BETRACHTUNG

Darin man erfährt, dass Luther der Ideengeber für die Inquisition war, und, schlimmer noch, dass Galileo Galilei unrecht hatte.

Als Martin Luther in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts in den jahrhundertealten Streit zwischen Aristotelikern und Ptolemäikern |496|eingriff, war die Astronomie zwischen Wien und Padua aufgeteilt. Für die Wiener Astronomen gehörten die Postulate des ptolemäischen Systems zu den seit jeher bestehenden Wahrheiten, die Averroisten der Schule von Padua hingegen, fanatische Anhänger der Lehren des Aristoteles-Kommentators Averroes, griffen erregt all jene Lehren an, die er schon widerlegt hatte. Im Gefolge ihres Lehrers sprachen die italienischen Averroisten – Achillini, Nifo, Amico und Fracastoro – der Astronomie das Recht ab, Hypothesen zu verwenden, die nicht mit der Philosophie des Meisterphilosophen und seines Kommentators schlechthin übereinstimmten. Wie Averroes erklärten sie das ptolemäische System aus diesem Grund für inakzeptabel, und wie Averroes versuchten sie, den Almagest durch eine Theorie zu ersetzen, die ausschließlich auf jenen homozentrischen Kreisen gründete, die bei den arabischen Handwerkern so beliebt gewesen waren. Doch wie schon Alpetragius hüteten auch sie sich davor, Details anzugeben, mit denen sich Tafeln der Himmelsbewegungen hätten erstellen lassen – dann hätten alle sofort erkannt, dass ihre Theorie von den Bewegungen der Planeten widerlegt wurde.

Um ihren Betrug zu verschleiern, heuchelten die Lehrer von Padua Verachtung für Details und brandmarkten sie als des wahren Philosophen unwürdige »Spielerei für Astronomen«. Einige, wie Achillini, Fracastoro und Giambattista Amico scheuten nicht davor zurück, in ihren Vorworten zu schreiben: Wir wissen, dass in unseren Werken einige Kleinigkeiten fehlen, aber pedantische Berechnungen sind nicht unsere Aufgabe, und sie lassen sich ohnehin leicht erhalten. Schluss.

Propaganda ersetzt Diskussionen, statt zu philosophieren, heckt man Listen aus.

Das alte Modell des Ptolemäus will lange nicht untergehen. Andere Wissenschaftler, wie Coronelli, Johannes Buridan, Albert von Sachsen und Nicolas Oresme setzen die Demontage aristotelischer Dogmen fort, indem sie sie auf die sublunare Sphäre, also die Erde, ausdehnen. Buridan kann die aristotelischen Prinzipien erfolgreich widerlegen, als er zeigt, dass die Bewegung eines Projektils nicht von der umgebenden Luft, sondern von einem impetus erhalten wird, den derjenige, der diesen Körper abschießt, in der Substanz des Projektils erzeugt. Mit diesem in Paris geborenen, außerordentlich fruchtbaren Prinzip wird anerkannt, dass die Philosophie der sublunaren Welt sich nicht von der Philosophie der himmlischen Sphären unterscheidet. Beide folgen |497|derselben Methode, denn ihre Hypothesen haben einen einzigen Zweck: die Erscheinungen zu retten, wie Platon sagte, also mit den Sinnesdaten übereinzustimmen.

Diese klare Vorstellung von der Natur der Hypothesen, die im Mittelalter und zu Beginn der Renaissance viele gewonnen hatten, verdunkelt sich wieder, als ein unvorhergesehener Faktor auftaucht: Luther.

Der Reformator wettert gegen alles und jeden: Kopernikaner, Katholiken, sogar gegen seine eigenen Leute. Alle werden bezichtigt, die Theologie von der Wissenschaft zu trennen. Gotteslästerlich und verderbt sind seiner Meinung nach vor allem die Päpste, die den Empfehlungen des Ptolemäus folgen und jede Art Hypothese als nützlich erachten, die Erfahrungswerte bestätigt, sogar dann, wenn solche Hypothesen der Bibel widersprechen.

Drohend fordert Luther, dass eine Hypothese, bevor sie auf die Wissenschaft angewendet wird, den aristotelischen Lehren gemäß als sicher oder wenigstens wahrscheinlich gelten muss und der Bibel nicht widerspricht. Wieder einmal soll das Dogma triumphieren.

»Luther hat den Gewehrschuss abgegeben, der die Sinneswahrnehmung von der Philosophie und Theologie abhängig machen und Jahrhunderte vorsichtiger, weiser wissenschaftlicher Forschung vernichten wird. Die römische Kirche ist gezwungen, sich anzupassen.«

»Das sind starke Worte. Ich glaube nicht, dass es etwas gibt, was einen Papst zwingen könnte, von seinem eigenen Weg in Sachen göttlicher Dinge abzugehen«, wandte ich ein.

»Das erscheint Euch absurd? Doch es ist so«, sagte Hardouin.

Am 24. Mai 1543 stirbt Kopernikus, als sein Hauptwerk gerade in Druck gegeben wird. Im Vorwort des Papst Paul III. gewidmeten Werks sagt Kopernikus, anfänglich habe er die Hypothese von der Bewegung der Erde wie eine irrige Vermutung behandelt, dann aber festgestellt, dass sie die Erscheinungen noch besser als die ptolemäische Theorie zu retten vermochte, und dass sich mit ihrer Hilfe noch genauere Berechnungstafeln erarbeiten ließen. Doch mit dieser Aussage gab er sich nicht zufrieden: Kopernikus wollte die Wahrheit dieser Hypothese beweisen und glaubte, dass es ihm gelungen sei.

»Wohlgemerkt: der Papst fand nichts Frevelhaftes an dieser wissenschaftlichen Haltung, obwohl Kopernikus Idee in offenem Widerspruch zur Bibel stand.«

|498|Dem Papst war natürlich nicht entgangen, dass Kopernikus sich irrte, als er behauptete, die Wirklichkeit seiner Theorie bewiesen zu haben, erklärte Hardouin. Als Kenner der Lehren von Hipparchos, Thomas von Aquin und Agostino Nifo wusste Paul III., dass man für den Beweis der Übereinstimmung einer astronomischen Hypothese mit der Natur der Dinge nicht nur zeigen musste, dass sie ausreicht, die Erscheinungen zu retten, sondern außerdem auch noch beweisen musste, dass dieselbe Hypothese, verändert man sie oder lässt sie gar fallen, sofort mit den Erscheinungen in Widerspruch gerät. Trotzdem hatte der Papst keine Einwände gegen Kopernikus und klagte ihn auch nicht der Gotteslästerung an.

»Er vermied schlicht und einfach, öffentlich Stellung zu nehmen«, fasste Hardouin zusammen. »Es wäre ihm nicht im Traum eingefallen, Kopernikus’ Werk auf den Index zu setzen.«

Während der bretonische Buchhändler sprach, marschierten wir im Schritt eines geschlagenen Heeres. Barbara hatte ihre Kräfte fast wiedererlangt, oder besser gesagt, sie war von den nächtlichen Strapazen ebenso erschöpft wie wir. Wir hatten den Weg am Saum des Kliffs verlassen und gingen nun über den Pfad, der durch den Wald zur Piana dei Morti führte.

In Deutschland, fuhr Hardouin fort, entwickelten die Dinge sich ganz anders. Kopernikus’ Buch erhielt eine anonyme Vorrede an den Leser, in der die ptolemäische Linie vertreten wurde: Astronomische Hypothesen müssen nicht wahr, noch nicht einmal wahrscheinlich sein, es genügt, wenn die Berechnungen, zu denen sie führen, mit den Beobachtungen übereinstimmen. Kein Astronom stellt Hypothesen auf, um andere zu überzeugen, dass die Wirklichkeit sich ihnen gemäß verhält, er will lediglich über exakte Berechnungen verfügen.

Der Verfasser der anonymen Vorrede war der Humanist Andreas Osiander. In Deutschland und Nordeuropa bildeten Gelehrte und Wissenschaftler, die diese Linie vertraten, zu der Zeit eine starke Strömung. Unter ihnen waren der berühmte holländische Astronom Gemma Frisius, die Gelehrtengruppe an der Universität Wittenberg, zu der Ariel Bicard und Caspar Peucer, die Schüler von Reinhold und Melanchthon, gehörten, weiter die Schulen in Nürnberg und Basel, die von Schreckenfuchs und Vurstisius geleitet wurden. Alle stimmten mit der alten ptolemäischen Schule überein. Auch die Italiener dachten |499|so: Bei Piccolomini, Cesalpino und Giuntini findet man exakt dieselben Ideen wie bei Albert von Sachsen und Thomas von Aquin. Giovanni Battista Benedetti bewunderte Kopernikus wegen der Berechnungen, die er zur Rettung der Himmelserscheinungen ersann, war aber sofort bereit einzuräumen, dass das heliozentrische Modell nicht das einzig Mögliche sein konnte.

»Die Zeitmessung, nur das ist der Menschheit wichtig, heute wie gestern«, erklärte Hardouin. »Und um die Zeit zu messen, Vergangenheit oder Zukunft, gibt es nur ein universales Instrument: die Beobachtung des Himmels. Darum brauchen wir immer vollständigere, genauere und praktischere Rechentafeln, mit denen die Himmelserscheinungen sich vorhersagen lassen. Ob Kopernikus’ Hypothesen wahr oder falsch sind, hat keinerlei Einfluss auf die Berechnungen. Die deutschen Wissenschaftler interessierte diese Frage darum gar nicht.«

Trotz dieser geschlossenen Front kann Luther alles kurz und klein hauen. Schon bald müssen die deutschen Gelehrten sich selbst und ihren Schriften widersprechen, wenn sie ihre Haut retten wollen. Melanchthon schämt sich nicht, einerseits zu schreiben, Kopernikus’ Theorien seien fehlerlos, und andererseits im Namen der Philosophie und der Bibel zu erklären, die Erde bewege sich nicht. Peucer, der knapp zwanzig Jahre zuvor Stein und Bein auf die Unerkennbarkeit der Himmelserscheinungen geschworen hatte, verdammt Kopernikus Theorien jetzt, weil sie »der Wahrheit völlig widersprechen«.

Auch die großen Astronomen ändern ihren Kurs. Der Protestant Tycho Brahe wertet Kopernikus ab, weil er mit Aristoteles und der Bibel im Widerstreit liegt. Horstius beeilt sich, all seine wissenschaftlichen Ergebnisse mit Rekurs auf die Bibel und aristotelische Schriften zu rechtfertigen.

Nun ist man in die Sackgasse geraten. Der Irrtum der Kopernikaner bestand darin, dass sie sich von der Tradition des Osiander abwandten, der sich noch mit der Feststellung der Himmelserscheinungen begnügt hatte. Nun fordern auch sie, dass astronomische Hypothesen wahr sein müssen, und behaupten, die kopernikanischen Theorien seien Wirklichkeit, die Erde drehe sich also tatsächlich um die Sonne.

Der Schaden ist angerichtet, die Astronomie ist dem Dogma in die Hände gefallen. Will man in der protestantischen Welt verstehen, wie |500|das Weltall gebildet ist, genügt es nicht mehr, Arbeitshypothesen aufzustellen – diese Hypothesen müssen der Philosophie und Religion entsprechend wahr sein. Hypothesen sind keine zweckdienlichen Instrumente zur Erreichung eines praktischen Ziels mehr (wie die Zeitmessung durch Vorhersage der Planetenbewegungen), sie müssen wirklich sein, also den vagen Überlegungen der Philosophen entsprechen. In wenigen Jahren ist man in den von der Reformation erfassten Ländern vom Instrumentalismus zum Realismus, von der Gedankenfreiheit zur Unterdrückung übergegangen.

Eine große Wende beginnt. So unerbittlich streng sind die protestantischen Ketzer, dass sie sogar mit dem Finger auf die Kirche Roms zeigen und sie anklagen, Ideen zu erlauben, die Aristoteles und der Bibel widersprechen. In Rom herrscht Verwirrung. Was tun? Keinesfalls können Katholiken sich überrennen lassen und einem Luther gestatten, Orthodoxie und wissenschaftliche Strenge zu überwachen!

Auch die Katholiken machen eine Kehrtwende. Der Jesuit und Wissenschaftler Christophorus Clavius, der einst seelenruhig die Forschungsergebnisse des Kopernikus benutzte, fügt einer Neuausgabe seiner Werke nun die Kritik am Geozentrismus hinzu, bezieht sich dabei aber nicht auf die Religion, sondern auf die aristotelische Philosophie!

Die römische Inquisition, die zunächst prokopernikanisch war, wacht auf. Als man beim Fall Galileo ankommt, wird dem toskanischen Wissenschaftler darum verboten, die Hypothesen des Kopernikus zu vertreten, und zwar vor allem, weil sie philosophisch falsch sind. Am Ende ist der wirkliche Gegner der neuen Wissenschaft nicht der Papst, auch Christus nicht, sondern der Heide Aristoteles.

Die Bestätigung der kopernikanischen Lehre durch die Philosophie ist das Zentrum, in dem die unterschiedlichsten Forschungen Galileos zusammenfließen, von den Beobachtungen des Astronomen bis zu seinen mechanischen Theorien. Er möchte, dass die Grundlagen der Astronomie der Wirklichkeit entsprechen, und versucht diesen Nachweis mit den klassischen Beweisen des Aristoteles zu führen. Die Bibel zitiert er dagegen nie.

»Wirklich?«, fragte ich höchst erstaunt.

»Das ist kaum verwunderlich.« Hardouin lächelte. »Es war Galileos kopernikanischer Realismus, der die Inquisition gegen ihn aufbrachte, |501|weil sie den ptolemäischen Realismus vertrat. Andererseits unterschieden die katholischen und protestantischen Inquisitoren sich kaum. Alle folgten der Philosophie des Aristoteles und seines Kommentators, des Arabers Averroes, obwohl beides Heiden waren und die Sterblichkeit der Seele predigten.«

»Seid Ihr überzeugt von dem, was Ihr da sagt?«, fragte ich verblüfft. »Wie kann eine christliche Inquisition, sei sie nun katholisch oder protestantisch, Theorien heidnischer antiker Philosophen vertreten, die nicht einmal an die Unsterblichkeit der Seele glauben?«

»Es wäre interessant, die Inquisitoren Luthers, Calvins oder der heiligen römischen Kirche danach zu fragen. Aber ich glaube kaum, dass einer von ihnen die Wahrheit sagen würde«, schloss der bretonische Buchhändler belustigt.

Doch eine Frage wollte ich Hardouin noch stellen.

»Die Lehre des Barberini-Papstes war also trotz des christlichen Anscheins im Grunde ebenfalls heidnischen Ursprungs, wie Guyetus sagte? Platon kam vor Jesus Christus, sagte aber ganz ähnliche Dinge, wie ist das möglich?«

»Eine komplizierte Frage. Tatsächlich beschuldigen viele das Christentum, eine Verbindung mehrerer heidnischer Lehren zu sein, vor allem des Platonismus. Der deutsche Mystiker Meister Eckart erblickte vor etwa drei Jahrhunderten die eigentlichen Wurzeln des Christentums im Neoplatonismus. In Wahrheit braucht das Christentum als eine Religion, der die menschliche Vernunft nicht mehr gilt als der Verstand eines kleinen Kindes, das höhere Gedanken nicht begreifen kann, gar keine Philosophie. Der Glaube braucht keine Erklärungen, die den Verstand befriedigen, und er muss nicht in die Schule gehen. Er ist Glaube, mehr nicht, entweder man nimmt ihn an oder man lehnt ihn ab. Doch als die kirchliche Hierarchie sich so weit entwickelt hatte, dass sie eine einheitliche Macht bilden wollte, die rationalen Einfluss auf das Weltgeschehen nimmt, brauchte sie eine der Vernunft zugängliche Theologie. Also stützten die Gelehrten der Kirche sich mal auf platonische, mal auf aristotelische Lehren dort, wo diese dem Christentum nicht widersprachen.«

Darum habe die Verurteilung Galileos paradoxerweise wenig mit der Bibel zu tun gehabt, fuhr Hardouin fort. Im Urteilsspruch bezeichneten die Inquisitoren die kopernikanischen Thesen als stultae et absurdae in philosophia, als »philosophisch dumm und widersinnig«. |502|Was die Bibel sagte, wollten die Inquisitoren gar nicht wissen, sie folgten einfach sklavisch den Interpretationen der Kirchenväter und verweigerten sich blind jeder neuen Lektüre, um den Protestanten keinen Vorwand zu liefern, ihnen Nachgiebigkeit vorzuwerfen.

»Verstießen die kopernikanischen Theorien denn auch gegen das Evangelium?«, fragte ich, denn es hatte mich gewundert, dass Hardouin in seinen langen Ausführungen diese heilige Schrift, die doch weit wichtiger war, kein einziges Mal erwähnt hatte.

»Das Evangelium?«, rief der Buchhändler lachend aus. »Viel zu klar, zu wenig gewunden und verwickelt, um den Inquisitoren zu gefallen. Vor allem nach dem Tod von Kardinal Bellarmin, der kein Dogmatiker war, erwiesen die Inquisitoren sich im Vergleich zu den Theologen als die besseren Philosophen, Aristoteliker natürlich, die mehr mit den Sadduzäern aus dem Tempel von Jerusalem gemeinsam hatten als mit den Christen.«

»Die Sadduzäer? Meint Ihr die Priester des Sanhedrin, des Hohen Rates, der Jesus verurteilte?«

»Genau diese. Die Sadduzäer glaubten ebenso wie die Aristoteliker weder an die Unsterblichkeit der Seele noch an die göttliche Vorsehung, sondern meinten, dass die Welt ewig sei und Gott ein weit entfernter, gleichgültiger Schöpfer, der sich nicht in die menschlichen Angelegenheiten einmischt. Darum hatte die Welt unermesslich große Bedeutung für sie. Sie waren überzeugt, dass die von Gott verheißene Glückseligkeit sich hier auf Erden und im Lauf eines Lebens verwirklichen muss. Mit dem Tod ist dann alles aus. Adieu.«

»Was für selbstmörderische Ideen«, mischte sich Kemal ein, der Hardouins letzte Sätze aufgeschnappt hatte. »Wie zum Teufel kann man so leben?«, fragte er kopfschüttelnd. »Wahrscheinlich waren sie immer sehr schlecht gelaunt, haha!«

Hardouin sprach weiter. Nur zwei Stimmen erhoben sich in diesem erbitterten Kampf zwischen dem kopernikanischen Realismus Galileos und dem ptolemäischen Realismus der Inquisition, um an die weisen Lehren über die fiktive Natur menschlicher Theorien zu erinnern, die einzigen, die wirklich mit der christlichen Lehre übereinstimmten. Eine gehörte Kardinal Bellarmin, der dreißig Jahre zuvor in einem offenen Brief über Galileo an die ununterbrochene Traditionslinie erinnert hatte, die von Poseidonius, Ptolemäus, Proklos und Simplicius bis zu Osiander führte. Die andere war die Stimme Kardinal |503|Maffeo Barberinis, des zukünftigen Papstes Urban VIII., der, beeindruckt von den Ermahnungen Bellarmins, eine öffentliche Begegnung mit seinem Freund Galileo veranstaltete, wo er den verborgenen Makel im Gedankengang des Wissenschaftlers bloßstellte: »Ihr müsst beweisen, dass all das von keinem anderen als dem von Euch entworfenen System erreicht werden könnte, ohne Widersprüche zu erzeugen.«

Der Mann, der Urban VIII. werden sollte, war gewiss nicht vollkommen, im Gegenteil, er hatte viele Schwächen, nicht zuletzt jene, dass er sehr emotional reagierte, abergläubisch und leicht erregbar war, doch seine Wutanfälle waren ebenso heftig wie von kurzer Dauer. Seine intellektuellen Gaben waren jedoch unfehlbar. Mit kristallklarer Logik hatte er Galileo diese Wahrheit vor Augen geführt: Bestätigungen von Hypothesen durch Erfahrung mögen so zahlreich und präzise sein, wie man will, sie könnten eine Hypothese doch nie in Gewissheit verwandeln, denn dafür müsste man auch den folgenden Satz beweisen: dieselben Erfahrungsdaten würden notwendig alle anderen Hypothesen widerlegen, einschließlich derer, die noch nie von einem Menschen ausgedrückt wurden. Ein offensichtlich unmöglicher Beweis, der die Kenntnis der Wahrheit darum einzig und allein der göttlichen Barmherzigkeit überlässt und der menschlichen Vernunft alle Anmaßung nimmt.

Hat Jesus Christus, so entgegnete Maffeo Barberini seinem Freund Galileo, uns nicht offenbart, dass Gott abba, also »Vater« oder »Papa« ist? Abba, mit diesem Namen riefen die kleinen Kinder zu Jesu Zeit ihren Vater. Jesus will uns damit sagen, dass der menschliche Geist, dessen Erkenntnisfähigkeiten er doch so hoch schätzte, die Wahrheit der Dinge nicht besser versteht als ein Kindchen. Das Klügste, was wir tun können, lieber Galileo, ist also, uns mit unbeweisbaren wissenschaftlichen Kenntnissen zu praktischen Zwecken abzufinden. Im Übrigen müssen wir dem Vater vertrauen, wie die Kinder in zartem Alter es tun.

»Konnten diese weisen und umsichtigen Überlegungen Bellarmins und Urbans VIII. Galileo von seinem Vorhaben abbringen? Nein.«, sagte Hardouin. »Im Gegenteil, in seinem berühmten Dialog über die zwei hauptsächlichsten Weltsysteme, den er vor fünfzehn Jahren schrieb, legte Galileo diese vorsichtigen Ratschläge des Papstes, wie Ihr wisst, einer einfältigen Figur in den Mund. Außerdem schrieb er dieses |504|Werk auf Italienisch, das alle lesen konnten, wodurch das Buch überall sehr populär wurde. Urban VIII. wurde also in ganz Europa lächerlich gemacht. Natürlich war er gezwungen zu reagieren, und als Antwort auf den unverbesserlichen Realismus Galileos gab er, zu seinem großen Leidwesen, dem unerbittlichen Realismus der Aristoteliker des Heiligen Offiziums freie Hand.«

Hardouins Ausführungen vermittelten wirklich den Eindruck, Galileo habe um jeden Preis verurteilt werden wollen, wie Schoppe behauptete, doch es war noch nicht klar, ob er es wirklich getan hatte, um seinen Ruhm zu mehren.

Mir fiel außerdem ein, dass noch keiner geklärt hatte, wer jener von Bouchard zitierte E.D. war, der seiner Meinung nach zur impia cohors gehörte, wie Galileo. Gerade wollte ich Hardouin danach fragen, als ich aufschrak – Kemal hatte mich grob an der Schulter gepackt und schüttelte mich wie eine Marionette.

»Beim Barte des Propheten, wollt ihr jetzt endlich mit dem Geschwätz aufhören? Wenn ihr es noch nicht bemerkt habt, sage ich euch, dass wir angekommen sind, seht ihr das Haus vor euch? Von jetzt an kein Wort mehr. Legt euch auf eure Lager, ohne dass euch jemand hört, es tagt bald, und die Schlafenden könnten schon bald erwachen.«

Das Mysterium der Zeit
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