»Ihr müsst wissen, Signor Secretarius«, fuhr er fort, »in Paris gibt es Dinge, die man erst versteht, wenn man lange dort lebt. Bleibt man der Stadt eine Weile fern, findet man manchmal schon nach wenigen Wochen bei der Rückkehr alles verändert vor. Genau das ist mir widerfahren, als ich vor vier Jahren nach Paris zurückgekehrt bin, nachdem ich zehn Jahren in Italien war.«
|507|Er verlangsamte seinen Schritt und fuhr fort, sich umzuschauen, obwohl sein Reden sicher jede Beute, die diesen Namen verdiente, von uns fernhalten würde.
»Nach dem Tod meines Freundes Bouchard, Gott sei seiner Seele gnädig«, sagte er, ein unbeholfenes Kreuzzeichen schlagend, »trat ich, wie Ihr wisst, zu meiner großen Freude in den Dienst Seiner Eminenz Kardinal Mazarins. Doch zurück in Paris, fand ich vieles verändert vor.«
Die Atmosphäre, berichtete Naudé, war beklemmend. Soeben war eine ernste Verschwörung der Spanier gegen die Krone entdeckt worden, und man hatte die französischen Komplizen erhängt. Einer von ihnen war ein großer Freund der Starken Geister: der berühmte De Thou, ein Staatsrat. Die Luft der Freiheit, die man noch vor wenigen Jahren geatmet hatte, war dahin, die Unbekümmertheit, mit der die Starken Geister in ihren Salons diskutieren konnten, war verschwunden, dies war keine Zeit mehr, in der alles möglich schien.
Angesichts der Gefahr eines Staatsstreiches toleriert die Regierung der Krone allzu freizügige Versammlungen nicht mehr. Im Salon der Du Puy erscheinen zusehends weniger Besucher. Pater Gaffarel, ein Freund der Deniaisez und ein berühmter Orientalist, sagt in seinen Predigten ein Wort zu viel und wird angeklagt, die offizielle Lehre zu beleidigen. Luillier, ebenfalls einer der Starken Geister und ein großer Liebhaber geistreicher, gelehrter Konversation, der mit dem soeben hingerichteten De Thou befreundet war, sieht dunkle Zeiten voraus.
Alle erinnern sich an das Wort von Peiresc, dem Meister der Meister, der ebenfalls vor kurzem gestorben ist: Vorsicht, Vorsicht, Vorsicht.
»Und auch meine Tetrade fand ich verändert vor«, berichtete Naudé. »Elia Diodati hatte beschlossen, auszuscheiden. Er hatte sich verändert, brachte uns nicht mehr, wie früher, interessante Nachrichten von seinen Kontakten in anderen Städten, half nicht mehr, ermunterte nicht mehr. Er wurde unschlüssig, finster, langweilig. Er war unser überdrüssig. Ich glaube nicht, dass er Angst hatte. Aber er erklärte nichts, sondern schloss sich durch sein Verhalten von selbst aus. Was wir dachten, war ihm egal, also war es ihm auch schon früher egal gewesen. Wir drei, der gute Gassendi, La Mothe und ich waren sprachlos. Hatte Elia sich also schon immer verstellt? Er hätte etwas mehr Ehrgefühl zeigen können!«
Nachdem Diodati aus dem Bund ausgeschieden war, suchte die Tetrade |508|nach einem Ersatz. Man fand ihn in Guy Patin, einem literaturbegeisterten Arzt, der behauptete, die alten wie die neuen Bigotten zu verachten. Aber er war kein guter Ersatz.
»Ihm fehlte Elias Talent, seine Gewandtheit, sein … wie soll ich sagen? Sein Geheimnis.«
Naudé hatte Zögern vorgetäuscht, um diesem Wort besonderes Gewicht zu verleihen.
»Ein Geheimnis?«, fragtest du.
»Ach, junger Atto Melani, es gibt Dinge, die Ihr, bei allem Respekt, erst eines späteren Tages erfahren werdet. Einstweilen müsst Ihr Euch mit meiner groben Rede begnügen«, sagte Gabriel Naudé, um sich dann doch mit einer so feinen Zunge zu erklären, dass man sie für die einer Schlange hätte halten können.
Elia Diodatis Herkunft war einerseits genau bekannt, andererseits höchst geheimnisvoll. Man wusste, dass er aus Lucca stammte, Italienisch war seine Muttersprache, Französisch benutzte er für Geschäfte, Deutsch für Studien. Das Triptychon der drei gelehrten Sprachen, Latein, Griechisch und Hebräisch, beherrschte er perfekt. Man wusste um seine reiche Familie, eine Kaufmannssippe, verwandt mit anderen, ebenso reichen italienischen Kaufleuten wie den Calandranini, den Burlamacchi, den Balbanin, den Turrettini und Mazarins Bankiers Cantarini und Cenami, außerdem niemand Geringerem als Michele Particelli, dem Generalinspekteur der französischen Finanzen und rechten Arm Mazarins. Alles Namen, die beim bloßen Aussprechen den Geschmack von Gold auf der Zunge hinterlassen.
Das erste Geheimnis war, dass sie allesamt Calvinisten waren. In Italien hatten die von Luther und Calvin reformierten Konfessionen kaum Fuß gefasst, doch in dem toskanischen Städtchen Lucca hatte das Unkraut der Ketzerei aus unerfindlichen Gründen feste Wurzeln geschlagen. Da es unmöglich war, mit dem weit mächtigeren nahen Kirchenstaat zusammenzuleben, und da sie Untertanen des ebenfalls katholischen Großherzogs der Toskana waren, hatten die Calvinisten aus Lucca ihr Glück schon immer außerhalb Italiens gesucht. So auch Elias Familie, die sich im erzcalvinistischen Genf niedergelassen hatte. Gerne gaben sie sich jüdische Namen: Abraham, Isaak, David, Rachel, Judith und Susanne (so hießen zwei Schwestern von Elia). Von Genf aus hatten sie ihre Zweige in alle Richtungen ausgestreckt: Die Diodatis waren Richter in Paris, Händler in London, Finanziers in |509|Amsterdam und Theologen in Antwerpen geworden. Ihr Netz erstreckte sich weit und konnte überall hingelangen. Jeder von ihnen hatte überall Freunde, Verwandte und Briefpartner, aus jeder Stadt konnten sie sich in kürzester Zeit Informationen beschaffen. Als Finanziers liehen sie dem König Geld, als Juristen kontrollierten sie die höchsten Staatsgeschäfte, als Prediger rüttelten sie die Gewissen auf und überwachten die Lehre (einer von ihnen hatte die berühmte Diodati-Bibel gedruckt, die am weitesten verbreitete in Europa). Sie machten Geschäfte unter Brüdern, sie verheirateten sich unter Cousins, sie schützten sich unter Onkeln und Neffen und vermehrten ihren Reichtum ausschließlich innerhalb der Familie. Dies war die calvinistische Internationale, stolz auf ihre Unabhängigkeit, erbarmungslos in ihren Methoden, um die Zukunft bangend.
Elias Wissensdurst war unauslöschlich. Während er Jura studierte, um Anwalt zu werden, korrespondierte er mit den Gelehrten aller Länder über alle Themen. Er interessierte sich für griechische und lateinische Philologie, sammelte Bücher über Reisen in exotische Länder, Orientalistik und jüdische Traditionen, er kannte die Diskussionen über den Blutkreislauf und die Augenbewegungen unter Anatomen und die unter Jesuiten über den Magnetismus, er war bewandert in Optik, Geographie, Ethologie und Mineralogie. Doch die Astronomie weckte das größte Interesse in ihm, und er begeisterte sich für die Chronologie.
Als die Religionskriege in Europa wüteten, hofften seine Verwandten, der Konflikt möge auf Italien und die verhasste römische Kirche übergreifen, um ihre Grundlagen zu erschüttern. Sie beteiligten sich an antikatholischen Operationen. Elia war schlauer und blieb Pazifist. Er predigte Toleranz, Freundschaft und Verständnis. Vielleicht hatte er begriffen, dass er der Sache am besten dienen konnte, wenn er über den Parteien stand und für die Gelehrtenrepublik arbeitete. So würde er unzählige Freunde haben und, wenn er aufpasste, keinen wirklichen Feind. Er fungierte als Verbindungsglied zwischen Gelehrten, als Botschafter zwischen Dozenten, Schriftstellern, Philologen und Astronomen. Dank des familiären Netzwerks aus Verwandtschaften und Freundschaften in ganz Europa war es ein Leichtes für ihn, Informationen zu erhalten, Kontakte herzustellen, Gastfreundschaft zu gewähren, Referenzen auszustellen. Er veröffentlichte keine eigenen Schriften, er war auf kein Fach spezialisiert. Er ließ die anderen schreiben: |510|ermutigte, beriet, finanzierte Ausgaben, sorgte für Übersetzungen. Er stammte aus einem eher bigotten Umfeld, zog aber die Gesellschaft von Skeptikern vor, wie seine Freunde von der Tetrade. Dank der Reichtümer seiner Familie musste er nicht arbeiten, Zeit und Energie besaß er im Überfluss.
»Elia glaubte an die Kraft der Bücher, und ihre Kraft war die seine. Er wusste, dass Ideen mit der Zeit sogar Steine aushöhlen und mehr Macht verleihen können als Waffengewalt«, sagte Naudé.
Darum rümpfte er die Nase, als die lokalen Machthaber der Schweizer Region Graubünden, seine Religionsbrüder, durch eklatanten Machtmissbrauch Aufstände und Unruhen provozierten. Er wollte, dass diese Gegend, ein strategischer Verkehrsweg zwischen Nord- und Südeuropa, friedlich blieb. Er hatte begriffen, dass der Schlüssel zur Zukunft nicht der Krieg, sondern die Kommunikation war. Seine Aufgabe war nicht das Handeln, er wollte es erleichtern.
»In Friedenszeiten dringt Propaganda unter dem Deckmantel der Wissenschaft tiefer in die Herzen. Wer Wissen verbreitet, scheint im Dienst der Menschen zu stehen, auch wenn er danach trachtet, sie sich nach und nach zu Sklaven zu machen«, sagte Mazarins Bibliothekar.
Zahllose bedeutende Geschäfte gingen heimlich durch Diodatis Hände und die seiner Kreise. Sie unterstützten den venezianischen Mönch Paolo Sarpi, der Schmähschriften gegen die katholische Kirche schrieb. Zwei Bücher von Sarpi wurden von Elia in Genf veröffentlicht, ein drittes erschien mit Hilfe eines Cousins in London.
»Was er auch anfing, konnte er zu Ende führen. Wenn er seine Fähigkeiten in den Dienst des Guten gestellt hätte, lebten wir heute im Paradies«, sagte Naudé mit einem halb seraphischen, halb bitteren Lächeln.
Naudés Verachtung für Diodati brachte ihn dazu, uns die Wahrheit über ihn zu berichten, nicht ohne Zögern freilich, wegen des einst geteilten Credos der Deniaisez und der gemeinsamen Zugehörigkeit zur berühmten Tetrade. Er schien erleichtert, ungehindert, ohne die gewohnte Vorsicht sprechen zu können. Offenbar hatte er keine Bedenken, uns derlei Geständnisse zu machen: Schließlich hatte er nicht Seinesgleichen, sondern nur einen blutjungen Kastraten und einen schlichten Secretarius vor sich.
»Gutes hat er vor allem für einen bewirkt«, schloss Naudé, »für Galileo.«