|118|DISKURS XVI

Darin Barbello ein großes Risiko eingeht. Danach ereignet sich ein unvorhergesehener Zwischenfall, welcher viele angenehme, aber auch einige unerfreuliche Folgen hat.

Mit einer verächtlichen Geste lockerte Ali Rais den Griff um Barbellos Ohr. Endlich freigelassen, versuchte das Opfer, sein Hinterteil mit dem Mantel zu bedecken, den die beiden Korsaren auf den Boden geworfen hatten. Doch der Rais beförderte Barbello mit einem Tritt rücklings auf die Planken und setzte ihm einen Fuß auf den Bauch, wo er in einer erneuten Zwangslage liegen blieb, die Eingeweide zum Himmel gewandt.

Dann sprach der Rais zu uns:

»Ich habe Dinge gesehen, die ihr Nazarener euch nicht vorstellen könnt. Lichterloh brennende Schlachtschiffe vor den Festungen von Candia. Und die Laternen der Galeonen, die vor der Meerenge von Gibraltar in der Finsternis leuchteten. Es ist Zeit … zu sterben.«

Er erhob den Krummsäbel, zielte theatralisch auf Barbellos Kehle und holte zu einem mächtigen Säbelhieb aus, um die Klinge jedoch im letzten Moment auf das Ohr des Unglücklichen zu verlagern, denn der Rais hatte nicht die geringste Absicht, sich um das Lösegeld für den kostbaren Singvogel zu bringen.

In diesem Moment traf ein Fußtritt, hinter dem Rücken des Rais ausgeführt, den armen venezianischen Kastraten in die Seite, brachte ihn ins Rollen und entfernte ihn von Ali Rais. Es war dessen Statthalter gewesen.

»Ali, habt Mitleid mit diesem hündischen Nazarener!«, sagte er, die sonnenverbrannte Stirn runzelnd, aus der seine hellen Augen wie nächtliche Leuchtfeuer strahlten. Der Statthalter sprach Italienisch. »Vielleicht verdient er es nicht, mitten auf dem Meer wie ein Hund zu sterben, bevor er die Herrlichkeit von Tunis und seines Herrschers gesehen hat. Verschont sein Leben, Rais, unser Vergnügen haben wir heute bereits gehabt, als wir diese verfluchten Nazarener mit unseren Bucinae getäuscht haben!«

Der Statthalter schien also einer der drei Männer zu sein, die uns mit ihren Trompeten begrüßt und in dem Glauben gewogen hatten, wir wären einem niederländischen Schiff begegnet.

»Darum lasst ihn noch ein Weilchen auf dieser Seite des Grabens, |119|großer Ali, dann werden wir sehen, ob er sich von seinem dummen Nazarenerglauben befreien kann«, schloss er.

Ali Rais stand noch immer in derselben Haltung da, die Spitze des Krummsäbels erneut dramatisch auf die Kehle des armen Barbello gerichtet, welcher mittlerweile wohl etliche Male von der Welt hier unten Abschied genommen hatte. Der Anführer der Korsaren, der die Rede seines Statthalters bis jetzt reglos aufgenommen hatte, verzog das faltige Gesicht zu einem löwenartigen Lächeln, großmütig und wild zugleich. Dann räusperte er sich und spuckte ein paar Mal auf sein Opfer. Schließlich senkte er langsam die Waffe und stieß den weichen Körper des armen Kastraten mit der Fußspitze von sich, sodass er wie ein schlaffer Ball über die Planken davonrollte.

In unsere vor Anspannung wie gelähmten Lungen kehrte endlich wieder Leben zurück.

»Er soll sich wieder anziehen, der nackte Arsch eines Christen ekelt mich an«, erklärte das Oberhaupt der Barbaresken, spießte den Mantel des armen Barbello mit der Säbelspitze auf und ließ ihn über seinem Kopf fallen, worauf der Unglückselige fieberhaft versuchte, ihn zu erhaschen und sich zu bedecken.

»Und ihr anderen Hunde, lernt daraus!«, brüllte Ali, derweil ein Grüppchen seiner Männer herbeieilte, um ihm stolz ein paar Beutestücke zu zeigen, die sie auf unserem Schiff entdeckt hatten: Fernrohre, Uhren, Essbesteck, Pistolen, eine Arkebuse, deren Griff nach Türkenart bearbeitet und mit Steinen besetzt war. Über diese Hakenbüchse, wahrscheinlich ein Beutestück aus einem Kampf mit den Ungläubigen, entstand zwischen den Barbaresken eine Diskussion und, soweit wir verstanden, ein lebhafter Streit über den zukünftigen Besitzer der Waffe. Währenddessen konnten wir ein paar Worte wechseln.

»Barbaren«, bemerkte Schoppe mit Blick auf den Streit zwischen den Korsaren um die verzierte Arkebuse.

»Sprecht leise, verflucht!«, zischte Naudé, wohl der Ängstlichste in unserer Gruppe. »Hat es Euch nicht gereicht, uns alle in Gefahr gebracht zu haben mit Eurer Geschichte, dass ich euch drei auf Befehl Kardinal Mazarins nach Paris hole?«, fügte er hinzu. Er schien vergessen zu haben, dass Guyetus dem Rais diese Lüge aufgetischt hatte.

»Danke übrigens«, sagte Schoppe zu Guyetus, da er inzwischen eingesehen hatte, dass er wegen geringer Rentabilität auf dem Sklavenmarkt und beim Lösegeldhandel um ein Haar im Meer gelandet wäre, |120|»und danke auch für die Bezeichnung ›verehrungswürdig‹. Gut gesagt, sehr gut.«

Guyetus wollte etwas murmeln und auf mich verweisen, aber ich gab ihm mit einem Wink zu verstehen, dass es nicht nötig sei, mich als Urheber der Idee zu benennen und den alten deutschen Gelehrten womöglich noch mehr zu verwirren. Außerdem geziemt es sich für einen Secretarius eher, Mittler als Urheber zu sein.

»Ihr seid freilich nicht allzu weit von der Wahrheit entfernt gewesen, als Ihr Euch, um mir das Leben zu retten, ausgedacht habt, ich würde vom Regierenden Minister von Frankreich sehnsüchtig erwartet. Dank meiner zahlreichen philologischen Arbeiten und politischen Traktate genieße ich die Gunst der Herrschenden fast ganz Europas, mir wurde die Ehre zuteil, in einem Bild von Rubens verewigt zu werden, und ich bin durch den Kaiser von Wien sogar ermächtigt, Adelstitel zu gewähren oder zu widerrufen. Wenn man es recht bedenkt, ist es ungewöhnlich und erstaunlich, dass Mazarin meine Dienste bis jetzt noch nicht angefordert hat. Doch vielleicht kann der königliche Bibliothekar«, und hier lächelte er Naudé unverschämt freimütig an, »in diesem Punkt Abhilfe schaffen, sobald wir diese unerfreuliche Situation überwunden haben und er nach Paris zurückgekehrt ist.«

»Ihr Glücklicher, dass Ihr Euer gesegnetes Alter erreicht habt«, seufzte Naudé unerwartet.

»Bitte?«

»Wer Euer verehrungswürdiges Alter erreicht hat, den kümmert es natürlich nicht mehr, ob er sterben muss. Darum haltet Ihr Eure Zunge nicht einmal in einer so misslichen Lage im Zaum, in der jedem von uns, wenn es den Barbaresken einfällt, von einem Moment zum anderen der Kopf wie ein Kerzendocht abgehauen werden kann. Ich bewundere Euren Mut.«

Schoppe, der alles andere als lebensmüde war und schon bei dem Gedanken erbleichte, dass sein Leben auf Krummsäbels Schneide stand, schluckte seinen Ärger über diese Bemerkung hinunter und begnügte sich damit, einfach zu schweigen.

Unterdessen legte sich der Streit zwischen den Korsaren um die Arkebuse allmählich. Wie vorherzusehen war, hatte Ali Rais die Büchse an sich genommen, musste aber immer noch aufflammende Zwietracht unter zwei Männern schlichten. Wir sahen, wie sie sich ohrfeigten und hörten abermals viehische Schreie aus der Schar der Räuber.

|121|Währenddessen warst du mit Malagigi dem armen Barbello zu Hilfe geeilt. Ihr wolltet die blutenden Striemen auf seinem Hinterteil untersuchen, doch er weigerte sich schamhaft, bis das schmerzvolle Brennen der Wunden die Oberhand gewann und er sich darin fügte, euch unter Deck zu folgen, um sich der peinlichen Untersuchung zu unterziehen.

Nun, da wieder Frieden zwischen seinen Männern eingekehrt war, näherte sich Alis lockenköpfiger Gehilfe unserer verängstigten kleinen Schar, die Hände keck in den Hosenbund gesteckt, den kleinen rundlichen Bauch vorgestreckt, im hilflosen Versuch, seine geringe Körpergröße zu überspielen.

Hinter ihm entfernte sich der Anführer des Barbareskenpacks mit seinem Gefolge, ohne uns eines Grußes zu würdigen, und verließ unser Schiff über einen der Stege, die in seine schwankende Karacke führten. Die Fahne mit der Inschrift, die die christliche Religion schmähte, prangte, gepeitscht vom Ostwind, immer noch gut sichtbar über uns.

»Ali Rais jetzt hungrig wie Tiger und müde«, verkündete der Lockenkopf zufrieden, »et andar auf Schiff um gustar victoria et gaudir mit Hühnchen, Wein und muchacha. Wir müssen seguir Schiff mit franzos Schiff bis arrivar in Tunis. Ich und compagneri wachen über euch. Andar in mar est diffizil! Mal heiß, mal warm, beaucou de vent, leicht fallen in agoua … Aber wir nicht tirannisir, wenn ihr mucho bono, wir nicht tun Ketten an Arme, nicht töten, nicht werfen in mar. Mi hablar vero et justo, wie Scheitan!« Und er brach in ein lautes Gelächter aus.

»Hund«, brummte Schoppe mit mühsam unterdrückter Wut. »Dieser Ali hat sich sogar Frauen mit an Bord genommen.«

»Schweigt und zeigt Respekt, Nazarener!«, ermahnte uns belustigt der Statthalter mit der fuchsroten, leicht ergrauten Mähne, der vor kurzem Barbello das Leben gerettet hatte und uns jetzt, auf zusammengerollten Tauen hockend, beobachtete. Wir hatten den Mann, der unvermutet zu unserem Wohltäter geworden war, schon fast vergessen.

»Jetzt verkriecht euch wieder unter Deck, wo ihr über eure Fehler nachdenken und bereuen könnt«, befahl er uns, auf die Falltür zeigend, die in den Kielraum führte. »Und bereitet euch darauf vor, euch zum großen, einzig wahren Propheten zu bekehren, sobald wir ankommen.«

|122|Nachdem wir die schicksalhafte Leiter hinabgestiegen waren, über die wir an Deck gekommen waren, als unsere Galeere schon gekapert worden war, sahen wir einander in dem engen Kielraum so bang an, als lägen wir bereits in Ketten in den Bädern von Tunis oder wären Diener einer vielköpfigen Maurenfamilie und müssten täglich den Hintern eines betagten Janitscharen putzen.

Unter Deck fanden wir dich und Malagigi vor, ihr hattet soeben den gequälten Barbello, der bäuchlings auf einer Bank lag und noch immer wimmerte, mit einer beißenden Flüssigkeit verarztet. Du hieltest die Hand des Kastraten zwischen den deinen. Mit großem Erstaunen bemerkte ich deine Verwandlung: Die Pein, die Barbello erlitten hatte, schien deine Abneigung gegen seine Person zum Schmelzen gebracht zu haben wie Schnee in der Sonne. Ich trat zu euch, um eine lindernde Salbe anzubieten, die ich bei mir trug, doch statt einer Antwort wurde Barbellos Wimmern nur lauter.

»Er hat noch immer panische Angst, der Ärmste«, sagte Malagigi. »Gebt mir ruhig Eure Salbe, Atto und ich werden uns darum kümmern, ihn damit einzureiben.«

Er nahm das winzige Döschen im Empfang, reichte es dir weiter, und du machtest dich daran, dem armen venezianischen Kastraten das Mittel zu verabreichen, während Malagigi, den Rücken zu euch gewandt, die Szene vor neugierigen Blicken abschirmte, indem er seinen Umhang wie die Flügel einer Fledermaus ausbreitete.

Das Mysterium der Zeit
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