»Seht Euch das an!«
Ich rieb mir die Augen im Halbdunkel, das die Kerze in der Hand des Buchhändlers nur schwach erleuchtete. Mit der anderen Hand |524|reichte Hardouin mir einen Fetzen Papier. Es war ein Brief von Guyetus, in Großbuchstaben geschrieben:
DIE NIEDERLAGE IST TOTAL UND ENDGÜLTIG. ALL UNSERE BEMÜHUNGEN SIND VERGEBENS.
ZWECKLOS AUF DIESEM WEG WEITERZUGEHEN. ICH SCHLAGE EINEN ANDEREN EIN, FÜR IMMER. NUR MEINE EHRE SOLL UNANGETASTET BLEIBEN.
ICH VERGEBE ALLEN, FREUNDEN UND FEINDEN. GUYETUS DIESER UNFLÄTIGE JESUIT PETAVIUS
HATTE RECHT, ZU HAUSE ZU BLEIBEN.
Dieses Mal war es nicht das (sozusagen) übliche Fragment des Petronius oder ein weiteres Bekenntnis von Bouchard. Dies war eindeutig die Ankündigung eines Selbstmordes. Das verhexte Schloss des Zauberers Atlante hatte über Guyetus Seele obsiegt.
»Ich habe den Zettel neben mir gefunden«, sagte Hardouin, »und bin sofort zu seinem Lager gelaufen, doch es war leer.«
»Und dann?«, fragte ich.
»Er ist verschwunden!«, rief Hardouin aus und ging, Kemal und Malagigi aus dem Schlaf zu rütteln.
Der Abschiedsbrief gab nicht viel Anlass zur Hoffnung. Während die Sonne am Horizont aufstieg, wurde eine gründliche Suche in und außerhalb unseres Refugiums organisiert. Doch von Guyetus fand sich keine Spur. Die Gesellschaft stürzte in die schwärzeste Verzweiflung. Keine Frage: Der auf diesen wenigen Zeilen angekündigte Selbstmord musste sich im Dunkel der Nacht ereignet haben. Die Klippen von Gorgona boten unendlich viele Möglichkeiten.
Wir fanden uns alle in dem Raum wieder, in dem ich geschlafen hatte, und so konnte ich die Ankündigung machen:
»Signori, es gibt etwas, was ich Euch jetzt, wie ich meine, kundgeben darf.« Alle blickten mich fragend an. Ich spürte, dass mein Gewissen mir diesen Schritt erlaubte und fuhr fort.
»Vor wenigen Stunden, mitten in der Nacht, hat der arme Guyetus mir ein Geständnis gemacht. Im Lichte dessen, was geschehen ist, glaube ich von der Pflicht zur Geheimhaltung entbunden zu sein und euch die letzten Worte mitteilen zu dürfen, die ich mit ihm gewechselt habe.«
|525|In der vergangenen Nacht sei ich wie immer von Schlaflosigkeit gepeinigt worden, erzählte ich. Plötzlich hörte ich ein Geräusch, setzte mich auf und überraschte eine im Dunkeln umherirrende Gestalt.
»Er sagte, er könne nicht schlafen, zu viele Gedanken gingen ihm im Kopf herum, und der Aufruhr seines Gewissens beruhige sich nicht. Als wir noch in der Torre Vecchia waren, habe er ein paar Seiten aus der Handschrift der drei Bärtigen entwendet.«
Während wir die Papiere zurück in die Tasche der drei wunderlichen Landmänner steckten, hatte Guyetus heimlich einige Seiten behalten. Es war ein Auszug aus dem Tagebuch Bouchards.
»Unerhört!«, bemerkte Schoppe.
»Und ich hielt ihn für einen Ehrenmann …«, tönte Naudé. »Ich kann es kaum glauben«, sagte Hardouin traurig.
»Hat er es bereut?«, fragte Malagigi.
»Nein, darum ging es nicht, wie Ihr selbst sehen könnt«, sagte ich, während ich einige Papiere unter meinem Lager hervorzog und sie Hardouin reichte. »Ich habe versucht, ihn zu überzeugen, das gestohlene Gut zurückzugeben, und er hat nicht widersprochen, es schien sogar, als brenne ihm das Zeug in den Händen.«
Hardouin las laut aus dem Tagebuch vor:
hat zunächst Nοδέ nach seiner Meinung zu
Synkellos gefragt, der ihn wegen des Glaubens und der Bigotterie
beruhigt hat.
hat ihm keine Ruhe gelassen: Wenn die Schwachen Geister sich der
Bigotterie und Leichtgläubigkeit schuldig machen, warum sollten wir
uns mit derselben Schuld beflecken, nur weil wir alte, verehrte
Namen der Antike vor uns haben? Seine Exzellenz sucht ihn, aber
lässt sich zu
Recht verleugnen. Nimmt man nur einen Stein aus dem Haus heraus,
stürzt es ein.
Nοδέ will etwas über die Fortschritte bei Synkellos wissen. Aus Paris haben Δυπυί und Γυιέτυϛ geschrieben. Cave gallum. Sind eher eigennützig als anteilnehmend. Ich habe die Situation erklärt. Wenn das Problem der Chronologie nicht gelöst wird, kann man gar nichts machen.
Poggio Bracciolini: Petronius, Tacitus, Silius Italicus, Manilius, Lukrez, Cicero. Alles Gotteslästerungen.
Titel und Figuren in den platonischen Dialogen.
Chiffre der Namen.
|526|»Seht nur«, sagte Hardouin nach beendeter Lektüre. »Weiter unten gibt es einen Zusatz. Er scheint mit großer Mühe geschrieben.«

Es folgte ein kurzes Schweigen. Nie werde ich die erschreckten Gesichter des Grüppchens vergessen.
Nοδέ, Γυιέτυϛ: Hardouin hatte diese griechischen Namen korrekt ausgesprochen, und wir alle hatten gehört, dass es sich um Naudé und Guyetus handelte.
»Bevor er mich verließ und zurück in sein Bett ging«, fügte ich hinzu, »sagte Guyetus noch etwas. Er schien große Qualen zu leiden, so habt auch Ihr ihn zuletzt gesehen. Lieber Secretarius, sagte er, ich schwöre vor Euch, dass ich nichts mit dem Tod von Bouchard zu tun habe. Andere, deren Hände blutbefleckt sind, werden versuchen, mich zu widerlegen. Ich kann meine Ehre nur mit den Fakten verteidigen, aber ich vergebe ihnen für das, was sie getan haben oder tun werden.«
Wieder senkte sich Stille über die Gruppe.
»Manilius …«, wiederholte Naudé mit tonloser Stimme und abwesendem Blick den Namen des lateinischen Dichters aus der Notiz von Bouchard. »Manilius hat die Astronomica geschrieben, das Poem über die Bewegung der Himmelskörper, das Scaligers Interesse an der Chronologie geweckt hat. Niemand anderes als Scaliger hat die erste moderne Ausgabe …«
Es wirkte wie ein Versuch, das Thema zu wechseln und von Bouchards Tod abzulenken, doch niemand sekundierte ihm.
Hardouin musterte Naudé vorsichtig, Schoppe warf Blicke um sich, die Herausforderung, Missbilligung und Verachtung signalisierten.
»Ich weiß nichts über den Tod von Bouchard, außer, dass ich als einfacher Zuschauer und Freund sein trauriger Zeuge war«, verteidigte sich Naudé mit bewegter Miene, senkte aber die Augen unter Schoppes forschendem Blick. »Guyetus und ich sind natürlich nicht die Einzigen, die Bouchard gekannt haben, auch der hier anwesende Malagigi kannte ihn.«
Alle Blicke richteten sich auf Pasqualini.
»Und es scheint mir ein sonderbarer Zufall zu sein«, fügte der Pariser Bibliothekar hinzu, »dass Malagigi bei beiden Funden in der Torre Vecchia anwesend war, und dass im zweiten Fall eine Schrift von |527|Bouchard zum Vorschein kam. Ein sehr merkwürdiger Zufall, wirklich.«
»Sprecht Ihr von Jean-Jacques Bouchard? Ja … ich habe ihn mehrmals im Palazzo Barberini getroffen«, stammelte Pasqualini verwirrt. »Der Grund ist einleuchtend: Wir arbeiteten für denselben Herrn, den Kardinal Barberini! Ich erinnere mich gut, dass Bouchard nach mehreren Monaten wegen des Überfalls auf dem Petersplatz in Rom, wo er blutig geschlagen wurde, starb. Es hieß, der Auftraggeber sei der Botschafter von Frankreich persönlich gewesen. Mich dünkt sogar, dass der Botschafter selbst sich dessen rühmte. Aber ich schwöre bei allen Göttern, dass ich nicht mehr weiß!«
Die Zuhörerschaft fixierte Malagigi stumm.
»Meine Güte!«, schnaubte dieser, zum ersten Mal ohne seine unerschütterliche gute Laune. »Ich habe für Kardinal Barberini gearbeitet wie Bouchard. Na und? Die Barberini waren die Familie von Papst Urban VIII., Hunderte arbeiteten für sie. Wenn wir jetzt über Zufälle spekulieren wollen, werden wir uns schließlich alle gegenseitig verdächtigen, ohne zu einem Ergebnis zu kommen, das garantiere ich Euch.«
»Doch dieser seltsame Fund der beiden Papiere …«, beharrte Naudé mit einem misstrauischen Blick auf Pasqualini.
»Wenn ich noch eines finde, zerreiße ich es, versprochen!«
»Wir wollen doch nicht übertreiben«, beeilte sich der Verehrungswürdige einzuwerfen, den schon der Gedanke an diese Absicht Malagigis beunruhigte. »Aber Ihr werdet verstehen, es ist wirklich sonderbar, dass wir auf dieser Insel Notizen eines armen Ermordeten finden, den nicht weniger als drei von uns gekannt haben …«
»Verflixt, wollen wir wirklich nur noch Unsinn reden?« Malagigi verlor die Geduld. »Nun, dann sage ich Euch, dass auch unser junger Melani hier etwas mit Bouchard zu tun haben könnte, denn der Secretarius von Kardinal Barberini stammte aus Pistoia wie Atto, ja er hieß sogar Francesco Bracciolini, derselbe Nachname wie Poggio also, und er kannte Bouchard bestimmt, denn er schrieb eine Totenklage, als der Arme starb. Na, was sagt ihr dazu? Wollen wir auch Atto verdächtigen, obwohl er erst fünfzehn Jahre alt war, als Bouchard umgebracht wurde? Scheint Euch das logisch? Du hast den Secretarius des Kardinals gekannt, nicht wahr, Atto?«
»Natürlich … wir waren in Rom Gäste der Barberini, als ich Gesangsunterricht |528|erhielt, aber daran ist doch nichts Böses … oder, Signor Secretarius?«, fragtest du, erschrocken wie ein schutzsuchendes Kind auf mich zukommend, der ich etwas abseits von der Gruppe an einer Wand lehnte.
Ich legte dir eine Hand auf die Schulter und sprach ein paar beruhigende Sätze, während der Rest der Gruppe fortfuhr, sich gegenseitig mit mehr oder weniger höflichen Invektiven zu überschütten.
Darüber vergingen einige Minuten, während derer unsere Gefährten zunehmend lebhaft diskutierten und du mir kaum mehr zuhörtest.
»Das reicht jetzt, Signori!«
Das Auditorium verstummte. Du hattest gesprochen und kehrtest mit diesen Worten in die Mitte der Gruppe zurück.
»Nun gut, ich gestehe alles.«
»Was willst du gestehen?«, fragte Schoppe misstrauisch.
»Es ist zwecklos, noch länger zu verschweigen, dass mein Landsmann aus Pistoia, Francesco Bracciolini, der vortreffliche Dichter und Secretarius von Kardinal Barberini, tatsächlich der direkte Nachfahre von Poggio Bracciolini war und dessen kostbare, unveröffentlichte Handschriften geerbt hat, darunter auch das Satyricon von Petronius. Da er nicht wusste, was er damit anfangen sollte, hat er sie Bouchard geschenkt, der sie ihm jedoch zurückgab, bevor er starb, und ihm außerdem auch seine Aufzeichnungen hinterließ, die Francesco Bracciolini vor seinem Tod wiederum Philos Ptetès weitergab, den er irgendwo kennengelernt hatte. Darum finden wir auf dieser Insel, wo unser geheimnisvoller Mönch vor zwei Jahren weilte, hier und da von beidem etwas, sowohl von den Papieren Poggios als auch denen Bouchards. Seid Ihr jetzt zufrieden, Signori? Ich bin nur traurig, dass mir nichts Glaubwürdigeres einfällt, um zu begründen, dass auch ich etwas mit Bouchards Tod zu haben könnte, obwohl ich damals erst fünfzehn war und weit weg von Rom singen musste, nämlich die Finta Pazza im Teatro Novissimo von Venedig, aber ich kann Euch garantieren, dass die unumstößliche Tatsache, dass Poggio mit vollem Namen Giovanni Francesco Poggio Bracciolini hieß, also fast genauso wie der Secretarius von Kardinal Barbarini, der Francesco hieß, sicher eine geheime Bedeutung hat, ebenso wie die Tatsache, dass beide mit 79 Jahren starben.«
|529|Nach einem Augenblick allgemeiner Verblüffung über deine elegante, in einem Atemzug ohne jede Pause gehaltene Rede ergriff Naudé das Wort:
»Das war uns eine Lehre, junger Atto«, gab er lächelnd zu.
Während der Rest des Auditoriums leise kicherte, sprach der Bibliothekar weiter:
»Wirklich eine schöne Geschichte, nur schade, dass Poggio ursprünglich gar nicht Bracciolini hieß. Sein richtiger Nachname war Poggio und sein Name Giovanni Francesco, wie unser scharfsinniger Atto sagt. Außerdem gibt es keine Nachfahren von Poggio Bracciolini. Sein Sohn Jacopo, ebenfalls Literat, Übersetzer und Humanist, nahm an der berühmten Verschwörung der Pazzi in Florenz teil, bei der Giuliano de’ Medici ermordet wurde, der Bruder von Lorenzo il Magnifico, und wurde darum von diesem in jungen Jahren hingerichtet, ohne dass er Kinder hinterlassen konnte.«
»Beide starben mit 79?«, sagte Schoppe bestürzt. »Der gute Francesco Bracciolini ist tot?«
»Seht Ihr? Also kanntet Ihr ihn auch!«, rief Malagigi. »Ich hatte recht: Wenn wir so weitermachen, entdecken wir sicherlich, dass jeder von uns auf irgendeine Weise in dieser Geschichte steckt. Auf jeden Fall tut es mir leid, dass Ihr die traurige Kunde seines Todes in so abrupter Weise erfahren müsst, ich wusste ja nicht, dass Ihr ihn kanntet. Francesco Bracciolini verließ Rom gleich nach dem Tod des Barberini-Papstes, vor etwa zwei Jahren. Er kehrte alt und krank nach Pistoia zurück. Vor etwa einem Jahr ist er gestorben.«
»Bracciolini war ein großer Poet, ja, seine Gedichte konnten sogar sehr komisch sein«, erklärte Schoppe und bekreuzigte sich. »Wir schrieben uns vor einigen Jahren, ich hatte ihn gebeten, mir ein Buch von sich zu schicken, und Bracciolini war sehr freundlich. Aber von Bouchards Tod weiß ich natürlich gar nichts!«, schloss er eilig.
»Wenn weder Pasqualini noch der junge Atto und auch du nicht, lieber Caspar, wenn ihr alle nichts mit Bouchards Tod zu habt, dann sehe ich nicht, wieso ausgerechnet ich mehr darüber wissen müsste. Guyetus dagegen …«
»Guyetus ist nicht hier, um sich zu rechtfertigen«, mahnte Hardouin.
»Ja, aber sein Verschwinden scheint mir ein ziemlich deutlicher Hinweis zu sein.«
|530|»Auf jeden Fall ist jetzt klar, dass die Erbschaft von Poggio Bracciolini, die in den Händen des slawonischen Mönchs gelandet ist, mit diesen Aufzeichnungen von Bouchard in engem Zusammenhang steht. Wie und warum, müssen wir allerdings noch herausfinden«, sagte Hardouin.
»Philos Ptetès hat beides, das ist offenkundig«, schloss Schoppe.
Naudé schwieg. Er bebte bei dem Gedanken, dass er der Einzige war, der Philos Ptetès kennengelernt hatte, und konnte den Zeitpunkt des vereinbarten Treffens kaum erwarten.
Aber es gab noch mehr, über das ich jetzt nachdenken musste. Naudé wusste genau, dass es außer Malagigi noch jemanden gab, der den unglücklichen Bouchard gekannt hatte: mich. Ich hatte es ihm erzählt, als wir nach dem Brand der Galeere im Rettungsboot saßen. Warum zeigte Mazarins Bibliothekar vor den anderen nicht auch auf mich? Er würde es wohl kaum vergessen haben, da er sich doch noch so gut an Malagigis Bekanntschaft mit Bouchard erinnerte, von der er vor Jahren erfahren hatte, zur Zeit seines römischen Aufenthalts im Dienst des Kardinal Di Bagni.
»Diese Aufzeichnungen scheinen aus Bouchards philologischen Forschungen zu stammen, von denen sich nach seinem Tod keine Spur mehr fand«, überlegte Hardouin. »Den Satz ›Mein Tod soll auf sie zurückfallen‹ muss er nach dem Überfall hinzugesetzt haben, das sieht man an der zögerlichen, zittrigen Handschrift. Ich frage mich, auf wen er sich bezieht.«
»Ganz andere Aufzeichnungen kamen nach seinem Tod ans Licht …«, warf Schoppe ein. Er bezog sich auf das Tagebuch voller Unflat, das der Commendatore Cassiano dal Pozzo im Nachlass Bouchards gefunden hatte.
Die Bemerkung des alten Deutschen wurde mit Schweigen quittiert. Allen tönte noch der Satz in den Ohren, den Hardouin eben wiederholt hatte: »Mein Tod soll auf sie zurückfallen.« Ein furchtbarer Satz, mit den wenigen Kräften, die Bouchard nach dem Attentat geblieben waren, unter jene vor dem Unglück verfassten Notizen gesetzt.
»Ich kann sagen«, hub Naudé an, »dass diese Worte Bouchards aus einem vom Leiden zerrütteten Geist stammen, aber gerechtfertigt sind. Bouchard hatte Charlier angezeigt, einen Diener des französischen Botschafters in Rom, er klagte ihn an, im Auftrag seines Herrn gehandelt zu haben. Unter dem Vorwand wichtiger Aufträge für die |531|d’Estrées hatte Charlier sich nach Frankreich geflüchtet, wo Sondergesetze des Allerchristlichsten Königs die Auslieferung von Mitarbeitern französischer Botschafter verboten. Das Ermittlungsverfahren gegen Charlier war geschlossen und sine die verschoben worden, also im Grund versandet. Natürlich vermochte niemand von uns etwas für oder gegen ein solch tragisches Schicksal, also gilt diese Art Fluch nicht uns.«
Der Name von Gabriel Naudé tauchte in Bouchards Notizen im Zusammenhang mit einer unklaren Diskussion über Glauben und Bigotterie auf. Was hatte sie mit der antiken Geschichte zu tun? Außerdem wurde der Historiker Synkellos genannt, mit dem der arme Bouchard sich beschäftigt hatte, bevor er dem Attentat zum Opfer fiel.
Und es gab eine Anspielung auf Seine Exzellenz, offenbar Kardinal Barberini, den Arbeitgeber Bouchards.
Hinter griechischen Buchstaben versteckt erschienen sodann die Namen der berühmten Gebrüder Du Puy, in deren Haus viele Pariser Deniaisez zusammenkamen, auch Naudés Tetrade. Dann folgte ein lateinisches Motto, cave gallum, also »Achtung vor dem Franzosen«, fast ein ironischer Kommentar dazu, dass keiner seiner Landsleute dem Sterbenden wohlgesonnen schien. Dann eine Reihe von Namen lateinischer Autoren, einschließlich unseres Petronius und des großen Poggio Bracciolini. Ein Hinweis auf Titel und Figuren der platonischen Dialoge ging unter in dem, was folgte, nämlich dem scheinbar sinnlosen Ausdruck »Chiffre der Namen«, der schon im ersten Fundstück aus den Papieren Bouchards erschienen war, und dem abschließenden, alles überwiegenden Fluch »Mein Tod soll auf sie zurückfallen«.
»Natürlich habt Ihr alle nichts damit zu tun«, stellte Schoppe in sachlichem Ton fest, wobei er die Verlegenheit einiger unserer Gefährten vermutlich in vollen Zügen genoss. »Im Übrigen«, fügte er boshaft hinzu, »hat niemand gewagt, einen solchen Verdacht auszusprechen, und jede excusatio non petitia, jede unverlangte Rechtfertigung ist überflüssig, also schädlich, meint Ihr nicht, liebe Freunde? Es ist nämlich sattsam bekannt, dass d’Estrées der Totschläger war, der französische Botschafter in Rom, also ist die Sache keiner Erwähnung wert.«
»Entschuldigt, aber man weiß doch, dass wir Gelehrten alle miteinander in Kontakt stehen, was ist daran so verwunderlich? Unsere kleine Welt heißt nicht umsonst die Gelehrtenrepublik, nicht wahr?« |532|Naudé trug ein krampfhaftes Lächeln zur Schau, das ihn schuldig erscheinen ließ, vielleicht aber auch nur sein Entsetzen darüber verbergen sollte, sich in den beunruhigenden Notizen eines vor wenigen Jahren ermordeten Kollegen erwähnt zu sehen.
»Es will mir sogar als ein bizarrer Zufall erscheinen«, beharrte Naudé, »dass wir in der Tasche der drei Bärtigen Papiere gefunden haben, in denen unsere Namen vorkommen. Es sieht fast so aus, als hätten die drei uns verfolgt und ausspioniert, um sich uns zu einem bestimmten Zeitpunkt vorzustellen.«
»Wenn Philos Ptetès sich wirklich unter den dreien verbirgt«, rief Schoppe fast begeistert aus, »dann ist gerade unser scheinbarer Zufallsfund ein gutes Zeichen dafür, dass Philos Ptetès vorhat, uns Poggios Erbe zu übergeben.«
»Oder es nur einem von uns zu überlassen«, korrigierte ihn Naudé, dessen Stimme vor Gier bebte, weil er an sein kurz bevorstehendes Treffen mit Philos Ptetès in Fleisch und Blut dachte.
Mit einem kaum wahrnehmbaren hochmütigen Lächeln musterte der Verehrungwürdige Pasqualini und Naudé: Er war der Einzige, der keine kompromittierende Verbindung zu Bouchard hatte.
»Mach dir keine falschen Hoffnungen. Du hast den Brief des Mönchs ja nicht einmal bekommen«, beschied ihm Schoppe, der von den heimlichen Hoffnungen des Bibliothekars nichts ahnen konnte.
»Ich halte es nicht länger aus, ich gehe«, rief Malagigi.
»Wohin?«, fragten wir alle.
»Ich gehe Guyetus suchen. Oder seine Leiche«, antwortete er düster und ging zur Tür.
»Ich komme mit«, eilte dein falscher Barbello ihm zu Hilfe und warf dir einen Blick zu, damit du ihm folgtest.
»Signorino Atto bleibt hier«, schaltete ich mich ein, ohne darauf zu achten, wie gerne du der verkleideten Frau gefolgt wärst.
»Ich gehe mit den beiden, man weiß nie«, sagte Kemal mit einem verständnisinnigen Blick auf mich und ging ebenfalls hinaus, bevor jemand Einwände erheben konnte.
Wir blieben zu fünft zurück: du, ich und die ohne Guyetus nur mehr drei Gelehrten.