Zur Rechtfertigung der Ungleichheit
Zu Beginn des Kapitels ging es darum, auf welche Weise die Reichen ihr Einkommen und ihr Vermögen oftmals zu rechtfertigen versuchen und wie die »Grenzproduktivitätstheorie« – die Auffassung, dass diejenigen, die höhere Einkommen erzielen, dies deshalb tun, weil sie einen größeren Beitrag zum gesellschaftlichen Wohl leisten – zumindest in den Wirtschaftswissenschaften zur vorherrschenden Doktrin geworden ist. Deutlich wurde auch, dass die Krise Zweifel an dieser Theorie geweckt hat.76 Diejenigen, die ausbeuterische Kreditpraktiken perfektionierten, die an der Entwicklung von Finanzderivaten beteiligt waren – die der Milliardär Warren Buffett einmal als »finanzielle Massenvernichtungswaffen« bezeichnete – oder die die hochriskanten neuen Hypothekenpapiere konzipierten, die dann zur Krise führten, kassierten Millionen, manchmal aberhundert Millionen Dollar.77
Aber schon zuvor war klar, dass ein bestenfalls schwacher Zusammenhang zwischen Gehalt und gesellschaftlichem Nutzen bestand, haben doch die bedeutenden Wissenschaftler, auf deren Entdeckungen unsere modernen Gesellschaften beruhen, im Allgemeinen nur einen kleinen Bruchteil dessen für sich beansprucht, was ihre Entdeckung wert ist; und im Vergleich zu den materiellen Gratifikationen, die jene Finanzalchemisten einstrichen, die die Welt an den Rand des Ruins brachten, erhielten sie lediglich ein Taschengeld.
Es geht jedoch um mehr als das: Man kann die Beiträge einzelner Individuen im Grunde nicht von denen anderer Individuen abgrenzen. Selbst im Rahmen des technischen Fortschritts basieren die meisten Erfindungen auf der Synthese bereits vorhandener Elemente und stellen nichts vollkommen Neues dar. Sieht man sich heute viele der wichtigen Wirtschaftssektoren an, so beruht ein Großteil der dort erzielten Fortschritte auf öffentlich finanzierter Grundlagenforschung.
Gar Alperovitz und Lew Daly zogen 2009 daraus folgenden Schluss: »Wenn uns ein Großteil unseres heutigen ›Besitzstandes‹ in Form von Beiträgen vieler Generationen im Laufe der Zeit geschenkt worden ist, stellt sich die Frage, wie viel – heute und in Zukunft – vernünftigerweise als ›Verdienst‹ eines Einzelnen bezeichnet werden kann.«78 In ähnlicher Weise hängt der Erfolg jedes Unternehmers nicht nur von diesem technischen »Erbe« ab, sondern auch von den institutionellen Rahmenbedingungen (der rechtsstaatlichen Ordnung), dem Angebot an qualifizierten Arbeitskräften und der Verfügbarkeit einer guten Infrastruktur (Verkehr und Kommunikation).