Sparpolitik
Der schlimmste Mythos aber lautet, nur eine strenge Sparpolitik, nicht die Erhöhung der Staatsausgaben könnten die Wirtschaft auf den Wachstumspfad zurückbringen. Dies wird damit begründet, dass Unternehmer, sobald sie sehen, dass der Staat seine Finanzen wieder im Griff hat, mehr Zuversicht schöpfen; und mehr Zuversicht führe zu mehr Investitionen. Wer dieser Argumentation anhängt, sollte eigentlich unsere erste Strategie zur konjunkturellen Wiederbelebung unterstützen: verstärkte Investitionstätigkeit der öffentlichen Hand. Da es zahlreiche Möglichkeiten für staatliche Investitionen gibt, die nach allgemeiner Auffassung sehr hohe Erträge abwerfen – Erträge, die weit höher ausfallen als der Zins, den die öffentliche Hand für Kredite zahlen muss –, würde eine Erhöhung dieser Investitionen langfristig die Staatsverschuldung senken; und die Überzeugung, dass dem so ist, sollte Zuversicht einflößen und einen noch stärkeren wirtschaftlichen Wachstumsschub auslösen. Aber die Befürworter eines strengen Sparkurses sind gegen einen Ausbau der öffentlichen Investitionen.41
Ein Blick in die Geschichte belehrt uns über die tatsächlichen Verdienste strikter Austerität. Die Geschichte zeigt nämlich, dass eine Sparpolitik fast immer scheiterte, und die ökonomische Theorie erklärt, weshalb uns das nicht überraschen sollte. Rezessionen entstehen durch unzureichende Nachfrage – die gesamtwirtschaftliche Nachfrage ist geringer als das, was die Wirtschaft bei Vollauslastung ihrer Kapazitäten produzieren könnte. Kürzt der Staat die Ausgaben, geht die Nachfrage noch stärker zurück, und die Arbeitslosigkeit steigt. Dem Mythos, dass Austerität Vertrauen schaffe, liegt oft ein anderer Mythos zugrunde: der Mythos, das Staatsbudget lasse sich mit dem Budget eines privaten Haushalts vergleichen. Jeder Haushalt muss, früher oder später, seinen Verhältnissen entsprechend leben. Bei hoher Arbeitslosigkeit gilt diese Regel jedoch nicht für den Bundeshaushalt. Und zwar deshalb, weil eine Ausgabenerhöhung die Produktion ausweiten und Menschen in Arbeit bringen kann, die ansonsten arbeitslos wären. Ein einzelner Haushalt hingegen kann dadurch, dass er mehr ausgibt, als er einnimmt, an der volkswirtschaftlichen Lage nichts ändern. Eine Regierung vermag dies sehr wohl. Und der Zuwachs des BIP liegt womöglich um ein Vielfaches über dem Betrag, den der Staat ausgegeben hat.
In der Finanzwelt hebt man hervor, wie wichtig Vertrauen ist, aber eine Politik, die zu mehr Arbeitslosigkeit und einem niedrigeren Sozialprodukt führt, stellt kein Vertrauen wieder her. Nur eine Politik, die Wachstum schafft, kann Vertrauen erneuern – Sparen aber bewirkt das genaue Gegenteil. Befürworter eines Sparkurses präsentieren Daten von Ländern, die die Staatsausgaben kürzten und sich wirtschaftlich erholten. Bei genauerer Prüfung zeigt sich jedoch, dass all diese Länder klein waren und Handelspartner hatten, bei denen die Wirtschaft boomte.42 Mit vermehrten Exporten ließ sich ein Rückgang der Staatsausgaben daher ohne Weiteres wettmachen. Dies gilt jedoch nicht für die Vereinigten Staaten und Europa, deren Handelspartner gegenwärtig selbst einen starken Konjunktureinbruch verzeichnen.43
Man hätte meinen können, dass die Spar-Kibitze aus dem reichen Fundus vergangener Erfahrungen mit den verheerenden Konsequenzen von Sparmaßnahmen etwas gelernt hätten: Erst aufgrund von Herbert Hoovers Austeritätspolitik wuchs sich der Börsenkrach von 1929 zur Weltwirtschaftskrise aus, Sparauflagen des IWF machten aus den Abschwüngen in Ostasien und Lateinamerika Rezessionen und Wirtschaftskrise; die selbstauferlegte und erzwungene Austerität in mehreren europäischen Ländern (Großbritannien, Lettland, Griechenland und Portugal) hat heute genau den gleichen Effekt. Aber die Spar-Kibitze scheinen diese eindeutigen Befunde nicht zur Kenntnis zu nehmen. Wie die mittelalterlichen Quacksalber, die fest von der heilenden Wirkung eines Aderlasses überzeugt waren und dann, wenn es dem Patienten nicht besser ging, behaupteten, er brauche eben eine zweite Runde, so werden auch die Wundärzte der Wirtschaft im 21. Jahrhundert in ihrem Glauben nicht wanken. Sie werden verstärkte Sparanstrengungen verlangen, und sie werden zahllose Ausreden für den Fall finden, dass die erste Dosis nicht so wirkt wie vorhergesagt. Unterdessen wird die Arbeitslosigkeit ansteigen, die Löhne werden sinken, und staatliche Unterstützungsprogramme für die Mittel- und Unterschicht werden zusammengestrichen werden.
Eine Erhöhung der Staatsausgaben dagegen hat den gewünschten Effekt. Letztlich überwanden die USA die Weltwirtschaftskrise erst durch die Ausweitung der Staatsausgaben im Vorfeld des Zweiten Weltkrieges. Zuvor hatte schon der New Deal dazu beigetragen, dass sich die Wirtschaft zwischen 1933 und 1936 erholte; der konjunkturbelebende Effekt war damals jedoch nicht stark genug, um die Kombination aus Ausgabensenkung auf einzelstaatlicher wie kommunaler Ebene und den Schwächen im Agrarsektor auszugleichen (die Landwirte, deren Anteil an der Gesamtbevölkerung 25 Prozent betrug, mussten allein zwischen 1929 und 1932 Einkommenseinbußen um 50 Prozent verkraften).44 Am Ende seiner ersten Amtszeit im Jahr 1936 veranlassten Bedenken wegen des wachsenden Defizits und der Druck konservativer Finanzpolitiker Hoover dazu, die Bundesausgaben zurückzufahren. Die konjunkturelle Erholung kam zum Stillstand, und die Wirtschaft begann zu schrumpfen.45