»Dann hat Schoppe also recht?«, fragte ich. »Er sagt, Scaliger sei ein Betrüger, habe ganze Epochen erfunden …«
»Alle wissen, dass die beiden Erzfeinde waren. Ich weiß nicht, welche Karten Schoppe in der Hand hat, um zu beweisen, dass Scaliger ein Betrüger war, ich kenne vor allem eine Seite seiner Arbeit, nämlich seine Methode, und die weckt starke Zweifel in mir. Seine Vermutungen passen gut in seine Chronologie, das bestreite ich nicht, aber das bedeutet noch nicht, dass sie richtig sind«, sagte Hardouin. »Scaliger berücksichtigte nicht, dass man ebenso gut andere Vermutungen hätte aufstellen können, die sich ebenso gut eigneten, die Lücken |479|seiner Chronologie zu füllen. Eine Unaufmerksamkeit, die man einem Romanschreiber, nicht aber einem Historiker verzeihen kann! Scaliger beging also den gleichen Fehler wie Galileo, der eine Theorie für wahr hielt, nur weil sie mit experimentellen Beobachtungen übereinstimmte, der aber die Möglichkeit außer Acht ließ, dass es andere, ebenso triftige Theorien geben könnte, die nur noch nicht entdeckt waren.«
»Dann glaubt Ihr also wirklich, wie der Barberini-Papst, Galileos Gegner, dass eine Theorie nicht schon bewiesen ist, wenn sie mit mathematischen Berechnungen und mit dem, was man sieht, übereinstimmt? Ist es nicht übertrieben, sie in Zweifel zu ziehen, nur weil der Verdacht besteht, dieselben Wirkungen könnten auf anderen, noch unbekannten Wegen erzeugt werden? Wenn das wirklich so wäre, dürfte keine Theorie als richtig gelten, und die Welt wäre unerkennbar!«
»Glaubt Ihr denn, die Welt sei erkennbar?«, fragte er zurück.
»Nun, eigentlich …«, zögerte ich überrumpelt.
»Ein Mathematiker würde sagen, die Formel, die beweist, dass die Welt erkennbar ist, sei noch nicht entdeckt.«
»Aber ohne Wissen kann man nicht überleben!«, protestierte ich.
»Achtung, Ihr dürft Wissen nicht mit Beherrschung verwechseln.«
»Was meint Ihr damit?«
»Signor Secretarius, ich will mich nicht als Philosoph aufspielen. Aber mit der Zeit habe ich aus vielen Lektüren ein paar Ideen entwickelt, und ich freue mich, sie mit Euch teilen zu können. Nun: der Mensch kann aufgrund seiner Ausstattung die Welt, die ihn umgibt und ihre scheinbaren – ich betone: scheinbaren! – Gesetze beherrschen oder sie wenigstens zum Überleben nutzen. Aber nichts zeigt uns unfehlbar an, dass er das wahre Sein der Dinge wirklich erkennen kann. Vor allem beweist nichts, dass ein solches Wissen unverzichtbar wäre für das menschliche Leben, ja nicht einmal für die erhabensten Geister. Nikolaus Cusanus sagte schon vor zweihundert Jahren in seinem De docta ignorantia, dass eine endliche Intelligenz niemals vollkommen exakte Wahrheiten erkennen kann.«
Er sprach sanft, aber sehr entschlossen, als hätte er lange über diese Schlussfolgerungen nachgedacht.
»Ich gebe Euch ein Beispiel. Das Wesen des Kreises ist etwas Unsichtbares, und was kein Kreis ist, kann diesem Etwas nicht angeglichen |480|werden. Mit Lineal und Zirkel können wir rundliche Vielecke mit unendlich vielen Seiten zeichnen, die einem Kreis immer ähnlicher sehen. Doch keine Figur kann dem Kreis gleichen, wenn sie nicht selbst ein Kreis ist.«
Er blieb stehen, suchte eine vom Mondlicht ausreichend beleuchtete Stelle und zeichnete mit einem Zweig Kreise auf den Boden:

»Seht Ihr, mein Freund? Dasselbe geschieht bei der Wahrheit: Unser Verstand ist nämlich nicht die Wahrheit. Er wird die Wahrheit nie so genau erfassen, dass er sie später nicht noch genauer erfassen könnte und unendlich so weiter.«
Die Wahrheit sei unserem Verstand also in gewisser Weise entgegengesetzt, fuhr Hardouin fort. Sie lässt weder ein Weniger noch ein Mehr zu, und im Gegensatz dazu sei unsere Intelligenz für neue Entwicklungen und Vertiefungen immer empfänglich. Darum wissen wir nichts von dem, was wahr ist, außer, dass wir es nicht verstehen können.
»Welche Folgerung müssen wir daraus ziehen?«, sagte der bretonische Buchhändler. »Dass das Wesen der Dinge, die wahre Natur des Seins von uns nicht erfasst werden kann. Alle Philosophen haben nach diesem Wesen gesucht, keiner hat es gefunden. Je gelehrter wir in diesem Nichtwissen werden, desto näher kommen wir der Wahrheit. Der Mensch wird also umso weiser sein, je mehr er sich als unwissend erkennt.«
»Aber das Wissen ist wichtig!«, wandte ich ein. »Würde man den menschlichen Körper nicht kennen, könnte man ihn nicht heilen, um nur ein Beispiel zu nennen!«
»Mein Freund, man kennt die scheinbaren Gesetze des menschlichen Körpers, aber es gibt keinen absoluten Beweis, dass sie auch sein wirkliches Wesen sind. Wieder verwechselt Ihr das wahre Sein der Dinge und die einfache Übereinstimmung sichtbarer Phänomene mit einer Theorie, Signor Secretarius. Ganz zu schweigen von all den Theorien, die für unumstößlich gehalten wurden und sich im Lauf der |481|Zeit als irrig herausgestellt haben! Wie viele Menschen wurden von Ärzten und Chirurgen aufgrund falscher Theorien umgebracht!«
Ich senkte die Augen im Bemühen, ein Beispiel zu finden, dass meine Argumente stützen konnte. Aber ich fand keines.
»Eigentlich wollte ich Euch nur davor warnen, den Standpunkt Urbans VIII. zu belächeln, wie Galileo es tat«, kam mein Gesprächspartner mir großzügig zu Hilfe. »Was Ihr billige Theologie für alte Marktweiber genannt habt, sind Prinzipien, die nicht auf irgendeinen Heiligen aus frühchristlicher Zeit, sondern auf die großen Philosophen des alten Griechenland zurückgehen.«
»Haltet den Mund, verflucht! Und bleibt stehen!«
Kemal befahl uns, innezuhalten. Wir hatten ein gutes Stück des Waldes durchquert, ohne auf Hindernisse oder Gefahren zu stoßen, doch jetzt kam dem Barbaresken etwas verdächtig vor.
Wir blickten einander an und senkten unwillkürlich die Fackeln. Einige Minuten warteten wir schweigend, bis Kemals angespannte Züge sich in einem Lächeln lösten.
Hinter einem Bäumchen war ein großer, krähenähnlicher Vogel mit einem kleinen Reptil im Schnabel aufgetaucht.
»Ich dachte, jemand würde uns verfolgen. Ich werde wohl alt«, bemerkte der Korsar. »Redet weiter, aber verausgabt euch nicht zu sehr. Ihr werdet all eure Kräfte für das Boot brauchen.«