Staat und Chancengleichheit
Zu den beunruhigenden Befunden, die in Kapitel 1 erwähnt wurden, gehört die Tatsache, dass die Chancengleichheit in den Vereinigten Staaten nicht nur abgenommen hat, sondern mittlerweile sogar das in anderen Ländern einschließlich der Staaten des alten Europas herrschende Niveau unterschreitet. Die in diesem Kapitel beschriebenen Marktkräfte spielen dabei eine Rolle: Da die Bildungsrendite gestiegen ist, stehen die Hochqualifizierten gut da, während sich die Aussichten derjenigen (insbesondere Männer), die nur über einen Highschoolabschluss oder einen noch niedrigeren Bildungsgrad verfügen, immer weiter verdüstern. Dies gilt ganz besonders heute, inmitten unserer tiefen Wirtschaftskrise. Bei den mindestens 25-Jährigen mit einem College- oder noch höheren Bildungsabschluss betrug die Arbeitslosigkeit nur 4,2 Prozent, bei denjenigen aus dieser Altersgruppe, die nicht einmal einen Highschoolabschluss hatten, lag sie drei Mal höher, bei 12,9 Prozent. Für die Jüngeren, die gerade erst die Highschool abgebrochen haben oder nach dem Highschoolabschluss keine weiterführende Bildungseinrichtung besuchen, sind die Aussichten noch viel düsterer: Ihre Arbeitslosenrate beträgt 42,7 beziehungsweise 33,4 Prozent.71
Der Zugang zu höherer Bildung hängt jedoch zunehmend von dem Einkommen, dem Vermögen und dem Bildungsstand der Eltern ab, wie wir in Kapitel 1 sahen, und dies aus gutem Grund: Ein Universitätsstudium wird immer teurer, insbesondere da die Bundesstaaten die Förderung kürzen, und der Zugang zu den besten Hochschulen hängt von dem Besuch der besten Highschools, Grundschulen und Kindergärten ab. Die Armen können sich keine hochwertigen privaten Grund- und Sekundärschulen leisten, und sie können es sich nicht leisten, in den reichen Vororten zu leben, die ein erstklassiges öffentliches Bildungssystem bieten. Traditionellerweise haben die Armen häufig in enger räumlicher Nähe zu den Reichen gelebt – auch deshalb, weil sie in ihren Diensten standen. Die Schüler an öffentlichen Schulen stammten daher aus vielfältigen sozialen und ökonomischen Milieus. Eine neuere Studie von Kendra Bischoff und Sean Reardon von der Stanford University zeigt, dass sich dies ändert: Weniger Arme leben in der Nähe der Reichen und umgekehrt.72
In den USA sind Stadtviertel sogar nach Hausbesitzern und Mietern getrennt. Dieses Muster lässt sich nicht mit der Rasse oder der Anwesenheit von Kindern im Haushalt erklären, weil es auch innerhalb rassischer Gruppen und unter Haushalten mit Kindern auftritt. Die Segregation amerikanischer Großstadtregionen in Hausbesitzer- und Mieterviertel kann zu sehr unterschiedlichen Lebensbedingungen führen. Die Lebensqualität in einer Gemeinde richtet sich nach den Anstrengungen ihrer Einwohner, Kriminalität vorzubeugen und sich kommunalpolitisch zu engagieren, und die entsprechenden Bemühungen zahlen sich für Eigenheimbesitzer stärker aus als für Mieter; im Allgemeinen hat auch mehr davon, wer in einer Umgebung lebt, in der viele andere ähnliche Anstrengungen unternehmen, um die Kommune für die Bedürfnisse ihrer Bürger zu sensibilisieren. Es gibt also ökonomische Kräfte, die über Vermögensunterschiede der Haushalte (die sich im Wohneigentum ausdrücken) die Lebensqualität der Gemeinde beeinflussen, in der ein Haushalt ansässig ist.73 Die Politik der US-Regierung, die Eigentumsquote unter Haushalten mit niedrigen Einkommen zu steigern, spiegelt die Überzeugung wider, dass sich die Eigentumsquote auf die Lebensqualität eines Viertels auswirkt und es negative Folgen für die Gesundheit, die persönliche Entwicklung und den schulischen Erfolg hat, wenn man in einem Viertel mit hoher Kriminalität aufwächst. Für Haushalte ohne Eigenkapital und nur geringfügigem Einkommen ist Wohneigentum – in den Vereinigten Staaten ein wichtiger Weg, um Zugang zu besseren Stadtvierteln zu erhalten und Vermögen aufzubauen – jedoch keine tragfähige option.
In Kapitel 1 habe ich auch darauf hingewiesen, dass selbst unter College-Absolventen diejenigen mit wohlhabenden und gebildeten Eltern bessere Chancen am Arbeitsmarkt besitzen. Dies mag zum Teil mit den besseren Beziehungen dieser Eltern zusammenhängen, die besonders wichtig werden, wenn Stellen wie in der jetzigen Situation knapp sind. Die zunehmende Bedeutung von Praktika spielt jedoch auch eine Rolle. Auf einem Arbeitsmarkt, auf dem wie bei uns 2008 auf jede freie Stelle viele Stellensuchende kommen, ist Berufserfahrung entscheidend. Firmen nutzen dieses Ungleichgewicht aus, indem sie unbezahlte oder gering bezahlte Praktika anbieten. Die Reichen sind nicht nur in einer besseren Position, um an ein solches Praktikum zu kommen, das den Lebenslauf aufpoliert; sie können sich unbezahlte Arbeit für ein oder zwei Jahre auch eher leisten.74
Die Regierung hat wenig getan, um diesen Marktkräften, die aufgrund eines unterschiedlichen Zugangs zu »Humankapital« und Arbeitsplätzen zu größerer Chancenungleichheit führen, entgegenzuwirken. Sie hat noch weniger unternommen, um im Bereich des Finanzkapitals für faire Bedingungen zu sorgen, denn die Steuerprogression wurde gedrosselt und insbesondere die Erbschaftsteuern gesenkt.Kurzum: Wir haben ein Wirtschafts- und Sozialsystem geschaffen und betreiben eine Politik, die die gegenwärtigen Disparitäten vermutlich nicht nur aufrechterhalten, sondern noch verschärfen werden: Wir können in Zukunft sowohl beim Human- als auch beim Finanzkapital ein noch höheres Maß an Ungleichheit erwarten.