Ist Ungleichheit notwendig, um Menschen Anreize zu geben?
Die Verteidiger des Status quo bringen oftmals noch ein anderes Argument vor: Das gegenwärtige hohe Maß an Ungleichheit sei notwendig, damit die Menschen Anreize haben, sich beruflich anzustrengen, zu sparen und zu investieren. Hier werden zwei Standpunkte durcheinandergebracht. Der eine lautet, dass es keine Ungleichheit geben sollte, der andere, dass wir besser dastehen würden, wenn die Schere nicht so weit geöffnet wäre, wie sie es heute ist. Ich und, soweit ich weiß, die meisten derer, die progressiven politischen Ideen anhängen, plädieren nicht für vollständige Gleichheit. Wir erkennen durchaus, dass Anreize dadurch geschwächt würden. Die Frage lautet daher: Inwieweit würden die Anreize geschwächt, wenn wir ein etwas geringeres Niveau an Ungleichheit hätten? Im nächsten Kapitel werde ich darlegen, warum ein Rückgang der Ungleichheit die Produktivität sogar steigert.
Auf einen Großteil dessen, was Leistungslohn beziehungsweise leistungsbezogene Vergütung genannt wird, trifft gerade das nicht zu. Mit dieser Bezeichnung sollten lediglich die enormen Disparitäten gerechtfertigt und Unbedarfte in dem Irrglauben gewiegt werden, dass unser Wirtschaftssystem ohne diesen hohen Grad an Ungleichheit nicht funktionieren würde. Dies zeigte sich, als die Banken im Anschluss an das Finanzdebakel von 2008 aus lauter Verlegenheit die Vergütungen ihrer Manager nicht länger »Leistungsboni« nannten, sondern auf einmal von »Personalerhaltungsboni« oder »Treueprämien« sprachen (auch wenn das Einzige, was erhalten wurde, die schlechte Leistung war).
Im Rahmen von Leistungslohnsystemen soll die Entlohnung mit der erbrachten Leistung steigen. Aber nicht nur die Banken machten Folgendes: Wenn gemäß den Kriterien, die herangezogen wurden, um die Höhe der Vergütung festzulegen, die gemessene Leistung zurückging, wurde einfach das Vergütungssystem geändert. Dies führte in der Praxis dazu, dass die Vergütung hoch war, wenn die Leistung stimmte, aber auch dann, wenn dies ganz und gar nicht der Fall war.79