DISKURS XCIII
Darin zum letzten Mal von der Tetrade und ihren geheimen Praktiken gesprochen wird und Naudé seine Jugendsünden beichtet.
Um Eindruck auf dich zu machen, belehrte Naudé dich über seine brillante Pariser Vergangenheit. Du fragtest ihn nach den gebildeten Kreisen, in denen er verkehrt hatte, den Versammlungen im Hause der Du Puy und schließlich nach den lustigen Trinkgelagen mit seinen Freunden aus jenem so vielbeachteten Grüppchen, der Tetrade.
Die Frage schien ihn zu überraschen.
»Die Tetrade! Was die Jugend heutzutage alles weiß oder zu wissen glaubt … Nun, weißt du überhaupt, was eine Tetrade ist?«, fragte er in selbstgefälligem Ton.
»Nein, Monsire Naudé.«
»Sie heißt auch Quaternion und gehörte als Zahl zur Heiligen Lehre des Pythagoras. Weißt du wenigstens, wer Pythagoras war?«
»Ein großer griechischer Mathematiker, Monsire Naudé, ein Weiser, der aus den Zahlen eine Philosophie, ja fast eine Religion gemacht hat«, antwortetest du mit löblicher Geduld.
»Sehr gut. Aber es war einer aus unserer Tetrade, Diodati, der uns alles erklärt und verraten hat, welche Formel wir aussprechen müssen.«
»Eine Formel?«
|611|Nach einem weiteren kräftigen Schluck erklärte Naudé, dass Elia Diodati das Quartett der Tetrade dazu gebracht hatte, eine Art Pakt zu schließen. »Wenn wir auf diese Zahl schwören, werden wir wie Pythagoras sein.« Gegenstand des Schwurs war die Tetrade selbst: jene Zahl, die andere Zahlen enthält. Es war die Vier, aber auch die Zehn, oder vielmehr ihre innere Summe: 1 + 2 + 3 + 4 = 10. Klarer wurde es, wenn man sich die Sache mit Hilfe von übereinandergelegten Punkten vorstellte.
Der Fußboden des Eingangs zu diesem Haus, über den schon wer weiß wie oft Diebe oder Neugierige geschlichen waren, war mit Erde und Sand bedeckt. Naudé nahm ein paar Steinchen und verteilte sie in dieser Anordnung auf dem Boden:

»Siehst du, Junge? Dieses Dreieck kann auch wie eine Festung gesehen werden. Jede der drei Seiten wird von vier Pfeilern geschützt, das sind die vier Mitglieder der Gruppe. Aber unendlich viel mehr geheime Kombinationen sind möglich, wenn man die inneren Punkte verbindet.«
Er pflückte kleine Zweige trockener Kräuter von seinen noch immer schlammverschmierten Schuhen und legte sie zwischen zwei Steine, sodass eine geometrische Figur entstand. Die schwächeren Linien im Inneren zeichnete er mit dem Finger in den Staub:

|612|Bei den Antiken hieß die Tetrade »Die Heiligen Vier«, fügte er hinzu. Auf sie schworen alle Pythagoreer ihre rituellen Eide (eigenartig, dass der skeptische Naudé diese Dinge so genau wusste).
»Sie ist Einheit oder Das Eine, die Vier, welche die Zehn enthält, oder auch die Tetrade, welche die Dekade enthält, die Zahl der Vollkommenheit. Außerdem bedeutet sie die ursprüngliche Triade, also das Dreieck, das ihr Form verleiht, welches seinerseits in die göttliche Monade eingebettet ist, die von dem Punkt in seiner Mitte symbolisiert wird.«
»Diese Reden, die Ihr da führt, scheinen auf magische Praktiken hinzuweisen«, bemerktest du.
»Halt!«, kreischte Naudé mit dem brüchigen Timbre der Betrunkenen, »ich habe ein ganzes Buch geschrieben, um berühmte Persönlichkeiten zu entlasten, die magischer Praktiken bezichtigt wurden, und mir selbst lasse ich dergleichen Anschuldigungen nicht so leicht anhängen. Die schlimmste, weil lächerlichste Sünde ist es, sich esoterischen Sekten anzuvertrauen, den Lügen von Scharlatanen, den Träumen der Alchimisten und den Rätseln der Magier und Kabbalisten zu glauben!«
»Aber warum habt Ihr Euch dann bei Euren Treffen mit den pythagoreischen Zahlen beschäftigt?«
»Bei unseren Treffen? Mein lieber Junge, das ist auch so etwas, was keiner verstanden hat. In Paris und woanders wurde so viel über uns von der Tetrade geschwätzt, dass alle die Wirklichkeit aus den Augen verloren haben. Die Leute lasen die Bücher von Orasius Tuberus, unserem La Mothe Le Vayer, in denen von unseren Gesprächen erzählt wurde, aber mehr wussten sie nicht. Diodati, ich, La Mothe Le Vayer und Gassendi haben keine regelmäßigen Zusammenkünfte abgehalten, es gab nur eine einzige Versammlung. Danach haben wir uns nie mehr zusammen an einen Tisch gesetzt. Die einzige Sitzung war die des Schwurs. Alle glaubten, wir wären ein fester Kreis. Stattdessen gab es zwischen uns nur einen banalen Briefwechsel. Die Tetrade hat es nie gegeben.«
Ich sah, dass dir vor Staunen der Atem stockte. Wie war das möglich? Und der Mythos aller Pariser Salons von den vier jungen Männern und ihren sagenumwobenen Gelagen? Hattest du nicht selbst in Paris davon gehört? Auch die Berichte, die Naudé persönlich uns gegeben |613|hatte, hätten jeden überzeugt, dass das Grüppchen wenigstens einmal in der Woche zusammenkam. Hatte er nicht selbst gesagt, dass nach dem Ausscheiden Diodatis ein Ersatz gefunden werden musste?
Armer Atto, dachte ich, das war zu viel. Die Bibliothek von Alexandria? Erfunden. Die Berichte antiker Historiker? Alles Märchen. Und jetzt auch die ganz und gar zeitgenössische Tetrade? Was dir die abgelegene Insel Gorgona zumutete, war wirklich ein Schnellkurs in Metamorphosen der Wirklichkeit, bei dem jeder Mosaikstein der Vergangenheit dazu verurteilt schien, früher oder später zu zerbröckeln.
Naudé entging deine Verwunderung nicht.
»Wir leben in Zeiten, wo alles von allen geschluckt wird«, sagte er mit bitterem Sarkasmus, »und ich wette, das wird auch in drei- oder vierhundert Jahren noch so sein, bis zum Ende aller Tage. Es genügt, etwas unendlich oft zu wiederholen, und schon wird es fast wie durch Zauber wahr. Elia Diodati hatte diese geheimnisvolle Kraft: Was er sagte, fand überall Widerhall. Es war, als hätte er unzählige Diener bezahlt, die an jeder Ecke wie Papageien wiederholten, was er sich ausgedacht hatte. Und diese Diener erzählten auch, dass wir Zusammenkünfte pflegten. Aber das war erstunken und erlogen.«
In Wirklichkeit, erklärte er, trafen sich die vier Freunde nur im Sommer 1628 zu viert, weil ihre Beschäftigungen erst den einen und dann den anderen aus Paris fortführten. Gassendi war im Mai aus der Provence nach Paris gekommen, Diodati, der ihn seit drei Jahren kannte, hatte ihn Naudé und La Mothe Le Vayer vorgestellt. Doch schon im September war Gassendi nach Frankfurt gegangen, am Ende des folgenden Jahres für drei Monate nach Paris zurückgekehrt und hatte sich dann erst wieder 1630 blicken lassen. Anfang 1631 hatte Naudé Paris verlassen, um nach Rom überzusiedeln. Erst 1644, nach Naudés Rückkehr aus Italien, hatte die Tetrade erneut zusammengefunden, doch nur für sehr kurze Zeit, denn Diodati schied aus.
Der so vielberedete Freundschaftsbund bestand also nur aus einer einzigen langen Zusammenkunft im Sommer 1628. Damals fand der Schwur auf die Tetrade des Pythagoras statt.
»Was habt Ihr denn auf die Tetrade geschworen?«
»Das ist ja der Witz«, sagte Naudé, »ich weiß es nicht.«
Und er erzählte, dass an jenem Tag im Sommer 1628, als es um den erwähnten Schwur ging, alles wie ein Scherz ausgesehen hatte. Man |614|hatte gegessen und getrunken, wenig zwar, aber in sehr heiterer Stimmung. Naudé hätte fast eine Tunika angezogen, um katholische Priester zu parodieren, doch Diodati, wiewohl ebenfalls guter Laune, wollte nicht alles zur Farce verkommen lassen. »Wenn wir auf diese Zahl schwören, werden wir wie Pythagoras sein«, hatte er nur gesagt, und die anderen gefragt: »Schwört ihr?« Entzückt von dieser Komödie sagten die anderen drei: »Wir schwören!« Es folgten Applaus und Gelächter.
»Wir waren jung und vor allem leichtsinnig«, sagte Naudé, »keiner von uns wusste viel vom Leben. Nur Diodati hatte Erfahrungen in der Welt gesammelt. Aber er war zu geheimnisvoll, als dass man ihn hätte durchschauen können. Wir anderen waren nichts gegen ihn.«
La Mothe Le Vayer sei auf tausenderlei Gebieten ein Dilettant gewesen, der mit seinen dreißig Jahren noch gar nichts zuwege gebracht hatte. Er hatte eine vom Vater ererbte Stelle bei der Magistratur, doch er hasste das Recht. Spät hatte er sich mit einer Witwe verbunden, eine reine Scheinehe. Er schrieb und veröffentlichte Bücher wie ein Bäcker Brote aus dem Ofen holt. Nur der Umgang mit Literaten beglückte ihn, sie schienen seinem Leben endlich eine Richtung zu geben.
Gassendi, ein junger Priester von eher schwankender Frömmigkeit – weit mehr als das Wort Gottes begeisterte ihn das Studium heidnischer Leugner des Jenseits wie Epikur und Aristoteles – hatte aus der klassischen Literatur sein wahres Evangelium gemacht, und auch er sonnte sich in dem Traum, berühmt zu werden. Natürlich nicht als Seelenhirte, sondern als Antikenforscher.
»Blieben Diodati und ich. Ich war ein junger Mann, der zu großen Hoffnungen berechtigte, ein passionierter Bücherjäger wie heute, lebhaft, eifrig, von vielen geschätzt. Doch der einzige, der Grips hatte, und zwar reichlich, das war Diodati«, sagte Naudé. »Wir hielten uns für etwas Besseres. Das Volk war uns verhasst. Wir waren vollgestopft mit Zitaten, die wir aus Büchern gefischt hatten, wir waren pedantisch wie Streber, aber wir wollten Anstoß erregen. Kindsköpfe waren wir.«
Er setzte sich das Fässchen an den Hals, schluckte, wischte sich den Mund mit dem Ärmel ab und rülpste.
»Im Grunde verachteten wir die Leser unserer Bücher, aber das sagten wir nicht. Intus ut libet, foris ut moris, bei dir denk, was du willst, in der Öffentlichkeit handle wie die anderen. Wir verwandelten antike Sprichwörter in obszöne Witze. Wir scherzten andauernd, waren aber |615|nie wirklich fröhlich. Nichts interessierte uns, nichts rührte uns, wir hatten kein wirkliches Ziel. Wir verachteten die Esoterik, aber sie war uns lieber als die Religion, in Wahrheit faszinierte sie uns nur, weil sie eine Leere ausfüllte. Nur Diodati verhielt sich, als hätte er ein Ziel in seinem Leben, aber man verstand nicht, was das war, wie auch keiner je den Schwur verstanden hat, den er uns zum Spaß leisten ließ. Uns anderen, das kann ich jetzt sagen, war nur daran gelegen, eine gute Figur abzugeben. Bei den Du Puy ließen wir uns fast jeden Tag sehen, weil dort Richter, Botschafter, Ärzte, Akademiker waren. Auch Priester, aber Ausnahmegestalten wie Pater Gaffarel, ein profunder Kenner orientalistischer Fächer, der Esoterik und der Kabbala … alles, was damals modern war. Bei den Du Puy durften die Gäste nach Belieben in der Bibliothek stöbern, alles war erlaubt, alles wurde leicht genommen. Die Deniaisez sollten Mode werden, und wir waren ein Teil dieser Mode.«
Wieder hob er das Fässchen, er hatte aufgehört, dir davon anzubieten.
Da wecktest du seine Aufmerksamkeit. »Monsire Naudè, ich glaube …«
»Sprich, mein Lieber.«
»Nun, ich glaube, ich muss Euch etwas zeigen. Es war in dem Sack, den wir in der Hütte der Banditen gefunden haben.«
»Ach ja, die Hütte«, sagte Naudé mit angeekelter Miene, sicher dachte er an das unaussprechliche Mahl, das wir dort eingenommen hatten. Er nahm die Blätter, die du ihm reichtest, und las.
Die ersten Sätze, die er sagte, waren unverständlich. Erst als er die Stimme hob, konnte ich alles verfolgen:
»Das … das sind Phantasien eines verwirrten Geistes. Es stimmt, der arme Bouchard glaubte, ich hätte mit dem Überfall zu tun, der ihn Monate später ins Grab brachte.«
Er holte Luft, während du ihn fest anblicktest.
»Inzwischen kennst du mich: Könnte ich ernsthaft mit einem Mord zu tun haben?«, fragte Naudé heftig. »Allein der Gedanke an den Tod schreckt mich! Wenn ich gewusst hätte, dass Bouchard im Sterben lag, hätte ich mich selbst dem Tode nahe gefühlt! Ich frage noch einmal: Glaubst du wirklich, Gabriel Naudé könnte jemandem schaden?«
»Ich weiß es nicht«, sagtest du.
Naudé errötete und wusste einen Augenblick lang nicht, was er sagen |616|sollte, denn von keinem Mensch lässt sich a priori behaupten, er sei unfähig zum Töten.
»Der Schuldige wurde doch gefunden: es war der Botschafter d’Estrées! Und diese Papiere sagen nicht das Geringste gegen mich aus!« Naudé war plötzlich laut geworden, er stand auf und wedelte hektisch mit den Armen. »Hier tobt sich nur ein Unglücklicher aus, der im Angesicht des Todes nicht weiß, mit wem er sich anlegen soll und irre redet. Bouchard hatte sehr starkes Fieber, manchmal mit Delirium und Halluzinationen! Er wusste nicht, was er sagte!«
Er schwankte unter den Strömen von Likör, die er getrunken, ergriff einen Packen der Aufzeichnungen Bouchards und warf sie in die Luft. Die Blätter wirbelten in einem fröhlichen Reigen durch die Luft.
Dann sank er in sich zusammen und setzte sich wieder, heftiger wankend als zuvor. Er brummte ein paar wirre Sätze, die ich nicht entschlüsseln konnte. Dann verbarg er den Kopf in den Händen und schien rhythmisch zusammenzuzucken. Gabriel Naudé, der mondäne Paradiesvogel der Pariser Gelehrtenwelt, weinte. Du legtest ihm eine Hand auf die Schulter, um ihn diskret zu trösten, wie man es bei einem alten Freund tut.
»Das war ein fester Kreis, eine Clique, verstehst du?«, sagte er mit tränenüberströmtem Gesicht. »Diesen Leuten kann man sich nicht widersetzen, wie mein lieber Bouchard schrieb, die halten zusammen. Sie sind verrückt. Krank. Verstehst du?«
»Nein, Monsire Naudé.«
»Ich bitte dich, nenn mich Gabriel«, flehte er mit brüchiger, kratziger Stimme, immer wieder zu dem Likörfässchen greifend. »Die hatten mich in der Hand. Entweder tust du das oder alle werden alles erfahren. Sie waren alle einverstanden: die Du Puy, Cassiano dal Pozzo, und auch dieser französische Arzt, ein alter Freund seiner Familie, der vor kurzem aus Bologna gekommen war, ein gewisser Potier. Aber das habe ich zu spät begriffen. Ich war ohne böse Absichten auf dieses Fest gegangen. Es sollte nur Musik und eine Komödie geben, und die besten Cavalieri von Rom, ohne Damen. Stattdessen keine Musik und keine Komödie. Ich traf Potier. Das hätte mich warnen sollen, ich wusste genau, dass er ein Anhänger von Paracelsus war, wie Cassiano, aber stattdessen stürzte ich mich bedenkenlos auf den ausgezeichneten Wein, der ohne irgendwelche Speisen angeboten wurde. Dann kamen diese Jungen, alle genau instruiert, wie man sich hätte denken |617|können, aber es war schon zu spät. ›Komm, komm mit mir, ich suche mir immer die besten aus‹, sagte Cassiano und brachte mich in ein Zimmer, von da in ein anderes, kleineres, und dort waren zwei von den Jüngsten und Schönsten, und sie waren schon als Frauen gekleidet mit Schminke und Röcken und allem. Und bei ihrem bloßen Anblick drehte sich mir schon der Kopf, aber das war der Wein und dahinter steckte Potier, da bin ich sicher. Ich ließ mich gehen. Aber in dem Zimmer waren wir nicht nur zu viert, wie ich glauben sollte, denn als ich fertig war, entdeckte ich, dass hinter einem Türchen in der Wand zwei Kerle saßen, die ich noch nie zuvor gesehen hatte, und die alles beobachtet hatten, was Cassiano wusste, aber mir hatte er nichts gesagt. Ich dachte, es wären Freunde von ihm, Leute, die sich vergnügen wollten, aber er sagte, er kenne sie nicht, und da wurde mir klar, dass das alles organisiert war, und ich war drauf reingefallen. Als ich den Hausherrn um Erklärungen bat, sagte er, ich solle mir keine Sorgen machen, denn auf diesem Fest seien nur diskrete, sehr vertrauenswürdige und hochgeschätzte Cavalieri geladen. Doch er erzählte mir auch von einem anderen Fest vor vielen Jahren in Venedig, wo man Cremonini, den Philosophen aus Padua, der Aristoteles lehrte, hereingelegt hatte. Zu viert oder fünft hatten sie ihn beobachtet, während er sich mit zweien seiner Studenten vergnügte, und von da an gab es immer jemanden, der ihn in der Hand hatte, sodass er fast die Hälfte seines Salärs der Universität Padua ausgeben musste, damit über die Sache Stillschweigen gewahrt blieb.«
Er brach ab, weil er sich schnäuzen wollte, stand auf, um ein Schnupftuch in seinen Taschen zu suchen und fand keines. Er wankte so sehr, dass du ihm helfen musstest, sich wieder hinzusetzen.
»Ich kann dir nicht sagen, wer an jenem Abend der Hausherr war, denn er ist ein angesehener Mann in Rom, und dir würde nicht im Traum einfallen, dass er es war. Er sagte, dass Cremonini und viele andere als achtbare Personen gelten, die ihr Leben der Wissenschaft weihen, doch wenn man wüsste, was sie bei sich zu Hause treiben und wie sie sich in der Öffentlichkeit verstellen, würde man erkennen, dass es ihnen nicht um Wissenschaft, sondern um Leidenschaft geht, und er schüttete sich aus vor Lachen. Er kannte mich gut, bestimmt wusste er, dass ich Schüler von Cremonini gewesen war, also wollte er mir damit sagen, dass ich jetzt genau so erpresst werden würde wie er.
Gleich darauf, während immer noch getrunken und endlich auch |618|etwas gegessen wurde, war Cassiano dal Pozzo verschwunden. ›Wo ist der Commendatore? Wo ist der Cavaliere?‹ Und Potier mit ihm. Sie hatten sich verdrückt, ohne sich zu verabschieden. Dann kam die Überraschung: eine Gruppe Sbirren stand vor der Tür, mit Drohungen und Gewalt drangen sie in die Wohnung ein, nahmen von allen Namen und Nachnamen auf und sagten, es habe eine Anzeige wegen Sodomie gegeben. Dann brachten sie uns weg, wir waren ein Dutzend Gäste, alles sehr bekannte Namen, und sie hielten uns im Gefängnis Tor di Nona fest, wo sie alle verhörten und lange, genaue Protokolle anfertigten.
Drei oder vier Stunden war ich schon bei den Sbirren eingeschlossen, die mir Fragen stellten und dem Kriminalnotar alles diktierten, da brachten sie mich in einen anderen Raum, denn dort sei jemand für mich. Es war Cassiano dal Pozzo. Er warf sich mir um den Hals und fragte: ›Gütiger Himmel, Gabriel, was ist passiert?‹ Ohne mir Gelegenheit zum Antworten zu geben, sagte er sofort, meine Lage sei sehr ernst, ich bräuchte Hilfe, sonst wäre ich ein toter Mann, und wenn das Verfahren nicht sofort eingestellt werde, wisse ganz Rom am nächsten Tag von diesem Skandal, die Botschafter anderer Mächte würden an ihre Herrscher schreiben, und in halb Europa, Paris eingeschlossen, sei ich fortan dem Gespött ausgeliefert und würde nie wieder jemanden finden, der mich anhörte, geschweige denn mir Arbeit gab. Er erklärte nicht, warum er das Fest verlassen hatte, ohne mir etwas zu sagen, und warum ich festgenommen wurde, während er, der an meiner Seite dieselben und noch schlimmere Dinge getan hatte, seelenruhig auf freiem Fuße war, ja, die Sbirren ihm sogar vor Beendigung des Verhörs einen Besuch erlaubt hatten, was wirklich außergewöhnlich war. Er sagte nur, zum Glück habe er Beziehungen und könne bis hinauf zum Papst und zum Gouverneur von Rom gelangen, und vielleicht könne er mir helfen, aber meine Lage sei ernst, sehr ernst.«
Ein Bote wurde zu jemandem geschickt, dessen Namen Cassiano nicht nennen wollte. Eine halbe Stunde später stand Naudé als freier Mann vor dem Gefängnis. Cassiano hatte sich von den Sbirren sogar das einzige Exemplar des Verhörprotokolls geben lassen. Naudé bat um das Protokoll, aber dal Pozzo antwortete, er könne es ihm nicht geben, auch keine Kopie, weil der Freund, der ihm geholfen hatte, und dessen Namen er Naudé nicht enthüllen konnte, Cassiano als Garanten für die ganze Sache haben wollte.
|619|Von dem Moment an lag Naudés Leben in der Hand des Cavaliere und Commendatore Cassiano dal Pozzo.
Nach jenem schrecklichen Tag, fuhr Naudé fort, wurde er von Cassiano und dessen Freunden überredet (aber das richtige Wort ist »gezwungen«), sich an Bouchards Fersen zu heften und ihnen alles zu berichten, was er tat, sagte oder dachte. Jahrelang ging das so: Sie wollten jede Einzelheit über die Bücher, die Bouchard kaufte und las, seine Pläne, seine Meinungen über dieses Thema und jenen Autor, vor allem über die antiken Historiker, einschließlich Synkellos.
Manchmal hatte Naudé versucht, sich zu weigern, dann hatten sie dunkle Reden geführt, Fälle erwähnt, in denen Leute wegen undurchsichtiger Justizintrigen im Gefängnis verfault oder bei unerklärlichen Unfällen gestorben oder von Unbekannten entführt worden waren, die ihnen ein Auge ausgestochen hatten. Kurzum, sie hatten ihm auf italienische Art, nämlich indem sie die Drohung hinter einem breiten Lächeln und mehrdeutigen Worten versteckten, zu verstehen gegeben, dass dort, wo Erpressung nicht genügt, immer ein Meuchelmörder oder ein gedungener Belastungszeuge auf den Plan treten kann.
Dann kam der böse Tag. Es war März.
»Sie sagten, ich solle für sie herausfinden, an welchem Tag Bouchard bis in die späte Nacht im Vorzimmer von Kardinal Barberini, seinem Herren, bei der Arbeit saß. Denn von Zeit zu Zeit arbeitete Jean-Jacques bis zu später Stunde. Ich kleidete meine Frage unauffällig in eine scheinbare Sorge um seine Gesundheit. Bouchard antwortete mir, sonntags kehre er immer um Mitternacht von der Arbeit heim, da der Papst, ein scharfsinniger, leidenschaftlicher Gräzist, sich immer am Sonntag zu zerstreuen beliebte, indem er mit ihm und seinem Neffen bis in die Nacht hinein über die Fortschritte der Synkellos-Ausgabe plauderte. Also gab ich die gewünschte Information weiter. Ich bat meine Mandanten nicht um Erklärungen, weil ich wusste, dass ich ohnehin keine bekommen würde, ich musste Aufträge ausführen und schweigen. Die Befehle wurden höflich erteilt, aber Erwiderungen duldete man nicht.«
Doch Naudé ist unruhig. Am folgenden Sonntag versteckt er sich schon eine Stunde vor Mitternacht hinter Berninis Säulengang auf dem Petersplatz. Er weiß, dass Bouchard dort vorbeikommen wird.
Naudé blickt sich um. Auf dem menschenleeren Platz steht nur ein Mann, nach französischer Sitte gekleidet, vielleicht ein Diener. Er |620|steht neben einem der Pfeiler, an welchen die dicken Eisenketten hängen, die den Platz schmücken.
Um Mitternacht kommt Bouchard aus der Tür. Naudé hat ihn gerade erblickt, da hört er ein sehr lautes metallisches Geräusch und zuckt vor Schreck zusammen. Der französisch gekleidete Mann hat etwas hervorgezogen, vielleicht eine Eisenstange, und damit auf die schwere Kette geschlagen. Auch Bouchard ist erschrocken. Naudé sieht, wie er sich in die Richtung umdreht, aus der das Geräusch gekommen ist. Der Mann lehnt die Stange an den Pfeiler und rührt sich nicht. Naudé sieht Bouchard weitergehen, doch da hallt ein zweiter, entsetzlich lauter Schlag auf die Kette über den ganzen Platz. Vielleicht ist es nur ein Diener, der sich mit dummen Späßen vergnügt, während er auf seinen Herrn wartet, denkt Naudé, während er sieht, wie Bouchard sich entfernt. Doch schon bald wird er eines Besseren belehrt, denn diese Schläge waren ein Zeichen. Bouchard hat noch keine zwanzig Schritt getan, da erhält er einen Hieb auf den Kopf, der ihm den Hut zerteilt. Sein rechtes Auge blutet. Ein zweiter Schlag auf den Kopf, dann einer von hinten. Sein Angreifer lässt die Waffe kreisen, vielleicht ein Schwert oder eine Stange, und fegt ihm den Hut vom Kopf. Bouchard, der nur wenige Meter entfernt am Eingang des Platzes wohnt, versucht, in sein Haus zu fliehen, doch ein Mensch, ebenfalls nach französischer Art gekleidet, versperrt ihm den Weg. Er hält eine kurze, breite Waffe in der Hand, einen Dolch vielleicht oder einen Stock, zielt auf Bouchards Kopf und schreit auf Französisch: »Das geschieht dir recht!« Obwohl der Ärmste versucht, dem Stoß auszuweichen, wird er wieder am Kopf getroffen. Er wimmert: »Um Gottes willen, was geschieht hier?«, und stürzt zu Boden. Der Angreifer stellt sich rittlings über ihn und hebt die Waffe zum tödlichen Streich, doch unterdessen hat Naudé seinen ganzen Mut zusammengenommen und eine Papstwache benachrichtigt, die in der Nähe vorbeiging und nun mit gezücktem Schwert angerannt kommt. Der Angreifer sucht sofort das Weite, am Boden lässt er einen französischen Hut zurück und ein feuerrotes englisches Band.
Bouchard hat sich unterdessen mit blutüberströmtem Kopf in eine nahe Kirche geschleppt, von wo er sofort in seine Wohnung gebracht wird.
Naudé verschwindet. Die Sache ist zu brenzlig, er will nicht von den Sbirren gesehen werden.
|621|»Vor allem wollte ich nicht, dass Cassiano erfuhr, dass ich Hilfe geholt hatte«, erklärte er.
Also läuft er, was seine Lungen hergeben. In jener windigen römischen Nacht flieht er auch vor sich selbst. Bouchard wird niemals erfahren, dass Naudé ihm das Leben gerettet hat, auch wenn er es damit nur um wenige Monate verlängert hat.
Von Anfang an hatte er begriffen, dass sich etwas Böses anbahnte, dass jemand seinem Freund eine Lektion erteilen wollte, doch er hätte nicht erwartet, dass sie so weit gehen würden – sie hätten ihn fast umgebracht.
Naudé rang nach Luft, war wie betäubt, suchte nach Worten. Seine Stimme zitterte, er war schwer betrunken. Wieder versuchte er, dich zu küssen, aber du hieltest dir das Fässchen an den Mund. Naudé wurde von Weinkrämpfen geschüttelt, der Anfall ging zum Glück vorüber.
»Er … er hatte es begriffen«, sagte er. Bouchard hatte genau verstanden, dass Naudé in irgendeiner Beziehung zu den Attentätern stand, hatte er ihm nicht wenige Tage zuvor auf seine Bitte hin anvertraut, dass er sonntags um Mitternacht von der Arbeit heimzukehren pflegte?
Die eisige Klammer des Verrats zieht sich zusammen. Cassiano gelingt es, sich die Freundschaft des armen Bouchard zu erschleichen. Er besucht ihn, schickt ihm Geschenke, stellt sich für jede Kleinigkeit zur Verfügung und erreicht sein Ziel: Bouchard verfügt testamentarisch, dass seine privaten Papiere an Cassiano dal Pozzo gehen, damit er sie in der besten Weise nutze.
»Ich kann mir gut vorstellen, was er ihm gesagt hat: Als Federico Cesi starb, einer der größten Literaten Roms, hatte Cassiano die gesamte Erbschaft des Fürsten gekauft, nur damit dieser Schatz an Handschriften, Kunstwerken und seltenen Gegenständen nicht verlorenging. Hätte Bouchard einen besseren, passionierteren Verwalter seiner Hinterlassenschaft finden können? Ach, es war mir unmöglich, ihn vor der doppelten Natur dieses schurkischen, hinterhältigen Menschen zu warnen! Bouchard weigerte sich, mich zu empfangen, und ich hatte Angst, ihm zu schreiben, denn der Brief hätte in falsche Hände geraten und mein Leben gefährden können. Ich … ich habe Angst vor Cassiano. Er schreibt mir immer noch, weißt du? Er bittet mich um dieses und jenes, und ich, immer sein ergebener Diener, krieche ihm in den Arsch.«
»Ich war es nicht, verstehst du das?«, krächzte er unter Schluchzern, wie ein gemeiner Trunkenbold torkelnd. »Ich bin kein Mörder!«
»Du lieber Himmel, nein, Monsire Naudé, Ihr dürft nicht denken, dass …«
»Ich dachte, sie wollten ihm nur eine Lektion erteilen, ein paar Schläge, um ihm Angst zu machen!«, unterbrach er dich.
»Von wem sprecht Ihr denn? War es nicht der Botschafter d’Estrées, der Bouchard umbringen ließ?«
»Dann hast du also nichts verstanden. Auch du bist darauf hereingefallen!«, rief Naudé aus, der nun schon fast gänzlich die Kontrolle über sich verloren hatte. »D’Estrées hat nicht im Traum daran gedacht, Bouchard umzubringen, einen, der über die besten Beziehungen in Rom verfügte und überdies französischer Staatsbürger war. Er wollte ihn nur mit ein paar Schlägen demütigen, wie man es mit Dienern macht. Aber er hatte nicht mit Infiltrierten gerechnet. In dem Trio der gedungenen Angreifer gab es einen, der zusätzlich von anderen Leuten bezahlt wurde, und der hatte den Auftrag zu töten. D’Estrées wusste das nicht und wird es vielleicht niemals erfahren.«
Ein langes Schweigen folgte. Naudé lehnte an der Wand, um nicht umzufallen. Du wartetest darauf, dass er weitermachte.
»Ich brauche frische Luft«, sagte er stattdessen.
Er versuchte auf das Fenster zuzugehen, strauchelte und fiel. Du eiltest ihm zur Hilfe, konntest ihn aber nur mit größter Anstrengung wieder aufrichten. Er musste sich wieder an die Wand lehnen. Jetzt wart ihr nur wenige Handbreit von meinen Ohren entfernt, ich konnte sowohl dein rasches, besorgtes Atmen als auch das von Schluchzern unterbrochene Keuchen Naudés hören.
»Und wer hat Euch die Wahrheit erzählt, die Ihr mir jetzt mitteilt?«, fragtest du.
»Es war nur zu leicht zu erkennen«, sagte er, »dass der Überfall auf dem Petersplatz von Männern ausgeführt wurde, die offiziell im Dienst d’Estrées standen, in Wirklichkeit aber von Cassiano bezahlt wurden. Und ich hatte den Informanten gespielt. Es war klar, dass die Deniaisez hinter allem standen.«
Der Satz war unmissverständlich. Also trug der Mord an Bouchard diesen Stempel.
Die Arbeit am Synkellos, fuhr Naudé fort, sei an die Bibliothek der |623|Barberini gegangen. Doch wer war der Bibliothekar der Barberini? Lukas Holste, der diesen Posten Peiresc, dem Meister der Meister, zu verdanken hatte, und beide waren Deniaisez. Es ließ sich leicht erraten, wo Bouchards Handschriften mit den unangenehmen Vermutungen über Synkellos, den Gotteslästerungen der antiken Historiker, der von Lügen verfälschten Zeit gelandet waren.
»Sie sind mit Sicherheit verbrannt worden«, sagte Naudé, »aber das ist nicht das Schlimmste. Denn es gab noch mehr Schriften. Studien, deren Existenz Bouchard niemals zugegeben hat, doch aus seinen Zweifeln, seinen Forschungen, den Fragen, die er stellte, konnte man schließen, dass es sie gab. Cassiano war sich dessen sicher, obwohl er nichts Bedeutendes finden konnte. Da fielen jemandem die Reisetagebücher ein.«
Wie du und ich schon von Schoppe wussten, hatte Don Christophe Du Puy, Kartäuserprior in Rom, Anfang November, also knapp zwei Monate nach Bouchards Tod, seinen Brüdern in Paris eine unglaubliche Mitteilung gemacht. Er berichtete, Cassiano dal Pozzo habe ihn zu sich gerufen und ihm einige Papiere gezeigt, die er in Bouchards Nachlass gefunden hatte. Später habe Cassiano ihm sämtliche Papiere ins Kloster bringen lassen, damit er sie in Ruhe lese. Der Kartäuser schrieb den Brüdern, er habe diese Papiere sofort empört zurückgeschickt. Es handelte sich um das Tagebuch der Reise Bouchards von Paris nach Rom, das dann im Königreich Neapel fortgesetzt wurde. Der Verfasser schrieb von sich selbst in der dritten Person und nannte sich Orestes, wie Bouchard es immer getan hatte.
Vor allem im ersten Teil, wo die Jugendjahre des Protagonisten erzählt werden, war das Tagebuch mit unbeschreiblichen Obszönitäten gespickt. Pädophilie, zwanghaftes Onanieren, Impotenz, krankhafte, perverse Spielchen in Gruppen junger Männer.
Es gab auch Gedichte und Briefe mit lüsternen sodomitischen Untertönen. Du Puy schrieb seinen Brüdern, es sei ihm unbegreiflich, wie dal Pozzo es wagen konnte, ihm so etwas zu schicken und warum er es getan habe, vor allem aber, was Bouchard, der stets eine angeborene Schicklichkeit im Umgang und in der Konversation gezeigt habe, eingefallen sei, zu seinem eigenen Schaden derartige Obszönitäten zu verbreiten, anstatt sie vor seinem Tod zu verbrennen.
Von ihrem Bruder informiert, verbreiteten die beiden Pariser Du Puy, die seltsamerweise schon seit einiger Zeit begonnen hatten, Bouchard |624|verächtlich zu machen, blitzschnell die Nachricht von diesen Perversionen: Innerhalb weniger Tage war Bouchards guter Name auch als Forscher für immer zerstört.
»Das war das Werk der Besten, die niemals Fehler machen. Schakale, Schatten und Lemuren.«
»Was meint Ihr damit?«
»Ach, komm schon! Kapierst du wirklich nicht?«, brüllte er, während er, wieder gefährlich torkelnd, eine halbe Drehung um sich selbst machte. Dann packte er dich am Kragen, ein fester Griff, der dich fast erwürgte, und schrie dir ins Gesicht:
»Keiner! Verflucht noch mal, keiner ist so verrückt, schwarz auf weiß aufzuschreiben und der Nachwelt auszuposaunen, wie oft er am Tag masturbiert oder in wie vielen Betten er keinen hochgekriegt hat. Am allerwenigsten vertraut man das jemandem wie Cassiano dal Pozzo an, der als einer der strengsten und meistbewunderten Gelehrten Italiens gilt. Und das soll ausgerechnet jemand wie Bouchard riskiert haben, der für ein Bischofsamt im Gespräch war?«
Er blickte mit verzerrtem Gesicht zum Himmel. Dann ließ er dich los und setzte sich. Du konntest endlich frei atmen.
»Ihr wollt damit sagen, dass der Kartäuserprior Du Puy in Abstimmung mit Cassiano dal Pozzo und den Brüdern Du Puy in Paris gelogen hat.«
»Schön wär’s, wenn sie gelogen hätten. Für meinen Freund wäre das viel besser gewesen. Aber sie taten weit Schlimmeres. Mit Potier und zwei Handlangern. Tag für Tag, unermüdlich.«
»Was meint Ihr damit?«
»Was meint Ihr, was meint Ihr … kannst du denn nichts anderes sagen, mein kleiner Einfaltspinsel?« Und nachdem er dich zärtlich grollend an sich gezogen hatte, drückte er sich an deine Leisten und leckte, keuchend wie ein Blasebalg, die zarte, weiße Haut deines langen Kastratenhalses.
Flink griffst du nach dem Fässchen, und nachdem du einen theatralisch tiefen Schluck vorgetäuscht hattest, der in Naudés Augen das Vorspiel zu ungeahnten Wonnen sein musste, dir aber nur dazu diente, dich von ihm zu lösen, reichtest du ihm das Getränk.
»Ihr wollt also sagen«, flüstertest du, die Augen mit einem Ausdruck unschuldigen Nachdenkens zum Himmel hebend, während Naudé gierig den Likör hinunterstürzte, »dass der Kartäuserprior in |625|seinem Brief an die Pariser Brüder gelogen hat. Und dass alle gemeinsame Sache mit Cassiano machten …«
»Und mit vielen anderen dazu«, ergänzte Naudé, dessen Trunkenheit sichtlich zunahm. »Viele beneideten und hassten Bouchard, zum Beispiel Holste, der Bibliothekar der Barberini, dessen Hoffnungen, die Ausgabe der Schriften von Synkellos und Theophanes betreuen zu dürfen, zunichte wurden, als der viel gebildetere Bouchard auftauchte. Und wenn man bedenkt, dass Bouchard dem Kartäuserkloster in Rom aus Zuneigung zu Du Puy seine sämtlichen Ersparnisse überlassen hatte: achthundert Scudi in Silber und neunhundert in Gold! Doch was tat dieser Ordensbruder? Um seiner grässlichen Lüge zum Schaden eines Verstorbenen, der ihm herzlich zugetan war, mehr Glaubwürdigkeit zu verleihen, erzählte er in seinem Brief an die Brüder, es habe sich nur um ein paar Heller gehandelt. Selbst wenn es so gewesen wäre, hätte er das wenigstens aus Respekt vor dem Toten nicht erwähnen dürfen, oder? Dieser Brief an die Brüder Du Puy war eigens dafür gemacht, überall herumgezeigt zu werden, um üble Nachrede über meinen unglücklichen Freund zu verbreiten und seinen Ruf für immer zu zerstören. Die Wahrheit über die Geschichte und die Zeit, die Bouchard herausgefunden hatte, verschwand. Die jahrhundertealten Lügen über Synkellos, Berossos, Manetho und andere, die mein Freund aufgedeckt hatte, wurden wieder sorgfältig vertuscht, und wer weiß für wie lange. Was auch immer an Schriften Bouchards noch entdeckt werden wird, keiner wird sie mehr ernst nehmen.«
»Dann fürchteten Cassiano und die Du Puy also, dass noch andere Schriften Bouchards über das Problem der Zeit in Umlauf waren?«
»Das ist doch klar! Mein armer Freund stand mit vielen großen Namen der Gelehrtenrepublik in Kontakt: außer mit Galileo, wie du weißt, auch mit Grotius, Campanella, Mersenne, Leone Allacci, dem Kardinal Filomarino und sogar mit Petavius, um nur ein paar Namen zu nennen.«
»Meint Ihr den Jesuiten, der den Brief von Philos Ptetès bekam, sich aber nicht aus Paris wegbewegt hat?«
»Genau den.«
»Ist das eine berühmte Persönlichkeit?«
»Das fragst du noch! Er hat das chronologische Werk Scaligers fortgesetzt, um nur ein Beispiel zu nennen. Kurzum, Bouchard unterhielt Kontakte mit vielen wichtigen Leuten, und wenn mein armer Freund |626|überlebt hätte, wäre er in die Kreise aufgestiegen, die wirklich zählen, die Meinungen machen. Mit Allacci, dem großen Gräzisten, haben wir stundenlang über Photios I. diskutiert, den Patriarchen von Konstantinopel, der das Schisma zwischen der Westkirche und der Ostkirche heraufbeschworen hatte. Allacci war überzeugt, dass die Akten des Konzils, auf dem Photios zum Patriarchen ernannt wurde, gefälscht seien, ja, dass das Konzil überhaupt nicht stattgefunden habe. Er hatte Bouchard erzählt, dass der berühmte Antonio Possevino genauso dachte. Der Ärmste, während er mit Allacci über historische Fälschungen sprach, ahnte er nicht, dass er bald selbst Opfer einer Fälschung werden würde.«
»Dann ist das Tagebuch Bouchards, das ihn seinen Ruf kostete, also gefälscht …«, resümiertest du nachdenklich.
Naudé senkte den Kopf, dann sagte er leise:
»Jedes Kind hätte begriffen, dass diese Bekenntnisse ein billiger Betrug waren. Im Tagebuch heißt es zum Beispiel, dass Bouchard impotent war, und es ist die Rede von einer Reise zu Wasser und zu Land. Woher diese Einfälle stammen, liegt auf der Hand: von Petronius! Encolpius, der Held des Satyricon, ist impotent und macht eine Reise zu Wasser und zu Land! Bouchard nannte das Satyricon eine Fälschung? Dafür wird er in seinem Tagebuch zu einem zweiten Encolpius. Sie haben Bouchard mit denselben Lügen vernichtet, die er immer bekämpft hatte! Und alle in Rom und Paris haben es geglaubt. Dann kam das Buch von diesem Eritreer …«
Nach Bouchards Tod, erzählte Naudé, während er deine Hand zwischen die seinen nahm und mit deinen langen Fingern spielte, betritt Gian Vittorio Rossi die Bühne, genannt der Eritreer, der Schreiberling, der sich ein Vergnügen daraus macht, ganz Rom mit seinen Sammlungen von Klatschgeschichten zu verunglimpfen. In seinem nächsten Buch, das in Köln schon druckfertig vorliegt und den bezeichnenden Titel Pinacotheca trägt, Porträtgalerie, stellt er die verborgenen Laster kürzlich verstorbener Mitglieder der Römischen Kurie bloß, darunter auch Antonio Bosio, den gelehrten Anwalt und Fachmann für die unterirdischen Wege Roms. Dort habe Bosio, so der Eritreer, freilich häufiger geweilt, um es sich von hinten besorgen zu lassen, als die römische Antike zu erforschen. In dem Buch wird es auch ein Kapitel über Bouchard geben. Es soll das endgültige Todesurteil über Bouchards postumen Ruf sein. Doch etwas geht schief.
|627|»Cassiano ließ mich dringend rufen. Er war außer sich, so hatte ich ihn, der in jeder Situation sein Phlegma wahrte, noch nie gesehen. Er sagte, er habe das Manuskript des Buches gelesen: Der Eritreer habe kein einziges Wort über die obszönen Tagebücher Bouchards verloren, obwohl er sie ihm doch zum Lesen und Kopieren überlassen hatte! Vor Wut schäumend fragte er mich, ob ich zufällig etwas darüber wisse. Er sagte es nicht offen, aber er hatte mich im Verdacht, den Eritreer überredet zu haben, von den Tagebüchern zu schweigen. Doch ich wusste wirklich nichts. Warum er so wütend war, verstand ich gut: Wenn dieses Porträt veröffentlicht wurde, würden alle sich fragen, warum der Eritreer, die giftigste Feder der Schöpfung, nicht von Bouchards obszönen Tagebüchern sprach, und es würde der Verdacht aufkeimen, dass diese Tagebücher womöglich nur ein Schwindel waren, oder gefälscht, das Machwerk billiger Libellisten, die sich bei skrupellosen Druckern ein paar Groschen verdienen wollten, wie es häufig nach dem Tod bekannter Persönlichkeiten geschieht. Wohlgemerkt, auch der Eritreer ist ein Libellist, und man weiß, dass nicht alles wahr ist, was er schreibt, aber gerade darum war es verdächtig, wenn er keine Silbe über etwas verlor, was in aller Munde war. Das konnte nur bedeuten, dass diese Informationen allzu grobgestrickte Lügen waren, um auch nur flüchtig erwähnt zu werden. Jedenfalls hätte das Kapitel des Eritreers über Bouchard die Pläne von Cassiano und den Du Puy mit einem Schlag vereitelt.«
Dal Pozzo informiert die Du Puy von der unerklärlichen Entscheidung des Eritreers, worauf sie sofort ein geschicktes Manöver ersinnen. Natürlich kann man nicht aus der Deckung gehen, indem man Gian Vittorio Rossi zwingt, in seinem Porträt Bouchards von den obszönen Tagebüchern zu berichten. Stattdessen befehlen sie Cassiano und Naudé, an alle Welt zu schreiben und anzukündigen, dass der Eritreer im Begriff steht, ein verleumderisches Porträt von Bouchard zu veröffentlichen, und dass sie alles tun werden, um das Erscheinen des Buches zu verhindern. Naudé und Cassiano sollen auch an Monsignore Fabio Chigi schreiben, den Nuntius in Köln, der Stadt, wo das Buch in Druck gehen wird, damit er die Veröffentlichung der Pinacotheca des Eritreers verhindere. Chigi, der die Fahnen des Buches nicht gelesen hat, zwingt den Drucker, das Kapitel über Bouchard herauszunehmen. So erfährt keiner die Wahrheit über dieses Kapitel.
»Niemand hat sich je gefragt, wer dem Eritreer die Tagebücher zu |628|lesen gab. Wer sonst als Cassiano, der sie hütete wie seinen Augapfel?«, lachte Naudé bitter.
Die Taktik der gerissenen Pariser Brüder ging perfekt auf: Die ganze Gelehrtenrepublik glaubte, dass der Eritreer den Inhalt der obszönen Tagebücher in seinem Porträt wiedergegeben hätte, das nun aber aus eben diesem Grund nicht mehr veröffentlicht wurde. Sämtliche Salons in Rom und Paris gierten nun erst recht nach Details aus den Tagebüchern. Die widerwärtigen Lügen über Bouchard gingen von Mund zu Mund, wurden tausendfach erzählt, resümiert, kommentiert und zusammen mit dem Andenken ihres angeblichen Verfassers verurteilt.«
»Eines ist mir noch rätselhaft«, fragtest du. »Warum hat der Eritreer den schmachvollen Inhalt dieser Tagebücher in seinem Porträt Bouchards weggelassen?«
»Das weiß ich nicht.«
Schweigen. In der schwarzen Nacht Gorgonas war die Stille zwischen euch abgrundtief.
Du warst der Erste, der die Unterhaltung wiederaufnahm.
»Wer hatte die Idee, Bouchards Ruf zu zerstören?«
»Ich sagte es dir schon: In Paris gab es Leute, die dazu fähig waren.«
»Eure Freunde von der Tetrade zum Beispiel?«
»Warum fragst du mich das? Du hast also nicht verstanden?« Sein Ton war weinerlich.
Dann brach er wieder in ein hemmungsloses Schluchzen aus und bedeckte sein Gesicht mit den Händen.
»Sein Tod hat nichts geändert, unsere gerechte Strafe ist zur richtigen Zeit gekommen«, hub er an. »Nichts bleibt ungesühnt. Der mit dem Diebesschlüssel des Vertrauens erschlichene Hinterhalt, der Verrat der Freunde, die als Anteilnahme maskierte Gleichgültigkeit, unaufrichtige Bekundungen von Zuneigung, zweideutige Fragen, um ihn in irgendeinen dummen Widerspruch zu treiben: all das hat mein Freund erleiden müssen, während sein Krankenlager langsam zum Totenbett wurde. Er hat so getan, als sähe er die Kälte in den mitleidigen Blicken nicht, er hat die Augen gesenkt, wenn süßes Erbarmen von der Säure inquisitorischer Fragen vergällt wurde. Wir glaubten, er sei nur ein Opfer und darum nur Zuschauer. Stattdessen hat auch er geschauspielert, wie wir. Er wollte bis auf den Grund gehen und sehen, |629|wie weit das Talent der Schauspieler in dieser Komödie reicht, die um ihn herum geschrieben wurde, und deren wahren Epilog er selbst inszenieren musste, mit seinem Tod. Ich, Gabriel Naudé, der Judas, habe ihn an jenem Tag auf dem Petersplatz den Händen seiner Mörder ausgeliefert. Du, Guyetus, der du dich rühmst, deinen Freunden immer zu helfen, hast ihn im Morast ungelöster Fragen verfaulen lassen, obwohl du genau wusstest, dass er sich in einer Sackgasse verrannt hatte. Du, Trouiller, bist nur zu Bouchard gegangen, um ihm einzureden, er sei verrückt geworden und dann hinter seinem Rücken allen zu erzählen, er könne nicht mehr arbeiten. Als er schon eine Weile unter der Erde war und alles glücklich gelöst, lobten sie uns, wir seien tüchtig gewesen. Und erklärten, dass nicht ein Wort des Bühnenstücks ausgelassen wurde. Brillant und lebendig war die Aufführung, gute Arbeit leistete der unbekannte Maskenbildner, der uns das Bleiweiß auf die Wangen strich und uns jünger und gesünder machte als die abgehalfterten, gescheiterten Gaukler, die wir in Wirklichkeit waren. Jeder Knopf unserer Kostüme, eine wertlose Münze, gelb bemalt, glänzte wie Gold. All das wird ins Archiv der Zeit eingehen, jener Zeit, die wir beleidigt, verzerrt und vergewaltigt haben. Doch jetzt besiegt uns jene erschöpfte, gedemütigte Marionette, das Opfer unserer Verstellung, denn es schlägt uns mit dem einzigen Organ, das in seinem kochendheißen, fiebernden Körper unversehrt blieb, das nicht von den Krallen unseres unseligen Wahns zerfleischt wurde: seinen Augen. Bouchard beobachtet uns noch immer, das spüre ich. Wir haben ihm alles entrissen: das Gehirn mit unseren Sophismen, das Herz mit dem Verrat, Arme und Beine mit Stockschlägen. Aber diese in ihr Zimmer verbannte, entbeinte Puppe hat noch Augen, um alles zu sehen. Es gibt keine größere Freiheit als die Sehkraft, denn sie reicht weiter als jedes andere menschliche Vermögen und übertrifft sogar das Denken, das von uns irregeleitet, zerschmettert, getötet wurde. Die Augen trügen nicht: Wenn sie wollen, registrieren und beurteilen sie alles aus eigener Kraft. Unsere Verdammung wurde in einem geheimen Zimmer seiner Augen aufgeschrieben, wo Bouchard das Protokoll unseres verbrecherischen Lebens verwahrte. Seine Sprache ist zu feinsinnig für uns, eine Sprache, die er in der harten Schule des Leidens erlernte, und die wir, Meister der Fälschung und Täuschung, nie verstehen werden. Wie töricht ihr seid, Freunde! Welch eine obszöne Begierde, welch eine Lust am Untergang hat uns dazu gebracht, alles Gute und Edle unter uns so |630|zu verlästern? Alle standen wir in der Aufbahrungshalle vor seinem Sarg. Und ich wollte schreien: Hände weg von Bouchard! Unsere Schul tern sind es nicht würdig, seinen Sarg zu tragen! Unsere Schande herausschreien, das hätte ich tun wollen, und uns vor dem Gericht der Menschheit anklagen. Aber ich weiß, dass es nichts genützt hätte: Auch wir, ebenso wie die vielen Unverdächtigen, die uns schützten, sind lediglich Marionetten. Wir haben uns selbst an einen Haken gehängt, an dem wir uns ungehindert bewegen, doch unsere Arme und Beine werden von Fäden gelenkt, deren Ursprung wir nicht kennen – oder an den wir uns nicht erinnern wollen. Das Wort SCHULDIG hat sich von selbst unseren Gewissen eingebrannt, mit einem unsichtbaren Griffel, den wir persönlich in Bewegung gesetzt haben.«
Fast schien es, als hätte der ruhelose Geist Bouchards sich durch Naudés Mund Erleichterung verschafft.
Der Bibliothekar des Kardinals schloss seine Rede, indem er erneut drei oder vier viel zu große Schlucke nahm. Dabei fiel ihm das Fässchen fast aus der Hand.
Darauf sprachst du:
»Elia Diodati war ein guter Freund der Du Puy und sie wiederum Freunde von Cassiano dal Pozzo, richtig? Also ist Bouchards Tagebuch auch gefälscht worden, weil Diodati es wollte. Vielleicht wollte die ganze Gruppe, die ›gottlose Bande‹, Bouchards Tod. Ihr konntet das natürlich nicht wissen. Außerdem musstet Ihr schweigen, denn jener Schwur auf die Tetrade verpflichtete Euch, die Spielregeln einzuhalten, die Regeln jenes Spiels, in das Euch Cassiano dal Pozzo später in Rom verwickeln würde. Ihr hattet auf etwas Unbestimmtes geschworen, und eben darum konntet Ihr Euch nicht entziehen. Was hatte Bouchard geschrieben: ›Leute, denen man sich nicht widersetzen kann.‹ Sie hatten Euch hineingezogen, und einen Ausweg gab es nicht …«
Wie tüchtig du geworden warst, mein Atto! Scharfsinnig wie ein Ermittlungsrichter, doch auch mit der Unschuld des jungen Menschen sprachst du über die entsetzliche Schande Naudés. Wenn ich dieselben Worte ausgesprochen hätte, hätte Naudé mich oder sich selbst umgebracht oder uns beide.
Aber er hörte dir nicht mehr zu. Er warf das Fässchen in eine Ecke, erhob sich und ging aus dem Haus, schwankend wie eine vom Wind |631|hin- und hergeworfene Vogelscheuche. Du liefst ihm nach, versuchtest ihn aufzuhalten, doch vergebens. Es ist leichter, einen Ochsen zum Stillstehen zu bringen als einen gut abgefüllten Betrunkenen.
Als ihr herauskamt, duckte ich mich hinter ein Mäuerchen. Auch im Freien erholte Naudé sich nicht, ja er schien nun vollends den Kopf zu verlieren. Torkelnd wie ein lahmes Pferd stolperte er mitten durch die Büsche, die das Haus von den Nachbarhäusern trennten, und trieb sein Gefasel bis ins Äußerste:
»Schakale, Schatten und Lemuren! Sie haben aus mir gemacht, was sie wollten … Ich weiß, was ihr über mich redet, ihr Bewohner dieser Insel, Schoppe, Hardouin, Pasqualini und Guyetus, ihr seht mich schon kopfüber hängen, nennt mich einen Mörder. Ich weiß, was ihr denkt: Du bist nichts wert, Naudé. Hahaha!« Er brach in ein schallendes, trauriges Gelächter aus. »Aber sag es Guyetus, sag es ihm ruhig: bis ich erledigt bin, das dauert noch, da kann er lange warten, verflucht, weil ich …«
Du unterbrachst ihn: »Monsire Naudé, Guyetus ist tot.«
Endlich verstummte er und musterte dich mit einem Ausdruck unsäglichen Staunens.
»Was hast du gesagt?«, stammelte er.
Ich nutzte den Augenblick der Verwirrung, die euch beide erfasst hatte, um in den Raum zu schlüpfen, in dem ihr bis vor kurzem getrunken und geredet hattet. Ich brannte vor Neugierde, die Papiere zu sehen, die du Gabriel Naudé zu lesen gegeben hattest, und die sein finsteres Bekenntnis ausgelöst hatten.
Die Blätter lagen noch da, wo ihr sie zurückgelassen hattet. Ich sammelte sie ein und las blitzschnell, um gleich danach zurückkehren und euch im Auge behalten zu können.
Nοδέ will sich rechtfertigen. Er
bittet immer noch darum besuchen zu dürfen, obwohl er noch im Bett
liegt. Lästig und dreist.
hat ihm durch einen Diener geantwortet. Wir
werden sehen, wie weit er geht. Schlechtes Gewissen.
Neue Antwort vom Cavaliere
Cassiano dal Pozzo. Warmer, mitfühlender Tonfall, obwohl er
zunächst wie
einen Lehrling behandelte.
hat bereits eingewilligt, ihn zum Kurator zu
machen, und ihm gesagt, dass seine privaten Schriften keine
Geheimnisse |632|enthalten. Synkellos und die
griechischen Historiker für die Barberini. Er kommt am Dienstag.
Kuchen und Kaffee. Diener des Kardinals. Bericht über die
Ausgaben.
Aus Paris antworten sie nicht
mehr. Drei Briefe an die ohne Antwort. Keiner hilft
schweigt wieder. Eine
unüberwindliche Mauer.
Die Aufzeichnungen über die griechischen Historiker ordnen. Gesamtausgabe von Synkellos in einem Jahr.
Poggio – Tacitus – Manilius
Petronius – Scaliger – Synkellos
Chiffre der Namen
Tempus der Zeit
Liste mit Anweisungen. Sicherer Ort.
Impia cohors
Deniaisez
Die Wirklichkeit pervertieren.
Da gab es nicht viel zu enträtseln. In den unmittelbar auf das Attentat folgenden Tagen hatte Naudé Bouchard mehrmals gebeten, ihn besuchen zu dürfen, doch Bouchard, abgestoßen vom »schlechten Gewissen« Naudés, hatte ihm Besuche verwehrt.
Unterdessen hatte der Cavaliere Cassiano dal Pozzo sich als Testamentsvollstrecker angeboten, soeben hatte ich von Naudé den Grund gehört. Dann einige Zeilen über seine Beziehungen zur Heimat. Aus Frankreich kommt nur das feindliche Schweigen seiner Kollegen, den Du Puy und sogar Guyetus, die einst seine Freunde waren. Also hatte Naudé die Wahrheit über Guyetus Schweigen gesagt, als wir in der Grotte des Seeochsen saßen.
Wie man aus diesen Notizen sah, hatte Bouchard in der ersten Zeit nach dem Überfall zu ordnen versucht, was er bereits über Synkellos geschrieben hatte, weil er eine »Ausgabe in einem Jahr« plante.
Die von Bouchard aufgereihten Namen der lateinischen Autoren und Gelehrten waren wie Wassertropfen auf einem Spinnengewebe: Sie verrieten denselben Ursprung, doch warum sie in dieser Weise angeordnet waren, blieb unerklärlich.
|633|Nur einige Verbindungen waren klar. In der Torre Vecchia hatten wir das Fragment einer wahrscheinlich von Poggio stammenden Handschrift gefunden, einen kurzen Ausschnitt aus Petronius Satyricon. Poggio hatte auch das historische Werk des Tacitus entdeckt, wo von Petronius’ Leben und Tod berichtet wird, außerdem die Astronomica von Manilius, die dann von Scaliger zum ersten Mal in einer kritisch durchgesehenen Ausgabe veröffentlicht wurden (was Naudé bei unserem letzten Fund von Bouchards Tagebuch entschlüpft war). Manilius hatte Scaligers Interesse an der Chronologie geweckt, und in Paris hatte er durch seinen Freund Casaubon die einzige Handschrift von Synkellos gefunden. Der Ausdruck »Tempus der Zeit« war unverständlich, hatte aber wenigstens etwas mit Synkellos und Scaliger gemeinsam, nämlich die Zeit. Doch dann wieder jene Wendung »Chiffre der Namen«. Was mochte sie in diesem Kontext bedeuten? Außerdem hatte er eine »Liste mit Anweisungen« an einen »sicheren Ort« gebracht.
Schließlich erschienen wieder die impia cohors, die »gottlose Bande«, die Deniaisez (wir wussten jetzt, wer sie waren) und die letzte beunruhigende Prophezeiung: »Die Wirklichkeit pervertieren«. War dies vielleicht der Schlüssel? Hat die Perversion die Macht, die Welt zu verdrehen?
Doch meine Aufmerksamkeit wurde schon von dem nächsten Dokument geweckt: einem Briefwechsel.
Über alles geliebter Freund, teuerster Jean-Jacques,
gemeinsame Freunde haben mir von dem schrecklichen Unfall berichtet, der dir zugestoßen ist. Mir fehlen die Worte, um zu beschreiben, wie es mir das Herz zerriss, als ich die Nachricht erhielt.
Ich bitte dich, nenne mir einen Tag und eine Stunde, in der ich dich besuchen kann, um dir meine Freundschaft und mein Bedauern über diesen tragischen Vorfall zu bekunden. Bis dahin kann ich meine Empörung über das, was dem liebsten meiner Freunde so feige zugefügt wurde, nicht beruhigen.
Dein dir ewig treu ergebener Diener
Gabriel Naudé
Ich beantworte dein letztes Schreiben, mit dem du dich erneut zu meinen Freunden zählst.
Die Ausführenden des Überfalls haben die Information über die nächtliche Stunde, zu der ich von der Arbeit heimkehre, gut genutzt. Ich habe jedoch begründete Hoffnung, dass die Justiz alle Verantwortlichen dieses gemeinen Verrats ermitteln wird.
Vorerst erlaubt mir mein Gesundheitszustand nicht, dich zu empfangen.
Dein ergebener Diener
Jean-Jacques Bouchard
Wenn man Naudés Brief und Bouchards knappe Antwort las, ahnte man nur zu gut, was geschehen war: Als Bouchard auf dem Petersplatz überfallen wurde, wussten seine Angreifer genau, um welche Uhrzeit er herauskommen würde. Wie wir soeben von Naudé gehört hatten, wusste Bouchard, dass es kein Zufall sein konnte, weil Naudé ihn vor wenigen Tagen genau danach gefragt hatte.
Welch eine deutliche Sprache sprachen diese beiden kurzen Briefe! Naudé nannte Bouchard den »über alles geliebten« und »teuersten« Freund, Bouchard antwortete mit einem schwachen »Lieber« und vermerkte kühl Naudés Versuch, sich erneut zu seinen Freunden »zu zählen«, ohne zu sagen, ob er ihn akzeptierte oder nicht. Auf die Sorgen Naudés antwortete das Opfer nur mit dem Hinweis, dass die Angreifer die Uhrzeit kannten, da er von der Arbeit heimkehren würde, und nannte das Geschehen einen »gemeinen Verrat«.