentrieren). In einer Reihe von Experimenten, die zunächst von den deutschen Ökonomen Werner Güth, Rolf Schmittberger und Bernd Schwarze durchgeführt wurden, erhielt eine Versuchsperson einen bestimmten Geldbetrag, zum Beispiel hundert Dollar, den sie anschließend zwischen sich und einen Mitspieler aufteilen sollte.13 In der ersten Version, dem sogenannten Diktatorspiel, muss der zweite Spieler das akzeptieren, was ihm gegeben wird. Die volkswirtschaftliche Standardtheorie liefert eine klare Vorhersage: Der erste Spieler behält die hundert Dollar für sich selbst. In der Praxis aber gibt der erste Spieler dem zweiten etwas, wenn auch im Allgemeinen weniger als die Hälfte.14

Ein ähnliches Experiment liefert noch eindeutigere Belege dafür, dass Menschen großen Wert auf Fairness legen: Die meisten Menschen würden sich eher mit einem ineffizienten Ergebnis – auch wenn es sie selbst schädigt – als mit einem unfairen abfinden. In dem sogenannten Ultimatumspiel hat der zweite Spieler das Recht, Einspruch gegen die vom ersten Spieler vorgeschlagene Aufteilung zu erheben. Legt der zweite Spieler Veto ein, gehen beide leer aus. Die volkswirtschaftliche Standardtheorie legt eine klare Strategie nahe: Der erste Spieler behält 99 Dollar für sich selbst und gibt dem zweiten Spieler einen Dollar, der diesen akzeptiert, weil ein Dollar besser ist als kein Dollar. Tatsächlich bewegen sich die Angebote im Schnitt typischerweise zwischen dreißig und vierzig Dollar (beziehungsweise 30 bis 40 Prozent der Gesamtsumme in einem Spiel, in dem es um andere Größen geht), und der zweite Spieler widerspricht tendenziell der Aufteilung, wenn ihm weniger als zwanzig Dollar angeboten werden.15 Er ist bereit, eine gewisse Unfairness hinzunehmen – er erkennt, dass er sich in einer weniger mächtigen Position befindet –, aber er wird nur ein begrenztes Maß an Unbilligkeit tolerieren. Er würde lieber gar nichts bekommen als zum Beispiel zwanzig Dollar – eine Aufteilung im Verhältnis 4 zu 1 erscheint ihm als zu unfair.16

Der Eindruck von Unfairness beeinflusst das Verhalten. Wenn Arbeitnehmer sich von ihrem Arbeitgeber ungerecht behandelt fühlen, bummeln sie eher bei der Arbeit.17 Im letzten Kapitel bin ich auf Versuchsergebnisse eingegangen, die die Bedeutung des Gerechtigkeitsempfindens für die Produktivität bestätigen. Aber das amerikanische Wirtschaftssystem ist, wie in Kapitel 1 dargelegt, in einem grundlegenden Sinne nicht mehr fair. Chancengleichheit ist lediglich ein Mythos; und die Amerikaner begreifen dies allmählich. Einer Umfrage zufolge glauben heute 61 Prozent der Amerikaner, unser Wirtschaftssystem begünstige die Reichen; nur 36 Prozent – etwas mehr als jeder dritte Amerikaner  – halten unser System im Großen und Ganzen für fair.18 (Und in einem ähnlichen prozentualen Verhältnis halten sie eine die Reichen begünstigende ökonomische Unfairness für ein gravierenderes Problem als Überregulierung.)19 Andere Studien, in denen die Ansichten der Befragten darüber, wie eine gerechte Einkommensverteilung aussehen könnte, mit ihrer Wahrnehmung zur Ungleichheit in den Vereinigten Staaten verglichen werden, bestätigen, dass die meisten die Ungleichheit für zu groß halten. Und dieser Eindruck zog sich quer durch die unterschiedlichsten demographischen Gruppen – er war unter Männern wie unter Frauen, unter Demokraten wie unter Republikanern, unter Spitzen- wie unter Geringverdienern weit verbreitet. Tatsächlich sollten die oberen 40 Prozent in der idealen Verteilung, die den meisten Menschen vorschwebte, über weniger Vermögen verfügen als gegenwärtig die oberen 20 Prozent. Genauso frappierend ist ein anderer Befund: Als die Befragten aufgefordert wurden, zwischen zwei Verteilungen (die in einem Kreisdiagramm dargestellt wurden) zu wählen, entschieden sie sich mit überwältigender Mehrheit für diejenige, die die Verteilung in Schweden abbildete, und nicht für die US-amerikanische (92 zu 8 Prozent).20

Die Aussage, unser politisches System sei unausgewogen und nicht repräsentativ, findet sogar noch breitere Zustimmung als die Aussage, unser Wirtschaftssystem sei unfair. Insbesondere die Armen glauben, ihre Stimme finde kein Gehör. Die breite Unterstützung für die Occupy-Wall-Street-Bewegung bestätigt diese Bedenken. Die Überzeugung, unser politisches und unser ökonomisches System seien unfair (die der Wirklichkeit entspricht), schwächt beide Systeme.

Während das sichtbarste Symptom Politikverdrossenheit ist, die dazu führt, dass die Menschen sich nicht mehr am politischen Prozess beteiligen, besteht zugleich die Sorge, dass sich Wähler von Populisten und Extremisten angezogen fühlen könnten, die das Establishment angreifen, weil es dieses unfaire System erschaffen hat,21 und nun unrealistische Veränderungen versprechen.

Der Preis der Ungleichheit: Wie die Spaltung der Gesellschaft unsere Zukunft bedroht
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