Die Lektüre rief bei jedem von uns sehr unterschiedliche Wirkungen hervor. Kemal war entnervt von dem Gerede über die Zeit, für ihn waren das Hirngespinste müßiggängerischer Nazarener. Naudé und Schoppe waren jeder aus persönlichen Gründen in Hochstimmung. Wir drei (du, Barbello und ich) hatten bemerkt, dass die Aufzeichnungen |608|des armen Bouchard diesmal kein schlechtes Licht auf Mazarins Bibliothekar warfen. Dieser bereitete gerade sein Lager für die Nacht vor, pfiff dabei gutgelaunt und wiederholte einige der soeben gehörten Sätze:
»Sodomit, wie?«, warf er Schoppe mit listiger Miene an den Kopf. »Scaliger hat dich einen Sodomiten genannt. Ha, das ist wirklich gut! Das fehlte mir noch, oh ja. Warum habe ich das nur nicht früher erfahren?«
»Na und?«, erwiderte Schoppe säuerlich, während er sich ebenfalls eine Art Schlafnest herrichtete. »Alle wissen, dass dieser Scharlatan mich bei jeder Gelegenheit beleidigte. Aber ich habe meine alte Maddalena, die in Padua auf mich wartet! Ich gehöre nicht zu den Verderbten wie du und Scaliger.«
»Sodomit, haha!«, trällerte Naudé entzückt. »Hätte ich das bloß vor ein paar Jahren gewusst …«
Schoppe blieb stocksteif stehen, wie von einer Viper gebissen. Seine Augen wurden zu Schlitzen und er zischte wütend: »Wa-ge es ja nicht, verstanden? Wenn du nur versuchst, so etwas zu denken, schmutziger Päderast, werde ich dich …«, und schon schwenkte er drohend einen seiner Schuhe.
»Ganz ruhig, alter Esel«, lachte Naudé und entwischte zur Tür, wo Schoppes mit wütender Vehemenz geschleuderter Schuh ihn streifte und mit einem lauten Knall gegen die Wand prallte.
Wir hörten Mazarins Bibliothekar fröhlich pfeifend über die Dorfstraße davoneilen. Ich wusste, was Naudé suchte: Er hoffte, weitere Botschaften zu finden, um die Karte von Philos Ptetès zu entschlüsseln.
Als wir uns schon alle hingelegt hatten und ich auf den Schlaf wartete, knarrte die Tür in den Angeln. Gabriel Naudé war zurückgekehrt. Ich spitzte die Ohren in der Erwartung eines erneuten Wortgefechts mit Schoppe. Doch der Verehrungswürdige schlief fest. Naudé trug etwas im Arm und zeigte mir triumphierend seine Beute: ein Fässchen.
»Keine Spur vom Mönch. Stattdessen habe ich das hier in einem Haus gefunden. Es gibt auch etwas zu essen: Zwieback, Sardinen, Nüsse. Alles im Keller versteckt, von den Eigentümern zurückgelassen. Aber das ist kein Diebstahl! Sie kommen bestimmt nie mehr zurück, um all diese Herrlichkeiten zu holen, das Haus scheint seit Jahren verlassen. Ich habe nur den Likör mitgebracht. Solltet Ihr Hunger |609|haben und die Nahrungsmittel Euch interessieren, kann ich Euch zeigen, wo das Haus liegt.«
»Bitte, Monsire Naudé …«
Der Ekel über die widerwärtige Mahlzeit vor wenigen Stunden stand mir noch im Gesicht geschrieben, ebenso wie Naudés fröhliches Geplapper offenbarte, dass er sich das Fässchen schon an den Hals gesetzt hatte, und das nicht wenige Male.
»Ja, tatsächlich … ich habe auch keinen Appetit«, gestand er, während er das Fässchen in den Händen wog.
Er bot mir ein wenig von dem ausgezeichneten Likör an, ein Destillat aus Kräutern, das eine angenehme Wärme in meinen Gliedern verbreitete. Dann wünschte er mir gute Nacht und kroch, das Fässchen unter dem Arm, auf sein Lager.
Binnen kurzem umhüllte mich ein Schlaf, opak wie Meerwasser, das von der schwarzen Tinte einer flüchtenden Sepia getrübt wird. Die Stadt ohne Namen, an der wir so oft gezweifelt hatten, wurde uns unverhofft zur Ruhe und Schutz spendenden Stiefmutter.
Doch der warme Schlaf, der mich so rasch umhüllt hatte, wurde leider allzu bald von verdächtigen Geräuschen jäh unterbrochen.
»Hör auf, lass mich in Ruhe, sonst beiß ich ihn dir diesmal ab!«
»Na, na, was für Manieren! Schon gut, schon gut, bei allen Heiligen.«
Es war die Stimme einer zornglühenden Barbara, gefolgt von Naudés eindeutig betrunkenem Stammeln.
Ich hob ein wenig den Kopf und sah, wie Mazarins Bibliothekar sich auf allen vieren vom Lager der venezianischen Sängerin zurückzog, während diese sich energisch auf die Seite drehte, um weiterzuschlafen. Naudés nächtlicher Überfall war abgewehrt worden, doch jetzt wandte der Verfluchte sich dir zu. Er weckte dich und flüsterte dir etwas ins Ohr. Es war eine längere Unterredung, die ich nicht verstehen konnte. Dann erhobt ihr beide euch und gingt zur Tür.
Ich traute meinen Augen nicht. Du gabst dich den Gelüsten von Gabriel Naudé hin, einem würdelosen Päderasten, während deine Barbara zwei Schritte von dir entfernt schlief?
Flink wie eine Eidechse sprang ich auf. Als ich auf die Straße trat, wart ihr schon weit genug entfernt, um euch von weitem unbemerkt folgen zu können.
Der Weg dauerte wenige Minuten. Bald fandet ihr ein zweistöckiges Haus, das für eure Zwecke geeignet schien. Und ich fragte mich erneut: |610|Ist es möglich, dass mein Atto seine Jugend jemandem wie Naudé überlässt? Hat Mazarins Bibliothekar womöglich wieder gedroht, ihn beim Kardinal anzuschwärzen?
Ein Stoß von dir genügte, und die Tür des Hauses öffnete sich.
Ihr setztet euch in den Eingang, ich konnte euch durch das Fenster beobachten, ohne gesehen zu werden.
Ihr reichtet euch das Fässchen, doch während du es nur kurz an die Lippen hieltest, nahm Naudé tiefe Schlucke. Er legte seinen Arm auf deine Schulter und versuchte mehrmals, dich zu küssen, doch du hindertest ihn, indem du ihm immer dann das Fässchen zurückgabst, das er bereitwillig ansetzte. Du hattest viel Erfahrung damit, die Hände deiner sogenannten Gönner im Zaum zu halten.