DISKURS LXV

Darin jemand von Mutlosigkeit überwältigt wird, man jedoch trotzdem den Marsch fortsetzt.

Auch du und ich nahmen an der Suche nach den dreien teil: In kleinen Gruppen durchkämmten wir die Umgebung. Alles vergebens, von den Bärtigen gab es keine Spur. Wir begannen zu rufen, erst bittend, dann im Befehlston, doch auch das war zwecklos. Kemal stieß einige entsetzliche Drohungen aus, die im Nichts verhallten. Dreimal schritt Malagigi verbissen den gesamten Umkreis unseres Aufenthaltsortes ab, ohne Ergebnis. Schließlich fanden wir uns alle am Ausgangspunkt wieder. Nur du fehltest, da du die Suche im dichten Unterholz fortsetzen wolltest, unseren Blicken entzogen.

»Sie waren hier, einen Schritt von uns entfernt!«, rief Hardouin immer wieder verzweifelt, »und jetzt haben sie sich in Luft aufgelöst. Aber wir müssen sie finden! Die haben den Petronius, verflucht!«

Das Verschwinden der drei hatte sich in wenigen Minuten abgespielt. Dieses Mal konnte man Kemal, den Barbaresken, nicht verdächtigen oder beschuldigen. Doch das alles war geschehen, während noch die Erinnerung an Mustafas Tod auf uns lastete.

»Ich hab’s ja gewusst, die drei haben uns hereingelegt. Sie haben so getan, als wollten sie uns zur Piana dei Morti bringen, um uns irgendwann abzuhängen«, knurrte Schoppe zornig.

»Hör doch auf, Caspar, was faselst du da für einen Unfug?«, sagte Naudé. »Das ergibt doch keinen Sinn! Sie hätten sich ja weigern können, |450|von uns begleitet zu werden, und versprechen können, uns morgen an der Torre Vecchia zu treffen, um sich dann nie wieder blicken zu lassen.«

»Ich fasele Unfug? Du bist derjenige, der nichts kapiert!«, rief Schoppe, packte den Bibliothekar an den Schultern und schüttelte ihn.

»Die drei haben uns den Petronius entführt! Und was machen wir jetzt hier auf dieser Klippe mitten im Meer? Wir haben uns das einzige Stück aus den Papieren von Philos Ptetès vor der Nase wegschnappen lassen wie Idioten!«

»Lass mich los!«, brüllte Naudé nur und befreite sich mit einem heftigen Stoß von Schoppes Griff, worauf dieser ein paar Schritte rückwärts taumelte. »Glaubst du, ich weiß nicht, in welcher Situation wir uns befinden? Meine einzige Erleichterung wäre, dich nicht mehr krächzen zu hören, und ich bitte dich herzlich, deinem Freund Gabriel diesen Wunsch zu erfüllen.«

»Hört jetzt auf mit der Streiterei, wir haben Besseres zu tun!«, versuchte Hardouin zu schlichten, vergeblich von Pasqualini unterstützt.

Die gesamte Truppe der Gelehrten war vom Verschwinden der drei Bärtigen und der kostbaren Handschrift mit dem Gastmahl des Trimalchio wie betäubt, doch statt dass sie in Trübsal versanken, entlud ihre Enttäuschung sich in Wut und Gezänk.

»Das reicht jetzt! Diese Insel, diese Sirene, ist unser Grab! Soll sich Gorgona rühren, / So daß in ihr jedermann ersäufe!« Alle anderen übertönend, paraphrasierte Guyetus die bereits zitierten Verse der Commedia. Sein Wutausbruch ließ die ganze Gruppe erstarren. »Dies ist nicht einmal eine Insel, es ist das Schloss des Zauberers Atlante! Alles verschwindet und taucht ohne Sinn und Verstand wieder auf! Erst haben wir die Wahnsinnsreden von Nummer Drei geschluckt, dann den Unsinn dieser drei. Immer die Drei und immer Irre, die lügen! Ich werde verrückt, wir werden alle bald verrückt wie Orlando, der den Verstand verlor und ihn auf den Mond fliegen sah! Aber wir haben keinen Hippogryphen, der für uns zum Nachtgestirn fliegt, um unseren Verstand zurückzuholen, und erst recht nicht den Satyricon, den die drei Idioten mitgenommen haben!«

Unerwartet waren es nicht der Sanguiniker Schoppe oder der redegewandte Naudé, die in höchste Erregung gerieten, sondern der gefestigte Guyetus. Die deprimierende Atmosphäre auf der Insel und die unglücklichen Ereignisse hatten unbemerkt an ihm genagt wie |451|Holzwürmer, die unhörbar einen Stamm zerfressen, bis er knirscht und schließlich bricht.

»Alles ist hier durch Magie und Wahn verzerrt! Die Zaubereien des Magiers Atlante verwirrten sogar den tapferen Roland, der gekommen war, die vom Riesen entführte Angelica zu retten. Als er in den Zimmern eine Frauenstimme hörte, meinte Roland, es sei die seiner Angelica, aber Ruggiero hielt sie für die Stimme seiner Bradamante. Denn in dem Palast sieht und hört jeder, was er ersehnt, weil der Zauberer Atlante ihn so gebaut hat. Und ist es nicht auch auf Gorgona so, wo wir einen slawonischen Mönch verfolgen, den keiner von uns vieren je gesehen hat? Wir sind Sklaven des Slawonen geworden, hahahaha!« Er endete mit einem hysterischen Lachen.

»Beruhige dich, Guyetus, es wird uns schon noch gelingen …«, versuchte Hardouin ihn zu besänftigen.

Guyetus schlug ihm ins Gesicht, drehte sich auf dem Absatz um und stürzte sich tollkühn auf Kemal. Er packte ihn am Kragen und zog ihn zu sich heran.

»Es war Schicksal, dass wir in diesem Gefängnis für Wahnsinnige eingeschlossen wurden, wie es Orlando und Ruggiero widerfuhr! Korsar, antworte diesem Nazarener! Kennst du Ariost? Wie heißt es im Rasenden Roland? Denen, die im Schlosse irrten / ihnen allen dieses wähnte / was jeder am meisten ersehnte, hahaha!« Guyetus lachte aus vollem Halse, verdrehte die Augen zum Himmel und lockerte erst dann seinen Griff um den Hals des verblüfften Barbaresken. »Wir werden alle krepieren, versteht Ihr?«, brüllte er und starrte uns mit trüben Blicken aus dem Dunkel seines cholerischen Raptus an. Vom Mund rann ihm ein kleiner Speichelfaden herab, der aus ihm eine tollwütige Schimäre aus Mensch und Tier machte.

Da trat Kemal auf ihn zu und rammte ihm ohne Eile das Knie in den Magen. Guyetus stürzte zu Boden.

»›Seine Zunge ist äußerst gewandt, aber schwach seine Rechte im Kampf‹, dichtete Vergil.« Erbarmungslos verspottete Schoppe den armen Guyetus.

»Schluss jetzt!«, schrie ich und versuchte, den ungleichen Kampf zwischen dem Korsar und dem betagten Pariser Philologen zu beenden, indem ich dazwischenging, doch das war nicht mehr nötig. Guyetus lag friedlich am Boden und brummte mit rollenden Augen weitere Satzfetzen aus dem Rasenden Roland: »Dieselbe Stimm’ und |452|nämliche Person ist’s / Die für Rolando war Angelica: Für Ruggiero jetzt die Dame von Dordona ist’s

Besorgt knieten wir um den armen Guyetus. Nur Kemal war nicht übermäßig beeindruckt.

»Ein ordentlicher Tritt in den Magen hilft gegen Aufregung vor der Schlacht. Man denkt nicht mehr an die Angst. Mit diesem einfachen Trick soll der große Kair Eddin, der berühmte Barbarossa, mehr als eine Meuterei im Keim erstickt haben. Matrosen rebellieren immer aus Angst, nicht aus Ungehorsam. Ihr werdet sehen, dass es eurem neunmalklugen Freund gleich viel besser geht.«

Doch unsere Aufmerksamkeit wurde von deiner geradezu triumphalen Rückkehr abgelenkt:

»Gefunden! Ich habe das Haus der drei Bärtigen gefunden!«, riefst du, aus dem dichten Gebüsch auftauchend. »Und ich habe hier ganz in der Nähe etwas Sonderbares entdeckt!«

In der Hand hieltest du ein etwas ramponiertes und mit Blättern bedecktes Fernrohr.

Das Mysterium der Zeit
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