Die Geschichte der Defizite

Vielleicht erinnert man sich heute kaum mehr daran, aber nur ein Jahrzehnt, bevor die scheinbar außer Kontrolle geratenen Defizite die politische Agenda in den USA beherrschten, verzeichnete das Land hohe Überschüsse, etwa in der Größenordnung von zwei Prozent des BIP. Diese Haushaltsüberschüsse waren so groß, dass der damalige Vorsitzende der US-Notenbank Alan Greenspan sich sorgte, die gesamten Staatsschulden würden schon bald zurückgezahlt sein, was die Geldpolitik erschweren würde. (Die US-Notenbank erhöht oder senkt die Leitzinsen, indem sie Schatzwechsel ver- oder ankauft, aber wenn der Staat keine Schulden mehr hätte, gäbe es auch keine Schatzwechsel mehr, die an- oder verkauft werden könnten.)

Laut Greenspan gab es eine Lösung für diese potenzielle Krise: die von Bush vorgeschlagene Steuersenkung, von der vor allem die Reichen profitieren sollten. Greenspans Unterstützung für die Steuersenkung von 2001 spielte eine entscheidende Rolle.5 Das Argument hätte auf Skepsis stoßen müssen: Wären die Vorhersagen zutreffend gewesen – hätte also die »Gefahr« bestanden, dass die Staatsschulden in nicht allzu ferner Zukunft zurückgezahlt sein würden –, dann hätten Greenspan und der Präsident an den Kongress appellieren können, die Ausgaben zu erhöhen oder die Steuern zu senken. Es ist undenkbar, dass der Kongress sich nicht gefügt hätte, um das vermeintlich drohende Desaster einer vollständigen Tilgung der Staatsschulden abzuwenden. Für die Kritiker dieser Steuersenkungen hatte es den Anschein, als hätten Greenspans Pläne weniger mit Geldpolitik und eher mit der Verschlankung des Staates zu tun. Und für diejenigen, denen die zunehmende Ungleichverteilung in den USA Sorgen bereitete, war die Kombination aus gezielten Steuersenkungen für Spitzenverdiener und dem Abbau sozialer Schutzprogramme für Amerikaner mit niedrigen und mittleren Einkommen, der zwangsläufig folgen würde, da sich die haushaltspolitischen Spielräume verengten, besonders beunruhigend.

Es dauerte nicht lange, bis aus den Überschüssen unter dem Einfluss von vier Hauptfaktoren Defizite wurden. Der erste waren die Steuersenkungen selbst. In den seither vergangenen Jahren wurde deutlich, in welchem Maße sie die Finanzkraft des Landes überstiegen: Im Jahr 2010 sagte die Haushaltsbehörde des Kongresses (Congressional Budget Office, CBO) voraus, dass sich im Fall einer Verlängerung der Steuersenkungen um zehn Jahre die Steuermindereinnahmen für den Zeitraum 2011 bis 2020 auf 3,3 Billionen Dollar belaufen würden.6 Das Haushaltsdefizit im Jahr 2012 wird zu etwa einem Fünftel auf die Steuersenkungen von Präsident Bush zurückgeführt.7

Als zweiter Faktor trugen die Ausgaben für die Kriege im Irak und in Afghanistan, deren (langfristige) Kosten zwischen zwei und drei Billionen Dollar liegen dürften, zu der dramatischen Verschlechterung der Finanzlage bei. Tatsächlich werden sie sich über Jahrzehnte im Haushalt bemerkbar machen: Fast 50 Prozent der zurückkehrenden Soldaten haben Anspruch auf eine Invalidenrente in unterschiedlicher Höhe, und diese Zahlungen sowie die Kosten für die medizinische Versorgung dieser Veteranen werden sich vermutlich auf mindestens eine Billion Dollar belaufen.8 Auch wenn der Irakkrieg 2011 beendet wurde, machten die Kriegsausgaben noch immer mindestens 15 Prozent des Haushaltsdefizits des Jahres 2012 aus.9 Statt die Steuern zu erhöhen, um die Kosten dieser militärischen Operationen zu bezahlen, haben wir unsere Kreditkarte mit dem Betrag belastet und die Quittung in Form einer sich, insbesondere in den Jahren vor der Großen Rezession, stetig verschärfenden Verschuldung bekommen. Bei einem Zinssatz von fünf Prozent fallen bei einer Staatsverschuldung von zwei Billionen Dollar jährlich Zinsen in Höhe von 100 Milliarden Dollar an (und damit ist noch kein einziger Dollar der Schulden getilgt). Gegenwärtig ist die Zinszeche niedrig, weil die Zinsen sehr niedrig sind; aber die Rechnung wird viel höher ausfallen, sobald sich die Wirtschaft erholt und die Zinsen wieder ihr normales Niveau erreichen.

Während die Vereinigten Staaten diese Kriege führten, erhöhten sie auch ihre übrigen militärischen Ausgaben um Hunderte von Milliarden Dollar10 – und dazu gehörten auch Aufwendungen für Waffen, die nach Ansicht von Kritikern nicht funktionierten und die gegen Feinde eingesetzt werden sollten, die nicht existierten. Man hätte nicht geglaubt, dass der Kalte Krieg vorüber ist, wenn man sich die Ausgaben des Verteidigungsministeriums und der CIA ansah. Amerika gab noch immer so viel aus, als würde der Kalte Krieg weitergehen: Die US-amerikanischen Militärausgaben entsprachen der Gesamtsumme dessen, was alle übrigen Länder der Welt für Verteidigung ausgaben.11

Zehntausende Iraker und Afghanen und Tausende junge Amerikaner, die in diesen Kriegen zu Invaliden wurden oder starben, zahlten einen hohen Preis. Aber bei jeder Staatsausgabe, bei jedem militärischen Abenteuer gibt es Gewinner und Verlierer, und dies ist auch hier der Fall: Rüstungsunternehmen strichen hohe Zusatzgewinne ein, von denen ein Teil in Form von Wahlkampfspenden »recycelt« wurde. Diese Ausgaben nahmen mitunter die Form »politischer Renten« an (von denen in Kapitel 2 die Rede war), da die Regierung Preise zahlte, die über denen des freien Marktes lagen. Der ohne öffentliche Ausschreibung zu Beginn des Irakkriegs an Halliburton vergebene Beschaffungsauftrag war dafür ein klassisches Beispiel. In Kapitel 6 bin ich auf die hohen Kosten eingegangen, die mit der Auftragsvergabe an externe Firmen verbunden sind, weil die Regierung mehr ausgibt, als sie es tun würde, wenn Staatsbedienstete die gleichen Leistungen erbrächten. Die Preise für Waffensysteme sind in die Höhe geschossen, obwohl die Regierung versuchte, sie in Schranken zu halten: Mit Gesamtkosten von 382 Milliarden Dollar schlägt allein der Lockheed Martin F-35 Joint Striker Fighter mit einer Summe zu Buche, die der Hälfte des gesamten Obamaschen Konjunkturpakets entspricht.12 (Man kann verstehen, weshalb sich so viele Amerikaner über die gegenwärtigen Budgetprioritäten ärgern: Für ein Kampfflugzeug, das in der Form von Konflikten, in denen sich die Vereinigten Staaten gegenwärtig befinden und wahrscheinlich auch in Zukunft befinden werden, keinen militärischen Nutzen hat, ist genug Geld da, für die Rettung in Not geratener Eigenheimbesitzer jedoch nicht.)

Die dritte Hauptursache für den Anstieg des Defizits war die Medicare-Kostenübernahme für verschreibungspflichtige Medikamente. Obwohl diese Leistung an sich sinnvoll war, lief ein Teil der Kosten auf eine weitere gewaltige »Rente« hinaus – von der diesmal nicht die Rüstungs-, sondern die Pharmakonzerne profitierten. Denn eine kleine Vorschrift in dem Gesetz, das die Kostenübernahme für Medikamente von Medicare-Versicherten regelt, besagt, dass die Regierung, der weltweit größte Arzneimittelkäufer, mit den Pharma-Unternehmen keine Preisverhandlungen führen darf – ein Geschenk, das, nach einigen Schätzungen, über zehn Jahre betrachtet eine halbe Billion Dollar wert ist.13

Doch der wesentlichste Faktor für den Unterschied zwischen der Welt von 2002, als wir einen hohen Überschuss im Bundeshaushalt erwarteten, und der des Jahres 2011, als wir uns, soweit das Auge reichte, gewaltigen Defiziten gegenübersahen, ist die Große Rezession. Jede Rezession verursacht einen Rückgang der Staatseinnahmen und eine Zunahme der Staatsausgaben (für Arbeitslosengeld und Sozialprogramme), und eine Rezession in der Größenordnung der Rezession des Jahres 2008 hat zwangsläufig eine erhebliche Verschlechterung der Finanzlage eines Landes zur Folge. Spanien und Irland hatten vor der Krise Haushaltsüberschüsse und stehen jetzt am Rande des finanziellen Kollapses. Obwohl die US-Konjunktur sich scheinbar wieder erholte, ist die Rezession im Jahr 2012 noch immer für fast zwei Drittel des Defizits verantwortlich: 16 Prozent des Defizits gingen auf das Konto von Maßnahmen zur Wiederankurbelung der Wirtschaft (das Konjunkturpaket, das Steuersenkungen, Finanzhilfen an Bundesstaaten und öffentliche Investitionen umfasste); aber fast die Hälfte (48 Prozent) des gesamten Defizits war auf die Konjunkturschwäche selbst zurückzuführen, in deren Folge die Steuereinnahmen zurückgingen und die Ausgaben für Arbeitslosenversicherung, Lebensmittelgutscheine und andere soziale Schutzprogramme stiegen – Ausdruck der Tatsache, dass das US-amerikanische Bruttoinlandsprodukt 2012 schätzungsweise 900 Milliarden Dollar unter dem Produktionspotenzial liegen wird.14

Wenn man über einen Abbau des Defizits nachdenkt, sollte man sich immer vor Augen führen, dass die Rezession die Defizite verursacht hat, nicht umgekehrt. Verstärktes Sparen wird den konjunkturellen Abschwung nur verschärfen, die erhoffte Verbesserung der staatlichen Finanzlage aber wird ausbleiben.

Der Preis der Ungleichheit: Wie die Spaltung der Gesellschaft unsere Zukunft bedroht
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