Mangelndes Vertrauen in die Demokratie

Die Tatsache, dass es denjenigen, die für unabhängige Zentralbanken plädieren, offenkundig an Vertrauen in demokratische Verantwortlichkeit fehlt, sollte uns zutiefst beunruhigen. Wo zieht man die Grenze bei der Übertragung zentraler Regierungsbefugnisse auf unabhängige Behörden? Die gleichen Argumente über die Politisierung ließen sich in Bezug auf die Steuer- und Haushaltspolitik vorbringen. Ich nehme an, dass einige Finanzmarktakteure diese Zuständigkeiten gern auf »Experten« abwälzen würden. Die Finanzmärkte wären indes nicht mit beliebigen Experten zufrieden. Vielmehr ziehen sie bekanntlich solche vor, die ihre Auffassungen teilen – die also in Einklang mit ihren Interessen und ihrer Ideologie stehen. Die US-Notenbank und ihre Chefs behaupten gern, sie stünden über der Politik. Es ist bequem, nicht rechenschaftspflichtig, unabhängig zu sein. Sie sehen sich selbst als weise Männer und Frauen, Staatsdiener, die helfen, das komplexe Schiff der Wirtschaft zu steuern.

Wenn es den geringsten Zweifel daran gegeben haben sollte, dass die US-Notenbank und ihre Vorsitzenden im Kern politisch agieren, dann sollte sich dieser durch einen Blick auf die sich anscheinend wandelnden Positionen, die die Zentralbank in den letzten zwanzig Jahren vertreten hat, ausräumen lassen. Im Jahr 1993, als die Vereinigten Staaten sich mit einem hohen Haushaltsdefizit und einer hohen Arbeitslosenrate konfrontiert sahen, drängte der damalige Notenbankchef Alan Greenspan die Regierung dazu, energische Schritte zum Abbau des Defizits zu unternehmen, unter der stillschweigenden Zusicherung, dass die Zinsen dann gesenkt würden, um wieder Vollbeschäftigung zu erreichen. Aber die Wirtschaft litt an hoher Arbeitslosigkeit, sie war nicht überhitzt. Es gab keinen Grund, die Zinssenkung von einem Abbau des Defizits abhängig zu machen; tatsächlich hätte eine Zinssenkung in Verbindung mit einer Ausweitung des Kreditangebots die Wirtschaft wieder auf Wachstumskurs bringen können, und das hätte wahre Wunder beim Defizitabbau bewirkt. Die Zinsen wurden jedoch nur auf etwas unter drei Prozent gesenkt – wären sie stärker zurückgeschraubt worden, dann wäre der Aufschwung vielleicht robuster gewesen. Im Jahr 2001 drängte Greenspan den Kongress dann zu Steuersenkungen, die ein massives Defizit verursachten, und er reagierte auf die Rezession mit viel radikaleren Zinsschnitten – bis auf unter 1 Prozent. Diese scheinbar widersprüchlichen Positionen wurden unter anderem so interpretiert, dass es eigentlich um Staatsabbau und Rückbau der Steuerprogression gegangen sei.27

In einer Demokratie muss jede öffentliche Institution – und eine Zentralbank ist eine öffentliche Institution, so sehr es auch Fassade sein mag – in einem gewissen Umfang rechenschaftspflichtig sein. Es bedarf effizienter Aufsichtsstrukturen, um Fehlverhalten zu verhindern und sicherzustellen, dass sich die Zentralbank an ihren gesetzlichen Auftrag hält und dass dieses Mandat im Einklang mit dem öffentlichen Interesse steht. In einer modernen Demokratie ist verantwortungsvolle Politikgestaltung ein zentrales Anliegen. Wie werden die Entscheidungsträger ausgewählt? Wie werden die Entscheidungen getroffen? Ist der Entscheidungsprozess so transparent, dass er einer sachgerechten öffentlichen Überprüfung unterzogen werden kann?

Es gibt kaum etwas, was für die Bürger von größerem Interesse wäre als die Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft. Tatsächlich zeigen die Standardmodelle der Politikwissenschaft, dass insbesondere die Höhe der Arbeitslosigkeit und deren Veränderung die wichtigste Determinante für den Ausgang von Präsidentschafts- und Kongresswahlen sind. Dennoch hat es den Anschein, als würden Amtsträger unter den gegenwärtigen Verhältnissen für etwas zur Verantwortung gezogen, das sie nur eingeschränkt beeinflussen können.

Das Leitungs- und Aufsichtssystem der US-Zentralbank sollte uns im Grunde peinlich sein. Über die Geldpolitik bestimmt ein Ausschuss (der sogenannte Offenmarktausschuss), dem die sieben Mitglieder des Zentralbankvorstands sowie die Präsidenten der zwölf regionalen Notenbanken angehören, von denen allerdings nur der Chef der New Yorker Notenbank und vier weitere Regionalpräsidenten stimmberechtigt sind. Die Präsidenten der regionalen Notenbanken werden in einem intransparenten, wenig demokratischen Prozess gewählt, in dem die Geschäftsbanken (die von ihnen reguliert werden sollen) zu viel Einfluss besitzen.28 Obwohl der gegenwärtige US-Notenbankchef Ben Bernanke in seinen Veröffentlichungen nachdrücklich die große Bedeutung von Transparenz betont,29 scheint er seine Meinung geändert zu haben, als die Aufgabe, den Banken heimlich unter die Arme zu greifen, ins Zentrum der Notenbank-Agenda rückte. Als die Medien unter Berufung auf das Informationsfreiheitsgesetz Auskunft verlangten, behauptete die Notenbank, das Gesetz gelte für sie nicht. Das zuständige Bundesbezirksgericht war anderer Auffassung, aber die Notenbank zeigte sich unbeeindruckt: Sie weigerte sich offenzulegen, was die Presse wissen wollte. Sie ging in Berufung, mit dem Resultat, dass auch das Berufungsgericht zu dem Urteil kam, die Notenbank sei zur Auskunft verpflichtet. Dem Vernehmen nach wollte der Bankvorstand beim Obersten Gerichtshof in Revision gehen und wurde nur durch die unmissverständliche Belehrung des Weißen Hauses, die Notenbank sei Teil der Regierung und an die für alle Bundesbehörden geltenden Gesetze gebunden, von diesem Schritt abgehalten. Unabhängig davon verlangte auch der Kongress eine Überprüfung ihrer Aktivitäten – einschließlich der Empfänger ihrer Gelder.

Schließlich beugte sich die Zentralbank dem Druck der Gerichte und des Kongresses, und als die gewünschten Auskünfte schließlich erteilt wurden, verstanden die Amerikaner besser, weshalb der Vorstand die Informationen nicht hatte preisgeben wollen. Der wahre Grund für die Geheimniskrämerei war, wie sich zeigte, die Verschleierung von Maßnahmen, die von der Öffentlichkeit nicht gutgeheißen wurden – und von Widersprüchen zwischen dem, was die Notenbank sagte, und dem, was sie tat.30

Bei der großen Rettungsaktion, die den Beginn der Großen Rezession markierte, gehörte der Präsident der New Yorker Notenbank (zusammen mit dem Vorsitzenden der US-Notenbank und dem Finanzminister) einem Triumvirat an, das das Rettungspaket schnürte und entschied, wer gerettet wurde und wer nicht und wer wie viel und zu welchen Bedingungen bekam. Er war seinerseits von einem Ausschuss nominiert worden, dem Banker und Vorstandschefs einiger der Firmen angehörten, die zu äußerst günstigen Bedingungen herausgepaukt wurden.31 Das deutete auf einen Interessenkonflikt hin. Die Amerikaner haben nie richtig verstanden, weshalb der Versicherer AIG ein so gigantisches Rettungspaket erhielt oder weshalb, als AIG-Derivate (von den Gläubigern) zurückgekauft wurden, dies ohne Abschlag geschah – was nicht nötig gewesen wäre. Aber als bekannt wurde, wer die eigentlichen Nutznießer der AIG-Rettungsspritze waren, wurde alles viel klarer: Zu den Hauptnutznießern zählten Goldman Sachs und ausländische Großbanken, von denen einige im Verdacht standen, in komplexe Finanzgeschäfte mit Goldman Sachs verwickelt zu sein. Besonders merkwürdig mutete an, dass die Vereinigten Staaten ausländischen Banken finanziell beisprangen. Wenn sich ausländische Banken in Schieflage befanden, dann hätte es in der Verantwortung der jeweiligen Regierungen gelegen, ihre Banken zu retten.

Je mehr Informationen an die Öffentlichkeit gelangten, desto deutlicher wurde, dass die US-Notenbank schon lange vor dem Ausbruch der Krise im September 2008 riesige Kredite an ausländische Banken vergeben hatte.32 Ganz offensichtlich fungierte die amerikanische Zentralbank nicht nur für US-Banken, sondern auch für ausländische Banken als letztinstanzliche Kreditgeberin.33 Waren amerikanische Banken gegenüber diesen anderen Banken so komplexe und riskante Engagements eingegangen, dass amerikanische Banken beim Zusammenbruch dieser ausländischen Kreditinstitute ebenfalls in ihrer Existenz bedroht waren? Falls ja, war die Notenbank weder ihrer Aufsichtsfunktion noch ihren anderweitigen regulatorischen Aufgaben gerecht geworden. Es kam auch ans Licht, dass ungeachtet der Verlautbarungen der Notenbank, man habe die Probleme bei den zweitklassigen Hypotheken und die Folgen der geplatzten Blase im Griff,34 die Weltfinanzmärkte monatelang von schweren Beben erschüttert worden waren.

Den Daten, die die Notenbank offenlegen musste, ließ sich auch entnehmen, dass Großbanken wie Goldman Sachs sich in den Monaten nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers bei der Notenbank reichlich mit Krediten eingedeckt hatten, während sie gleichzeitig öffentlich behauptet hatten, grundsolide zu sein.

Nichts davon sollte uns überraschen: Eine unabhängige Zentralbank, die vom Finanzsektor vereinnahmt worden ist, trifft Entscheidungen, die den Überzeugungen und Interessen des Finanzsektors entsprechen.

Selbst wenn es wünschenswert wäre, eine Zentralbank zu haben, die unabhängig vom demokratischen politischen Prozess ist, sollte das Leitungsgremium wenigstens repräsentativ sein und nicht von Mitgliedern des Finanzsektors beherrscht werden. Etliche Länder erlauben nicht, dass Personal aus dem Finanzsektor in die Vorstände ihrer Zentralbanken berufen wird – sie sehen darin einen offenkundigen Interessenkonflikt. Es gibt auch außerhalb des Finanzsektors hervorragende Experten. Tatsächlich sind Fachkräfte im Finanzsektor vor allem geschickte Verhandler, die gute Deals herausholen wollen; von den Komplexitäten makroökonomischer Wechselwirkung verstehen sie indes wenig. Die wahren Fachleute zu diesen Themen findet man zum Beispiel an Universitäten, in NGOs und Gewerkschaften.

Diejenigen, die eine unabhängige Zentralbank befürworten, gehen vielfach davon aus, dass bei deren Entscheidungen keine Zielkonflikte auftreten und keine Abwägungen vorzunehmen sind. Experten, so glauben sie, könnten so, wie sie den besten Konstruktionsentwurf für eine Brücke austüfteln, auch die beste Strategie zur Steuerung der wirtschaftlichen Aktivität ausarbeiten. Aber wirtschaftspolitische Entscheidungen basieren immer auf Abwägungen. Unter mehreren Optionen muss eine ausgewählt werden; bei jeder Option gibt es unterschiedliche Gewinner und Verlierer. Es ist mittlerweile offensichtlich, dass es der Notenbank weder gelungen ist, die Stabilität der Wirtschaft zu gewährleisten, noch deren Funktionstüchtigkeit nach der Krise wiederherzustellen; es ist auch unverkennbar, dass die ökonomischen Doktrinen, auf die sie ihre Entscheidungen stützte, mit gravierenden Mängeln behaftet sind. Keine geldpolitische Maßnahme ist ohne Risiko. Aber die Geldpolitik, die die Notenbank betrieb, erlegte die Hauptlast der Risiken den Eigenheimbesitzern, Arbeitnehmern und Steuerzahlern auf, während die Banken die Vorteile einstrichen. Es gab andere Maßnahmen, mit anderen Risiken, bei denen die Gesellschaft insgesamt viel besser und die Banken schlechter weggekommen wären. Wir müssen uns klarmachen, dass die Entscheidungen einer Zentralbank weitgehend politischer Natur sind; daher sollten sie nicht Technokraten übertragen und erst recht nicht Leuten überlassen werden, die eine der mächtigen Interessengruppen repräsentieren.35

Der Preis der Ungleichheit: Wie die Spaltung der Gesellschaft unsere Zukunft bedroht
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