|696|DISKURS CIV

Darin man den einzig möglichen Fluchtweg von einer Insel nimmt.

Kaum waren wir draußen, hörten wir mehrere Geschosse über die Dächer pfeifen. Wir suchten Schutz hinter einer Hütte.

»Da kommen bewaffnete Männer, jetzt schießen sie auch mit Gewehren und Pistolen auf uns«, keuchte Kemal, während er sich vorbeugte, um herauszufinden, in welcher Richtung die Schützen standen. »Dort sind sie. Ich glaube, das sind die Verrückten, denen wir das Gulasch aus Philos Ptetès zu verdanken haben.«

»Die Handschriften von Bracciolini, die Aufzeichnungen von Bouchard …«, jammerte ich verzweifelt, »alles ist eingestürzt, alles verloren … Ich habe nur diese beiden Heftchen retten können.«

»Was kümmert es dich, mein Freund?«, entgegnete Kemal. »Du lebst.«

»Ja, aber jetzt … jetzt wird niemand mehr die Wahrheit erfahren. Alles verloren, alles in dem Schweinestall dort unten versunken, auch die Verrückte …«

»Die Verrückte?«, fragtest du.

Ich erklärte in wenigen Worten, was vor eurer Ankunft geschehen war.

In diesem Moment zischte ein Geschoss dicht an Kemals Nase vorbei. Wir stürzten hinter der Hütte hervor und eilten mit gesenktem Kopf, immer dicht an die Mauern gepresst, in den tiefer gelegenen Ortsteil Richtung Strand. Von Zeit zu Zeit hörten wir einen Schuss über unseren Köpfen oder einer nahen Mauer. Die Schüsse wurden immer genauer, unsere Angreifer näherten sich.

»Es sind mindestens drei oder vier. Sie kommen aus mehreren Richtungen auf uns zu«, verkündete Kemal. »Noch wissen sie nicht, ob wir bewaffnet sind oder nicht, darum schießen sie von weitem. Doch sie werden bald erkennen, dass wir nicht das kleinste Kügelchen haben. Wir müssen sofort von hier weg.«

Auch du spähtest in ihre Richtung. »Oh Gott! Einer dort hinten sieht aus wie Philos Ptetès!«, riefst du erstaunt.

Plötzlich sahen wir eine Art großen Lumpen in einer ungewöhnlich grellen gelben Farbe fast direkt über unsere Köpfe fliegen. Er war zu einem Ball zusammengeknüllt, wohl um ihn besser werfen zu können.

|697|»Alle ducken!«, rief Kemal.

Recht hatte er, denn gleich darauf dröhnte die Kanone und die Kugel fiel nicht weit von uns zu Boden, zum Glück war ihre Reichweite nicht groß genug.

»Diesen Lumpen haben die Gewehrschützen geworfen«, erklärte der Barbareske, »er sollte der Kanone unsere Position anzeigen.«

Der Regen wurde immer stärker, jetzt fiel eine regelrechte Wasserwand, welche die Sicht erheblich einschränkte und den Schützen das Zielen erschwerte.

»Wir laufen los! Sonst kommen wir hier nicht mehr lebend heraus. Folgt mir. Seid ihr bereit?«, fragte der Statthalter.

Verängstigt und unsicher nickten wir.

»Los!«

Ein verzweifelter Wettlauf begann, im Zickzack ging es zwischen den letzten Häusern hindurch, die uns vom Strand trennten. Dort schienen wir nur anfangs sicher, schon bald folgten die ersten Schüsse, dann entstand eine Pause.

»Macht schnell, sie kommen!«, drängte Kemal, während unsere Füße unbeholfen über den Schlamm glitten.

In der Ferne hörte man ein Stimmengewirr und eilige Schritte. Unsere Verfolger kamen näher, um besser zielen zu können. Wie im Flug waren wir bei dem Boot, schoben es mit einer irrwitzigen Geschwindigkeit ins Wasser, sprangen hinein und begannen wie wild zu rudern, während die Schützen am Strand angekommen waren und nun ihre Waffen luden.

»Runter!«, befahl Kemal und duckte sich auf die Sitzbänke des Bootes.

Wir warfen uns auf den Boden, dann erwarteten wir mit klopfendem Herzen die Schüsse. Wenn die Projektile das Boot durchlöcherten, waren wir verloren. Aber nichts geschah.

»Es regnet zu stark!«, rief ich. »Die Gewehre lassen sich nicht mehr laden, sie sind feucht geworden.«

»Du hast recht, Secretarius. Also rudern wir!«, drängte der Barbareske.

Nun waren wir weit genug entfernt, um unsere todbringenden Verfolger zu betrachten. Es waren dieselben, die uns erst in der Grotte des Seeochsen gefangen und dann dazu gebracht hatten, Menschenfleisch zu essen, um uns schließlich mit Schüssen anzugreifen, bevor |698|wir in dem unterirdischen Gang verschwanden. Bei ihnen waren Gestalten, die wir noch nie gesehen hatten, fünf oder sechs seltsame, entstellte Gesichter. Machtlos sahen sie uns davonrudern und hantierten unter dem strömenden Regen hektisch mit ihren Waffen. Doch wir waren schon zu weit entfernt und kurz davor, hinter einer Reihe Klippen zu verschwinden. Die Kanone donnerte noch einmal wütend und hilflos, und wir sahen die Schützen in alle Richtungen davonlaufen. Mit ohrenbetäubendem Lärm fiel die Kugel auf die Wasserlinie, wo sie meterhohe Spritzer erzeugte. Fast hätte der Kanonenschütze ein Blutbad unter den Seinen angerichtet, die aus ihren Verstecken nun wütende Beschimpfungen und Protestgeschrei ertönen ließen. Die Szene war komisch, doch keinem von uns war zum Lachen zumute.

Du blicktest auf die Klippe, über die Schoppe verschwunden war, und der Korsar schien deine Gedanken zu lesen.

»Das ist seine Sache. Sie werden ihn für einen Verrückten halten, diesen dickköpfigen Deutschen. Jetzt legen wir uns in die Riemen, verflucht, und betet zum Gott der Nazarener, denn wenn alles gutgeht, sind wir in ein paar Stunden in Livorno.«

»In Livorno? Das schaffen wir nie, bis zum Festland zu rudern, seit fast zwei Tagen haben wir nichts gegessen, und ein schlechteres Wetter lässt sich kaum vorstellen«, wandtet du und dein falscher Barbello empört ein, obwohl ihr euch schon an den Rudern zu schaffen machtet.

»Ich weiß. Habt ihr andere Vorschläge?«, sagte der Korsar, derweil er sich in alle Richtungen umschaute, als könnte jeden Augenblick ein Wunder geschehen und ein Schiff auftauchen.

Das Mysterium der Zeit
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