Geldpolitik und der Kampf der Ideen

Es ist eine zentrale These dieses Buches, dass ein Wettstreit, ja ein regelrechten Kampf der Ideen tobt – darüber, welche Gesellschaftsform und welche Politik für die Mehrheit der Bürger am besten sind – und dass es im Rahmen dieses Wettstreits Versuche gibt, den Menschen einzureden, dass die Interessen und Wünsche der Superreichen identisch mit denen der Allgemeinheit seien: Die Senkung des Spitzensteuersatzes, der Abbau des Defizits und die Zurückdrängung des Staates kämen allen zugute.

Das gegenwärtig vorherrschende makroökonomische Politikkonzept geht auf das Werk des einflussreichen Wirtschaftswissenschaftlers Milton Friedman zurück, eines Vertreters der Chicagoer Schule und entschiedenen Anhängers der freien Marktwirtschaft. In diesem Konzept wird die Bedeutung von externen Effekten heruntergespielt, Informations-unvollkommenheiten sowie andere »Agentur«-Probleme (Probleme im Zusammenhang mit Stellvertretung) werden ignoriert.39 Während Friedman für seine bahnbrechenden Arbeiten über die Determinanten des Konsums zu Recht mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde, basierte sein Eintreten für eine freie Marktwirtschaft eher auf ideologischer Überzeugung denn auf ökonomischer Analyse. Ich erinnere mich an lange Gespräche mit ihm über die Folgen unvollkommener Information oder unvollständiger Risikomärkte; nicht nur ich hatte in meinen Arbeiten gezeigt, dass Märkte unter solchen Bedingungen in der Regel nicht gut funktionieren. Friedman konnte oder wollte diese Ergebnisse nicht akzeptieren. Er konnte sie nicht widerlegen. Er wusste einfach, dass sie falsch sein mussten. Er und andere Wirtschaftsliberale hatten zwei andere Antworten parat: Selbst wenn die theoretischen Ergebnisse zutreffend seien, handele es sich um »Kuriositäten«, Ausnahmen, die die Regel bestätigten; und selbst wenn die Probleme weit verbreitet seien, könne man sich nicht auf die Regierung verlassen, um sie zu beheben.

Friedmans Geld- und Kredittheorie sowie seine politischen Empfehlungen waren Ausdruck seiner Überzeugung, der Staat solle sich weitgehend aus dem Wirtschaftsgeschehen heraushalten. Laut der von ihm propagierten Wirtschaftsdoktrin, dem sogenannten Monetarismus, soll die Regierung lediglich die Geldmenge um eine festgelegte Rate ausweiten (die Wachstumsrate des Outputs, die gleich der Wachstumsrate der Erwerbsbevölkerung plus der Wachstumsrate der Produktivität ist). Dass die Geldpolitik nicht zur Stabilisierung der Realwirtschaft – das heißt zur Sicherung der Vollbeschäftigung – taugt, interessierte nicht weiter. Friedman glaubte, jede Volkswirtschaft werde von sich aus für Vollbeschäftigung oder annähernde Vollbeschäftigung sorgen. Jede Abweichung werde schnell korrigiert, solange die Regierung die Dinge nicht vermassle.

In Friedmans Augen war die Weltwirtschaftskrise kein Fall von Markt-, sondern von Staatsversagen: Die Notenbank hatte nicht getan, was sie hätte tun sollen. Sie hatte die Geldmenge verknappt. In der Wirtschaft hat man keine Gelegenheit für Experimente. Wir können die Weltwirtschaftskrise nicht noch einmal durchspielen und dabei eine andere Geldpolitik ausprobieren, um die Folgen in Erfahrung zu bringen. Doch die Große Rezession bot, in mancherlei Hinsicht, eine wunderbare, wenn auch kostspielige Gelegenheit, einige dieser Ideen auf den Prüfstand zu stellen. Ben Bernanke, der sich als Wissenschaftler intensiv mit der Weltwirtschaftskrise befasst hatte, kannte die Kritik an der US-Notenbank, und er wollte sich nicht dem Vorwurf aussetzen, keine Lehren aus der Geschichte zu ziehen. Und so überschwemmte er die Wirtschaft mit Liquidität. Ein Standardmaß der Geldpolitik ist die Bilanzsumme der Notenbank, die sich aus der Gesamthöhe ihrer Ausleihungen an das Bankensystem und dem Gesamtwert ihrer angekauften Staats- und sonstigen Anleihen zusammensetzt. Die Bilanzsumme verdreifachte sich fast, von 870 Milliarden Dollar vor der Krise (28. Juni 2007) auf 2,93 Billionen Dollar am 29. Februar 2012.40 Diese Liquiditätserhöhung mag – zusammen mit der massiven Stützungsaktion des Finanzministeriums  – die Banken gerettet haben, aber sie hat die Rezession nicht abgewendet. Die US-Notenbank mochte die Krise durch ihre Politik des billigen Geldes und ihre allzu nachlässige Regulierung verursacht haben, konnte aber wenig tun, um den Abschwung zu verhindern oder rückgängig zu machen. Das räumte ihr Chef schließlich auch ein.41

Friedman vertrat auch sehr dezidierte Ansichten über die Regulierung des Bankensektors – seines Erachtens beeinträchtigte sie wie die meisten anderen staatlichen Eingriffe die wirtschaftliche Effizienz. Er sprach sich für »Free Banking« aus, die Anschauung, dass Banken weitgehend frei von staatlichen Restriktionen ihren Geschäften nachgehen sollten; diese Idee war bereits im neunzehnten Jahrhundert in die Tat umgesetzt worden und gescheitert. In dem chilenischen Diktator Augusto Pinochet fand Friedman dennoch einen gelehrigen Schüler. Das Free Banking führte in Chile tatsächlich zu einem wirtschaftlichen Wachstumsschub; neue Banken wurden gegründet, und sie versorgten die Wirtschaft großzügig mit Krediten. Aber so, wie es nicht lange dauerte, bis der deregulierte Bankensektor die amerikanische Wirtschaft in die Knie zwang, so rutschte Chile schon 1982 in seine tiefste Rezession. Über 25 Jahre lang musste das Land die Schulden abtragen, die die Regierung gemacht hatte, um das Problem zu lösen.

Ungeachtet dieser Erfahrungen setzt sich die Auffassung, Finanzmärkte würden von sich aus effizient arbeiten – der Staat solle sich nicht einmischen –, in den letzten 25 Jahren immer mehr durch, nicht zuletzt weil sie von Notenbankchef Alan Greenspan und einer ganzen Reihe von Finanzministern mit Nachdruck propagiert wurde. Und dies kam, man kann nicht oft genug darauf hinweisen, den Interessen des Finanzsektors und anderer Spitzenverdiener sehr entgegen, auch wenn die Wirtschaft dadurch verzerrt wurde. Der Zusammenbruch des Finanzsystems erwischte die Notenbank anscheinend kalt; aber Spekulationsblasen gehörten zum Kapitalismus westlicher Prägung von Anfang an dazu – vom Tulpenfieber 1637 in den Niederlanden bis zur Immobilienblase der Jahre 2003 bis 2007.42 Und es gehört zu den Aufgaben der Währungsbehörden, die Entstehung solcher Blasen zu verhindern, um die Stabilität der Wirtschaft zu gewährleisten.43

Der Monetarismus fußt auf der Annahme, die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes – die Häufigkeit, mit der eine Dollar-Note pro Jahr den Besitzer wechselt – sei konstant. Und auch wenn dies in einigen Ländern und an einigen Orten tatsächlich so gewesen sein mag, traf dies in der sich rasch wandelnden Weltwirtschaft des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts nicht mehr zu. Nur wenige Jahre, nachdem die Theorie von sämtlichen Zentralbanken bejubelt worden war, geriet sie daher gänzlich in Verruf. Als sich die Zentralbanken sehr schnell vom Monetarismus verabschiedeten, hielten sie Ausschau nach einer neuen Religion, die mit ihrem Glauben an minimale Markteingriffe in Einklang stand. Sie fanden sie in der »direkten Inflationssteuerung«: Zentralbanken wählen eine bestimmte Inflationsrate aus (zwei Prozent ist eine beliebte Zahl), und jedes Mal, wenn die Inflation über diese Rate steigt, erhöhen sie die Zinssätze. Die höheren Zinsen sollten das Wachstum und dadurch die Inflation dämpfen.44

Der Preis der Ungleichheit: Wie die Spaltung der Gesellschaft unsere Zukunft bedroht
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