Jean-Jacques Bouchard (Paris 1606–Rom 1641) ist heute nur einem engen Kreis von Wissenschaftlern, die sich mit dem 17. Jahrhundert beschäftigen, ein Begriff. Ebenso war sein Name auch in der Epoche, in der sich sein kurzes Leben als Gelehrter der griechischen Klassiker und als Sekretär der Familie Barberini abspielte, außerhalb der gebildeten Kreise von Paris und Rom nicht bekannt.
Nicht einmal in der homosexuellen Literatur wurde er neu bewertet, aufgrund des selbstverachtenden Charakters der erotischen Erzählungen in seinem Tagebuch, die bar jeden homosexuellen Stolzes sind.
Warum ist Bouchard also so bedeutend?
Die Angelegenheit Bouchard zeigt beispielhaft, wozu einige Protagonisten der Menschheitsgeschichte fähig sind. Wie wir beweisen konnten(siehe unten), wurde Bouchard in den letzten Monaten seines Lebens Opfer eines Attentats, einer Verschwörung und einer Nötigung, die die von uns herangezogenen Gutachter mit dem verglichen, was Aldo Moro, der Kopf der Christdemokraten, erlitten hat, als er 1978 in der zweimonatigen Gefangenschaft der Terroristengruppe Brigate Rosse, die seiner Ermordung vorausging, mit eigener Hand Briefe und Memoiren niederschrieb, deren Inhalte bis heute unter dem Verdacht stehen, von den Terroristen erzwungen worden zu sein.
Der Unterschied zwischen dem Fall Bouchard und dem Fall Moro ist, dass alle von Moros Gefangenschaft wussten und seine Aufzeichnungen mit dem nötigen Misstrauen gelesen wurden, während sich bis heute niemand Gedanken um Bouchards letzte Lebensmonate gemacht oder Zweifel an der Echtheit der pornographischen Seiten geäußert hat, in denen der junge Franzose mit eigener Hand die Erinnerung an sich in den Schmutz zieht.
Das Beispielhafte daran ist also: Was ein oder zweimal passiert ist, kann auch wieder geschehen. Vielleicht ist es sogar schon passiert, vor und nach |756|Bouchard oder vor und nach Aldo Moro. Die Wahrheit über wer weiß wie viele andere Fälle wartet noch darauf, ans Licht gebracht zu werden.

Gestorben fünfeinhalb Monate nach einem mysteriösen Angriff und einem noch merkwürdigeren Todeskampf, überlebte Jean-Jacques in der kollektiven Erinnerung nur dank des gut gehüteten Geheimnisses um ein liederliches Leben und dessen Schilderung, die er, so scheint es, selber in einigen Tagebüchern hinterließ. Welche Doppelzüngigkeit von Leben und Gedanken! Er war Anwärter auf ein Bischofsamt und dann entpuppt er sich in seinen Tagebüchern als bisexuell, impotent, ein mit Komplexen beladener, erbärmlicher Onanierer. Bouchard der Krankhafte, der Perverse, der Heuchler.
Alle Arbeiten des größten Bouchard-Forschers, Emanuele Kanceff, sind in dem Band Poliopticon italiano, Genf, 21994 zusammengefasst.
Von Kanceff stammt auch die kritische Edition in zwei Bänden von Bouchards Journal, Turin 1976. Der erste moderne Wissenschaftler, der sich mit unserem Glücklosen beschäftigte, ist allerdings René Pintard, Le libertinage érudit dans la première moitié du XVIIe siècle, Paris 1943-Genf 2 2000. Über das Schicksal von Bouchards Manuskripten vgl. I. Herklotz, Jean-Jacques Bouchard (1606–1641). Neue Spuren seines literarischen Nachlasses, LIAS 29 (2002), S. 3–21.
Seltsamerweise wird von der Geschichtswissenschaft nie an die Beziehungen zwischen Naudé und Bouchard erinnert. Wenn man von Gabriel Naudé spricht, liegt die Aufmerksamkeit allein auf seinem Ruf als Gelehrter und Bücherliebhaber, auf seinem aufgeklärten Skeptizismus, auf der Verstandesschärfe des Kritikers. Über die sexuellen Vorlieben Naudés, die in Bouchards Tagebuch belegt werden, kein Wort.
Haben sie etwa nicht zusammen die zweifelhaften Versammlungen der französischen Libertins in Rom besucht? Haben sie nicht beide die skandalösen Konversationen mit dem Mediziner Trouiller genossen? War es nicht Naudé, der dem Freund die Türen zu der von ruchlosen Menschen dominierten Welt Roms geöffnet hatte?
Von Bouchard wird heute nur noch wegen seiner angeblichen Perversionen Notiz genommen, wenn man aber auf Naudés Leben zu sprechen kommt, verschwindet er oder wird geschickt versteckt. Seine Zugehörigkeit zum Kreis der besten Philologen seiner Zeit ist belegt, unter ihnen ist mindestens der große Gräzist Leone Allacci zu nennen (wie Naudé im Roman Atto Melani erinnert). Und dennoch scheint die Entdeckung der obszönen Tagebücher all seine Verdienste auszulöschen.
Ist das gerechtfertigt?
Wie Gabriel Naudé in unserem Roman erzählt, verbreitet sich sofort nach dem Angriff auf Bouchard die auch durch Zeugen bekräftigte Ansicht, dass der Drahtzieher hinter dem Angriff der Botschafter von Frankreich in Rom, Marschall d’Estrées war (vgl. P. Blet SJ, Correspondance du nonce en France Ranuccio Scotti (1639–1641)). Aber der Prozess gegen einen der mutmaßlichen Attentäter, einen gewissen Charlier, fand aufgrund der diplomatischen Immunität, hinter der sich der Botschafter d’Estrée mit seinen Männern verschanzen konnten, nie statt. In seinem Testament hinterließ Bouchard Cassiano dal Pozzo alle seinen privaten Aufzeichnungen, die Manuskripte seiner Studien gingen hingegen an die Bibliothek der Familie Barberini, einschließlich der Ergebnisse seiner Nachforschungen zu Synkellos, die dann auf schleierhafte Weise vom Bibliothekar der Vatikanischen Bibliothek, Lucas Holstenius, nach Frankreich verschickt wurden.
Heute wissen wir, dass die Dinge im kurzen Leben des Jean-Jacques Bouchard nicht so vonstattengingen wie es uns erzählt wurde. Die Beweise dafür werden wir später näher ausführen. Es wäre jedoch von Anfang an möglich gewesen zu erahnen, dass die offizielle Version von Bouchards Tod und seine jahrhundertelange Diffamierung nicht haltbar waren. Dies hätte den professionellen Stöberern in Archiven und Annalen auffallen müssen. Aber besser spät als nie. Und wenn man es genau betrachtet, ist niemand wirklich scharf darauf, einen vom Blei der Infamie zerquetschten Toten mühevoll wieder auszugraben. Im verwirrenden Suk der Geschichtsschreibung ist nichts beruhigender, als sich an den starken Felsen des schon Gesagten zu klammern.
|757|Zu viel Unwahrscheinliches
Die offizielle Version: Bouchard stirbt am 27. August 1641 an den Nachwirkungen eines auf ihn verübten Angriffs vom 10. März desselben Jahres. Cassiano dal Pozzo, auf Wunsch des Toten Verwalter des Erbes, stehen die privaten Aufzeichnungen zu. So fallen Cassiano einige Dokumente mit schändlichem Inhalt in die Hände. In ihnen wird von Bouchards Jugend in Paris und seinen ersten Jahren in Rom berichtet: homosexuellen Liebschaften, Selbstbefriedigung, |758|Impotenz, sexueller Gewalt, materiellem und moralischem Elend. Nach Meinung der Historiker alles fast zeitgleich mit den erzählten Ereignissen, also circa zehn Jahre vor seinem Tod niedergeschrieben.
Ein unvorstellbarer Fehltritt: Wollte Bouchard, der zwei Mal sein Testament aufsetzte und genug Zeit gehabt hatte, um sich auf sein Ende vorzubereiten, der Nachwelt tatsächlich so ein Bild von sich hinterlassen? Hatte er, der ein Bischofsamt anstrebte, Anordnungen und Geld für die Errichtung eines Grabes sowie hundert für seine Seele gelesene Messen hinterließ, nicht ergewogen, welche Auswirkungen dies nach seinem Tod auf seinen Ruf haben würde?
Aber es wird noch merkwürdiger. Cassiano versäumt es, die kompromittierenden Aufzeichnungen zu verbrennen und so das Andenken des Toten zu schützen. Im darauffolgenden November macht er dann einen noch befremdlicheren Schritt: Er gibt alle Papiere in die Hände von Christophe Du Puy, dem Vorsteher der Kartause von Rom. Nicht nur zeigt er ihm die Aufzeichnungen – was sein Auftrag als Testamentsverwalter keinesfalls vorsah (ihn im Gegenteil vielmehr davon hätte abhalten sollen) – sondern er lässt sie ihm sogar nach Hause schicken. Ist dies wahrscheinlich? Du Puys Kartäuser waren von Bouchard mit einer Geldsumme bedacht worden, und doch verhält sich der Pater noch merkwürdiger als Cassiano. In keiner Weise von priesterlichen Skrupeln abgehalten, schickt er das skandalöse Papierbündel an den Absender zurück, greift zur Feder und schreibt an seine zwei Brüder in Paris. Pierre und Claude Du Puy waren die Seele des berühmten mondänen Salons, den Bouchard in seiner Jugend frequentiert hatte. Nachdem der junge Mann nach Rom gezogen war, hatte er mit den zwei Du Puys aus Paris einen regelmäßigen Briefkontakt gepflegt.
Der Kartäuser weiß also bestens, dass sich vom Salon der Brüder die unersättliche Klatschgier über ganz Paris ausbreiten wird. Er berichtet, dass in Bouchards Aufzeichnungen »alle Schweinereien, die man sich vorstellen kann, vor allem bezüglich der Dinge, die in diesem Land Gefallen finden. Teuflisches Zeug« enthalten sind. Pater Christophe beschwert sich auch über die Spärlichkeit von Bouchards Hinterlassenschaft und lässt sich die Gelegenheit nicht entgehen, dessen Ambitionen und dürftige moralische Qualitäten zu kritisieren. Schlechter Geschmack, vor allem bei einem Geistlichen, der von einem Toten begünstigt wurde, welcher auch noch, armer Unglückseliger, in Folge einer Gewalttat verstorben war. Ist dies alles logisch und wahrscheinlich?
In den hinterlassenen Dokumenten erregt etwas Aufmerksamkeit. Am |759|20. März, zehn Tage nach dem Attentat, schrieb Bouchard an die beiden Brüder Du Puy einen Brief (Paris, Nationalbibliothek, Collection Dupuy n.619, fol. 71–72: J.J. Bouchard à J. Dupuy, 20 marzo 1641), in dem er einen der Angreifer beschrieb:
»Dieser Mann schlug mir mit einem breiten und sehr kurzen Schwert mit aller Kraft auf den Kopf; ich bückte mich, um dem Schlag auszuweichen, der aber so stark war, dass er mir eine große und tiefe Wunde beibrachte und mich zu Boden schlug. Der Mörder warf sich sofort auf mich, um mich umzubringen […]. Man sagt, wenn Ihr Herr Neffe anwesend gewesen wäre, er hätte ihn leicht wiedererkannt.«
Eine verfängliche Anspielung: In der Tat war ein Neffe der Brüder Du Puy als Sekretär im Dienste der französischen Botschaft in Rom. Warum schreibt Bouchard, dass dieser einen der Meuchelmörder »leicht wiedererkannt« hätte? Vielleicht wusste Bouchard, wer der Mann war? Und warum nennt er ihn dann nicht beim Namen? Es liegt der Verdacht nahe, dass er damit sagen wollt: Ihr zwei Du Puy, ihr wisst genau, wer mich umbringen wollte. Von hier aus ist es nur ein kleiner Schritt, das Gegenüber öffentlich des Mordes zu beschuldigen.
Whodunnit?
Wer wollte Bouchards Tod? Augenscheinlich allein der Botschafter d’Estrées. Aber da niemals ein Prozess stattgefunden hatte, wird die juristische Wahrheit nicht mehr festgestellt werden können. Man muss sich fragen, wer Bouchard feindlich gegenüber stand, vor und nach seinem Tod.
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Es ist nachgewiesen, dass Bouchard aus unerklärten Gründen zu einem bestimmten Zeitpunkt den Hass einiger Pariser Kreise auf sich zog. Mehrere Belege bestätigen dies; nicht nur die seltsame Missgunst des Kartäusers Du Puy, auch Briefe und sogar die Nachrufe der alten Freunde (vgl. J.J. Bouchard, Oeuvres, hrsg. v. E. Kanceff, Band I, Turin 1976–77, S. XIL ff.)
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Die feindliche Umgebung war die der Gelehrten, die sich mit Synkellos, Teophanes und anderen griechischen Historikern der byzantinischen Zeit befassten. Dies hat der deutsche Wissenschaftler Ingo Her|760|klotz beobachtet (Jean-Jacques Bouchard. Neue Spuren …, op. cit.), der berechtigterweise darüber staunt, dass dies noch niemandem aufgefallen ist.
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Fünf Jahre später, nachdem auch Papst Barberini verstorben ist, erinnern sich die Du Puys auf einmal an Bouchard. Sie fordern Lucas Holstenius, den Bibliothekar der päpstlichen Familie, nachdrücklich auf, die Papiere mit den privaten Studien Bouchards, die aufgrund des Testamentes in der Bibliothek der Barberini gelandet waren, nach Frankreich zu schicken (L.G. Pélissier, Les amis d’Holstenius, in: »Mélanges d’archéologie et d’histoire«, VII (1887), S. 62–128). So bemächtigt sich ausgerechnet die Bouchard feindlich gesonnene Pariser Schule von Byzantinisten seines Entwurfs für eine große Edition über Synkellos und andere griechische Geschichtsschreiber, die anfangs von Papst Barberini selbst unterstützt worden war. Das Projekt mündet in die berühmte Synkellos-Ausgabe von Jaques Goar (1601–1653), Monachi et S.P.N. Tarasii, patriarchae CP., quondam Syncelli, Chronographia etc. Et Nicephori patriarchae CP. Breviar. chronograph. Georgius Syncellus ex Biblioth. Regia nunc primum adjecta vers. latina editus, tab. chronol. et annotat. Additae, Paris 1652.
Und weiter: Lucas Holstenius, der Bibliothekar der Barberini, strebte selbst die Herausgabe einer Edition über die byzantinischen Geschichtsschreiber, unter ihnen Synkellos und Teophanes, an, aber Kardinal Francesco Barberini hatte Bouchard im Vertrauen auf dessen intensivere Vorbereitung und Urteilsschärfe mit dieser Aufgabe betraut. Der deutsche, aus Hamburg stammende Lukas Holste (1596–1661), lateinisch Holstenius, war nur aus Karrieregründen zum Katholizismus konvertiert – auf Rat des Peiresc, auf dessen Empfehlung er auch bei den Barberini als Bibliothekar angestellt worden war. Seine ziemlich dürftige katholische Überzeugung verratend, hinterließ er nach seinem Tod alle seine Manuskripte der Bibliothek der durch und durch protestantischen Stadt Hamburg. Sein ganzes Leben lang hatte er reihenweise Editionsvorhaben gehegt (von der Bibel über die Kirchenväter bis hin zu den Neoplatonikern), ohne allerdings jemals eines von ihnen zum Abschluss zu bringen.
Aber auch andere Rechnungen gehen nicht auf. Bevor Bouchards Tagebuch wiederentdeckt wurde, hatte man ihm weder homosexuelle Beziehungen noch sexuelle Abweichungen irgendeiner Art nachgesagt, einschließlich der |761|Impotenz, die in seinen Tagebüchern die Hauptrolle einnimmt. Nicht einmal ihm feindlich gesonnene Zeitgenossen wie etwa Chapelain oder Guez de Balzac, die ihn immerhin als Parasiten und Angeber beschimpften, erwähnten dies jemals. Die üble Nachrede, deren Opfer er kurz vor und nach seinem Tod wurde, betrifft ausschließlich sein Bestreben, Bischof zu werden (vgl. J.-L. Guez de Balzac, Oeuvres, Paris 1665, passim und Jean Chapelain, Lettres, Paris 1880, passim).
Cassiano dal Pozzo kannte Bouchard. Beide standen sie in den Diensten der Barberini. Trotzdem scheint es, als wäre er erst nach dem Angriff von 1641 dessen Freund geworden. In den Akten Cassiano dal Pozzos, heute in der Accademia dei Lincei in Rom aufbewahrt, finden sich nur acht Briefe von Bouchard, drei von ihnen ohne Datum, genau vier aus dem Jahr 1641, aber aus den zehn Jahren zuvor nur ein einziger von 1633. Es ist schwer nachvollziehbar, warum Bouchard seine intimsten und kompromittierendsten Aufzeichnungen ohne vorherige Absprache ausgerechnet jemandem hätte anvertrauen sollen, der alles andere als ein alter Freund war.
Das Gutachten
Diese merkwürdigen Zusammenhänge veranlassten uns, einen Blick auf die Originale der handschriftlichen Tagebücher zu werfen und sie mit den Originalbriefen zu vergleichen. Was zunächst nur ein Verdacht gewesen war, schien sich als Gewissheit herauszustellen, als wir signifikante Unterschiede zwischen den zwei Handschriften feststellten, vor allem in den Abschnitten des Tagebuchs mit heiklem Inhalt.
Unseren Zweifeln schloss sich, unter dem Vorbehalt der Verifizierung durch ein ausführliches professionelles Gutachten, ein Graphologe an: Die Tagebücher schienen, zumindest in den erotischen Abschnitten, gefälscht zu sein.
Die Fälschung der Tagebücher hätte eine Erklärung für alle Rätsel der Bouchard-Geschichte geliefert. Unser Verdacht schien sich voll und ganz zu bestätigen, als uns ein Buch aus dem Jahr 1754 in die Hände fiel, das die gesamte schriftliche Korrespondenz eines Freundes und Mitarbeiters von Bouchard, des Musikliebhabers Giovan Battista Doni, beinhaltet (Io. Baptistae Donii Patricii Florentini, Commercium literarium nunc primum digestum editumque studio et labore An. Francisci Gorii, Florenz 1754). Der Herausgeber der Edition, |762|Anton Francesco Gori, der Bouchard nicht kannte, fügt dem Brief vom 20. April 1641, in dem Bouchard Doni vom erlittenen Angriff berichtet, eine Anmerkung hinzu: »Hinter diesem Namen [Bouchard] versteckt sich Holstenius, den ich aufgrund der Ähnlichkeit der Schrift als Verfasser dieses Briefes vermuten würde«.
Wir suchten Originalhandschriften von Holstenius aus dem Jahr 1641 heraus. Die Handschriften von Bouchard und Holste ähnelten sich tatsächlich. Es lag nun nahe, Holste zu verdächtigen. Er war der perfekte Mann für die Fälschung der Tagebücher: Als Gräzist wie Bouchard und aller Wahrscheinlichkeit nach neidisch auf ihn, gehörte er den Kreisen der Starken Geister von Peiresc und denen der Brüder Du Puy an, war sehr eng verbunden mit Cassiano dal Pozzo und zeigte außerdem, laut graphologischer Analyse, eine große Ehrfurcht gegenüber ihm nahestehenden Personen. Kurz, es war nicht schwer vorstellbar, dass die Gruppe der Deniaisez den hasenfüßigen und ambitionierten Holste verleitet hatte, Bouchards Handschrift auf den gefälschten Seiten seiner Tagebücher nachzuahmen.
Da wir nun davon ausgehen konnten, dass das graphologische Gutachten unsere ersten Eindrücke bestätigen würde, geduldeten wir uns nicht bis zu seiner Fertigstellung, auch weil es länger auf sich warten ließ als vorhergesehen. Wir schrieben in der Zwischenzeit den letzten Teil des Romans, in dem wir Naudé zugeben ließen, dass Bouchards Tagebuch nach seinem Tod gefälscht worden war, und gaben ihn unseren Verlegern.
Aber manchmal übertrifft die Realität sogar die Phantasie.
Es ist vorausschickend zu sagen, dass alle fünf Graphologen, die Bouchards Tagebücher begutachteten, auf einen bestimmten Zweig der Graphologie spezialisiert sind und über langjährige Erfahrungen auf ihrem jeweiligen Gebiet verfügen: Eine Kanzlei für kriminalistische Nachforschungen und forensische Schriftgutachten (Studio dottori Andrea e. Vincenzo Faiello), die mit verschiedenen italienischen Gerichtshöfen zusammenarbeitet und drei Niederlassungen in Süditalien besitzt, koordinierte die Arbeiten des Centro di Grafologia Medica in Rom (in erster Linie ausgeführt durch dessen Gründer Dr. Enzo Tarantino, medizinischer Leiter und Universitätsdozent), des auf medizinische Heil-Hypnose und Schreiben unter Hypnose spezialisierten Psychologen Dr. Rizzica und der aus der französischen Schule kommenden Dozentin für antike Graphikstile Dr. Manetti (Präsidentin des Instituts für französische Graphologie ARIGRAF in Mailand und verantwortliche Direktorin |763|der Zeitschrift »Stilus«, für die sie die nachweisbaren Anzeichen der Nötigung in der Graphie des Abgeordneten Aldo Moros während der Zeit seiner Entführung vor seiner Ermordung durch die Terroristen der Roten Brigade erforschte).
Die Gruppe der Gutachter nahm einen Vergleich der handschriftlichen Briefe Bouchards mit dessen Tagebuchaufzeichnungen vor. Die Nachforschungen begannen mit der direkten Untersuchung der Originale, was einen gewissen Dienstreiseaufwand erforderte: Die beiden Teile von Bouchards Tagebüchern werden in Paris aufbewahrt (Bibliothèque Nationale de Paris, Nouv. Acq. Fr. 4236, und Bibliothèque de l’école des Beaux Arts, ms. 502), während sich die gesichteten Briefe sowohl in Paris (Briefe von Bouchard an die Brüder Du Puy und an Peiresc, Bibliothèque Nationale, Collection Dupuy) als auch in Rom (Accademia Nazionale dei Lincei, Bestand Cassiano dal Pozzo – Lettere di Bouchard, vol. VII [5]) befinden. Im Folgenden nehmen wir die Ergebnisse des Gutachtens vorweg:
Die Untersuchung der Dokumente kann objektiv und voller Überzeugung wie folgt abgeschlossen werden:
– Die Stellen der untersuchten Tagebücher, die intime Erfahrungen und pornographische Beschreibungen beinhalten, wurden von derselben Person angefertigt, die auch die anderen Schriftstücke verfasst hat, allerdings unter sehr offensichtlichem starken Zwang und psychisch-physischem Druck seitens Dritter oder außerhalb seines natürlichen Ausdrucks liegender Mittel (pharmakologische Substanzen, hypnotische Induktion, Drohungen u.ä.);
– Die graphologischen Charakteristiken in diesen Abschnitten, die im starken Kontrast zu denen mit »gewöhnlichem« Inhalt stehen, lassen vermuten, dass sie von der betreffenden Person in ihrer letzten Lebensphase und gegen ihren Willen niedergeschrieben und erst nachträglich in den Zusammenhang der Tagebücher eingefügt wurden.
Die skandalösen Seiten in Bouchards Tagebuch wurden also tatsächlich erst nach seinen anderen Tagebucheinträgen verfasst, aber nicht von Holste, sondern von Bouchard selbst, der von anderen in den letzten Tagen seines Lebens dazu gezwungen worden war.
Laut den Gutachtern zeigt Holstes Graphie nichts anderes als eine starke Abhängigkeit von Bouchard, die beispielsweise durch ein Gefühl von Neid, vereint mit dem Aufenthalt im selben Arbeitsumfeld entstehen konnte.
|764|Alles änderte sich: Die Tagebücher waren nicht mehr das Ergebnis eines Schwindels, sondern einer Nötigung. Jemand hatte Bouchard dazu gebracht, gegen seinen Willen zu schreiben.
Das Ende des Romans musste neu geschrieben werden. Und wie der Leser auf den letzten Seiten, die diesem Nachwort vorangehen, schon festgestellt haben wird, taten wir dies.
Der Angriff laut Gutachten
Glaubt man der allgemein anerkannten Rekonstruktion der Wissenschaftler, war das Attentat vom Abend des 10. Märzes 1641 auf dem Petersplatz in Rom die Ursache für Bouchards Ableben fünf Monate später am 27. August.
Das Ergebnis des Gutachtens widerspricht allerdings dieser Rekonstruktion.
Der Schriftzug lässt keine Elemente erkennen, aus denen man auf die Präsenz eines Verwirrungszustandes oder einer Dysgraphie, hervorgerufen durch Schäden am Gehirn oder den äußeren Gliedmaßen, schließen könnte. Die Graphie ist gleichmäßig strukturiert sowohl in den Abständen zwischen den Buchstaben als auch in den Zeilenabständen, und auch kleine Abweichungen sind vom Betroffenen frei ausgedrückt.
Sowohl die »parallelen« als auch die »sinuösen« Schriftzeichen lassen einen ausgeglichenen Gemütszustand erkennen, der mit der stressgenerierten Situation einer Person, die sich von einem wie in den Chroniken geschilderten Angriff nicht erholt hätte, unvereinbar ist. »Sinuös« kann eine Schrift nur sein, wenn sie spontan ist, was vom Merkmal Fluida angezeigt wird. Es ist Anzeichen einer artistischen Ader, einer gleichermaßen feinfühligen und kraftvollen Person, je nachdem wie es die Umstände verlangen. Es ist zusammengefasst alles was man unter dem Konzept der künstlerischen, intellektuellen und moralischen Einfühlung versteht.
Der Tod kann nicht aufgrund der Nachwirkungen der Gewalttat erfolgt sein, da es kein Anzeichen einer zeitlich-räumlichen Kompensationsstörung gibt, wie sie unweigerlich bei einer Gehirnblutung (Gehirnschlag oder inneren Verletzung) entstehen würde. Im Gegenteil war die durch den Schlag auf das Ohr und den vierten und letzten Schlag auf den Kopf hervorgerufene |765|Blutung vermutlich lebensrettend, da sie das Ausfließen des Blutes und somit die schnelle Erholung des (jungen) Betroffenen innerhalb weniger Tage (bis zum Verfassen des Briefes am 20. März, zehn Tage nach dem Angriff) erlaubte. Eine mögliche Lungenverletzung kann außerdem ausgeschlossen werden, da diese zu einem Abflauen der Druckstärke der Schrift geführt hätte, welche im Gegenteil druckstark und gebunden und schließlich »einfallsreich« und beharrlich ist.
Bouchards Persönlichkeit laut Gutachten
Sowohl in den Briefen als auch in den nicht anstößigen Passagen der Tagebücher tritt eine scharfsinnige, intelligente, wache Persönlichkeit ohne jegliche psychische Störung zutage. Hier sind einige Auszüge aus der graphologischen Untersuchung:
Deutliche Ausprägung der Beobachtungsgabe der Wirklichkeit: Neigung zur Beobachtung von Einzelheiten einer Sache.
Das Ich ist sich dessen, was es in all seinen Einzelheiten gesehen hat, bewusst und muss dies in seine Vorstellung der Welt mit einbeziehen. Die fokussierten Einzelheiten sind zahlreich. Diese Funktion führt das Gehirn spontan und mit Freude an der Äußerung aus. Es kommt auf den »Geschmack«, was keine Müdigkeit verursacht, da es Gefallen daran findet, sich in der Beobachtung der Einzelheiten aufzuhalten.
Es sammelt, verwaltet und vereint eine enorme Anzahl an Beobachtungen und wertet sie in einem einzigartigen, extrem hoch entwickelten und tief greifenden Interpretationssystem der Wirklichkeit aus. Hier handelt es sich um das graphologische Merkmal »ausführlich«, also flüssige Schrift und tiefe Intelligenz.
Dieses graphologische Merkmal deutet auf ein enorm durchdringendes Denkvermögen und fast eine Art Ziselierung der Gedanken hin; es trägt die Tendenz zur raffinierten Beobachtung, zur Diskussion, zur logischen Schlussfolgerung in sich. Wer eine »ausführliche« Schrift hat, neigt zu philosophischen Studien und verspürt den Drang, sich sein persönliches System zurechtzulegen.
|766|Ist viel Raum zwischen den Wörtern, deutet dies hauptsächlich auf einen Verstand hin, der die Wahrheit spitzfindig durchleuchten kann, sowie auf eine feine Gedankenführung und die Neigung zu wissenschaftlicher und künstlerischer Auslegung.
Bouchards kleine Handschrift ist begleitet von einer tiefen Intelligenz (anhand der Buchstaben mindestens 7/10) und ohne Hinweise auf Stocken der Schrift. Sie bildet das graphologische Merkmal »ausführlich«, wesentlich für den Intellekt, Zeichen von »tiefer und raffinierter Intelligenz«.
Im Allgemeinen bewahrt der Betroffene, auch wenn er vielerlei Gemütszuständen ausgesetzt ist, die ihn je nach Inhalt der geschilderten Erfahrungen begeistern oder bedrücken, in den Teilen des Tagebuches, die Entdeckungen, Forschungen und Beschreibungen enthalten, eine stabile Ausgeglichenheit unter Beibehaltung der Automatismen und Veranlagung der Schrift und des Ausdrucks sowie der generellen und speziellen Räumlichkeit.
Die Schrift ist entsprechend flüssig und fließend in allen Äußerungen und weist kein pathologisches Holpern und Stocken dauerhaften oder vorübergehend nervösen Ursprungs auf.
Die anstößigen Passagen des Tagebuchs im Licht des Gutachtens
Diese Beobachtungen ändern sich drastisch bei der Untersuchung der Seiten, die für immer Bouchards Reputation vernichteten:
Die Schrift zeigt sich verkleinert. Die angestrengte Reduzierung der Schriftgröße beeinträchtigt das Geschriebene und das Breitenverhältnis, sodass die Abstände zwischen den Buchstaben extrem gequetscht, der Wortabstand unproportioniert und die Breite der einzelnen Buchstaben reduziert wird.
Es überwiegt das »eckige« Merkmal, das auch in der Kategorie »spitze Schrift« auszumachen ist, in der Buchstaben und Verbindungen plötzliche Abweichungen aufweisen. Mit der Kantigkeit und den darin reflektierten gefühlsbetonten und persönlichen Tendenzen steht sie im starken Gegensatz |767|zu der »runden« Schrift, die in den übrigen (den nicht »verdächtigen«) Teilen des Tagebuchs vorzufinden ist.
Die Schrift der verdächtigen Teile ist außerdem durch einen übermäßig starken Druck auf dem Abstrich der kleinen Ovale charakterisiert, was mit einer uneinsichtigen Verstocktheit identifiziert werden kann.
Es ist symptomatisch zu beobachten, dass die charakteristischen linkskonkaven Striche, Zeichen von Verteidigung, auftauchen und die Ausbuchtungen unter der Linie des Buchstaben g vollständig verschwinden.
Der Abstand zum linken Rand vergrößert sich im Vergleich zu dem vorher Geschriebenen um das Doppelte.
Diese offensichtlichen Unterschiede sind Zeichen eines starken emotionalen Drucks von außen und einer durch das Verschweigen des psychischphysischen Zustandes hervorgerufenen Anspannung.
Anspannung und Druck könnten derart gestaltet sein, dass sie dem Betroffenen nicht mehr erlauben, die Kontrolle über seine Handlungen zu behalten. Allerdings steht der Inhalt der Äußerungen in Konflikt mit solchen Zuständen der »Machtlosigkeit« oder der grotesken Unterwerfung. Dies ist vermutlich einem erzwungenen Abschreiben ganzer von anderen vorgeschriebener Texte geschuldet. Die schreibende Person könnte also gezwungen worden sein, diese Seiten abzuschreiben.
Die kleine Schrift und das Fehlen von Schnörkeln, die sichtbar dickflüssige aber trockene Druckstärke, verdeutlicht durch die »Knöpfe« und Kleckse formenden absteigenden Tintenspuren, und die Kantigkeit lassen dazu tendieren, diese Schrift als ›minutiös‹ zu definieren, also als eine kleine, nicht flüssige Handschrift ohne geistige Zustimmung zum Geschriebenen.
Es taucht auch das Merkmal »verwickelt« auf, das durch Holprigkeit, Stocken und Verlängerungen, aber vor allem, wie im Folgenden gezeigt wird, durch eine Verschränkung der Buchstabenstriche, die in den vorigen Mustern nicht zu finden ist, charakterisiert ist. Auch die »Verwirrungswindungen« am Ende der Worte sind zu bemerken.
All dies ist absolut nicht vereinbar mit der Hypothese, die »belasteten« |768|Teile des Tagebuchs seien vor dem Brief vom 20. März 1641 geschrieben worden.
Kurz, diese Passagen sind offenbar erst nach diesem Brief geschrieben worden, unter einem sichtlichen physisch-psychischen Zwang.
Der Schriftverlauf der Abschnitte mit erotisch-pornographischem Inhalt scheint Ausdruck der erlittenen Nötigung und der daraus folgenden wahrscheinlichen Verzweiflung desjenigen, der die Ausweglosigkeit seiner Situation sieht, zu sein: dieselben Anzeichen sind auch in den Briefen des Parlamentsabgeordneten Aldo Moro, die er in Gefangenschaft der Brigate Rosse zwischen dem 16. März (Tag der Entführung) und dem 9. Mai 1978, dem Tag seiner von den Brigaten angekündigten Ermordung, geschrieben hat. Die Phänomene, die in der Schrift Bouchards anzutreffen sind, wiederholen sich analog, beispielsweise mit dem Auftauchen der Merkmale »holprig auf der Stelle« und »trocken«, die mit der Entwicklung der Situation und der Wahrnehmung der Unabwendbarkeit des eigenen schlimmen Schicksals einhergehen.
Es ist plausibel, dass eine schrittweise Vergiftung in Zusammenhang mit Substanzen, die zeitweise terrorisierende Halluzinationen provozieren, stattgefunden hat. Das Merkmal »gedrungen (zweite Form)«, das in den angefochtenen Schriften, aber nicht in den Vergleichstexten auftaucht, kann in der Tat mit Gallenentleerungen in Folge starker Vergiftung und unterdrückter Wut, die in den mit aller Wahrscheinlichkeit auf die Einnahme toxischer Substanzen folgenden Ausbrüchen zum Ausdruck kommt, einhergehen.
Die Untersuchung lässt eine kombinierte Wirkung aus allen Techniken der Bedrohung und der Nötigung vermuten.
Die wahrscheinlichste Hypothese scheint also, dass die Tagebuchseiten mit erotisch-pornographischem Inhalt im letzten Lebensmonat des Verstorbenen verfasst wurden.
SCHREIBEN UNTER HYPNOSE: Aus der Untersuchung der geprüften Seiten kann man mit gewisser Wahrscheinlichkeit schließen, dass der Betroffene einer einwirkenden Macht ausgesetzt war, er also die untersuchten Seiten in einem Hypnosezustand verfasst hat, der von Dritten mit Hilfe von Suggestionsmitteln herbeigeführt wurde, wie sie in den Medizinerkreisen der Paracelsianer und der an der platonischen Magie orientierten Medizin vorhanden sein konnten. Allerdings zeigt die Schrift durch die Präsenz graphischer |769|Merkmale, die ein Auflehnen gegen die Hypnose signalisieren, dass die Suggestion und der Versuch »magnetischer« Einflussnahme nicht ohne Gegenwehr und Qualen seitens des Betroffenen stattgefunden haben.
Das Gutachten wurde in einer Wiener Notariatskanzlei hinterlegt. Auf Nachfrage kann eine Kopie angefertigt und zugeschickt werden. Es fallen lediglich Porto und Herstellungskosten an:
Dr. Stefan Prayer
Notariatskanzlei Prayer-Rahs
Niederhofstraße 26–28/4/5
1120 Wien (Österreich)
Cassiano und Pirro Ligorio
Ist es möglich, dass Cassiano dal Pozzo (1588–1657), herausragende Persönlichkeit der intellektuellen Welt im Europa des 17. Jahrhunderts, in irgendeiner Weise die Tagebücher Bouchards manipuliert hat?
Als Bouchards Testamentsverwalter hatte Cassiano sicher eine vorteilhafte Position (einen kleinen Fehler macht Pintard, Le libertinisme érudit, op. cit., S. 238, der als Testamentsverwalter den Kartäuser Du Puy nennt).
Als Gelehrter, Antiquar, Kunsthändler, Vermittler von Kunstaufträgen und angesehener Geschäftemacher gehört Cassiano zu der Kategorie Mensch, der auch Elia Diodati, der unergründliche Propagandist Galileos, angehörte: Sie selbst produzierten wenig, ließen aber andere oft für sich arbeiten. In seinem Museo Cartaceo stellte Cassiano eine enorme, fast schon enzyklopädische Sammlung von Fundstücken und Zeugnissen über die Bräuche der klassischen Welt zusammen. In seiner Sammeljagd nach Materialien zur Antike fanden sich auch umstrittene Quellen ein. Cassiano war zum Beispiel ein großer Sponsor des dreisten und »kreativen« Pirro Ligorio (1514–1583), von dem er nicht nur echte Objekte in Umlauf brachte, sondern auch nicht wenige gefälschte.
Die Täuschungen Pirros werden seit Generationen untersucht und diskutiert. Seine Zeitgenossen wie auch die Historiker des 18. und 19. Jahrhunderts verurteilten offen die zahlreichen Fälschungen, die seine Antichità Romane enthält, eine ausufernde Sammlung von Zeichnungen, Beschreibungen und Kommentaren zu antiquarischen und literarischen Zeugnissen der Antike |770|(Inschriften, Statuen, Monumente etc.), die sich heute unter anderem verstreut in Neapel, Oxford und Rom befindet (vgl. G. Vagenheim, La falsification chez Pirro Ligorio, in: »Eutopia«, 3 (1994), S. 67–104). Um seine Falsifikate anzufertigen, griff Pirro auf die Hilfe des Gräzisten Benedetto Egio zurück, der wie Darmarios in Kontakt mit Isaac Casaubon stand, welcher Scaliger das geheimnisvolle Synkellos-Manuskript geliefert hatte (vgl. Hélène Parenty, Philologie et pratiques de lecture chez Isaac Casaubon, Beitrag zum Kongress »Philologie als Wissensmodell/La philologie comme modèle de savoir«, München 20.–22. Juli 2006).
Die moderne Kritik allerdings versucht den neapolitanischen Humanisten freizusprechen, indem sie beteuert, dass seine Werke keine Fälschungen waren, sondern Nachbildungen, um in den Genuss der Anschauung beschädigter oder bruchstückhaft erhaltener antiker Bilder, Münzen und Inschriften zu kommen. Gemäß dieser neuen Blickrichtung wurden mit der damaligen Geisteshaltung Pirros »fiktive Anschauungsobjekte« als vollkommen legitim betrachtet. Eine recht wohlwollende Erklärung, die heute auf diverse zentrale Figuren des Humanismus angewandt wird, die kommerzielle Verwertung dieser »Rekonstruktionen« allerdings unberücksichtigt lässt.
Vor allem aber bleibt es im Licht dieser Argumentation schwer zu erklären, warum schon Pirro Ligorios Zeitgenossen, wie zum Beispiel sein äußerst gelehrter Freund Antonio Augustín (der sich griechischer Kodizes bediente, die ihm vom Kopisten und Fälscher Andrea Darmarios vorbereitet wurden) oder der ebenso gebildete Onofrio Panvinio (seinerseits verantwortlich für eine berühmte Fälschung Ciceros), Pirro beschuldigten, die Rekonstruktionen der antiken Monumente zu erfinden, »um die Oberhand über andere Meinungen zu gewinnen«. Ligorio entwarf zum Beispiel aus dem Nichts eine Inschrift, dessen erfundenen Text er seinen anderen Zeichnungen und Notizen hinzufügte, um einen falschen Beweis zu liefern, mit dem er die Richtigkeit einer Passage aus Suetonius bezüglich der Fasti consulares belegen wollte. Die mit der aktiven Hilfe seines Freundes, des Gräzisten Benedetto Egio, verwirklichte Fälschung konnte sich so einen Platz im Corpus inscriptionum latinarum (CIL XIV, 278) erobern, der seit dem 19. Jahrhundert die größte Bestandsaufnahme von Inschriften in lateinischer Sprache bildet. Andererseits befand sich Pirro (dem Augustìn sogar unterstellte, weder Latein noch Griechisch zu können) im Zentrum eines antiquarisch-gelehrten italienischen Umfelds, und laut Wissenschaftlern wie Ginette Vagenheim »war er nicht der einzige Verantwortliche für die vielen gefälschten in seinem Werk enthaltenen Inschriften (Epigraphie) und Münzen (Numismatik). Sondern es handelt sich in diesem |771|Fall einmal mehr um eine Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Gelehrten«. (Vgl. zum Beispiel David R. Coffin, Pirro Ligorio: the Renaissance artist, architect and antiquarian, University Park 2004, S. 21–22; Ginette Vagenheim, Les Antichità Romane de Pirro Ligorio et l’Accademia degli Sdegnati, in: M. Deramaix (Hrsg.), »Les academies dans L’Europe humaniste«, Paris 2008, S. 99, mit weiterführender Bibliographie).
Es ist interessant zu bemerken, dass derjenige, der allen voran versucht, Pirro und seine Fälschungen »freizusprechen«, ausgerechnet Anthony Grafton, der »autorisierte« Biograph von Scaliger, ist (vgl. sein Forgers and Critics, Princeton 1990, S. 126).
Gestaltlos und flüchtig bleibt das menschliche Profil Cassianos. Über mögliche Beziehungen zu Frauen ist nichts bekannt. Der Kunsthistoriker Tony Green (Nicolas Poussin paints the Seven sacraments twice, Edinburgh 2000) nennt ihn »vermutlich homosexuell«. Auch S. Morando, dem man die Herausgabe der Lettere di Gabriello Chiabrera, Florenz 2003, zu verdanken hat, erinnert an »Cassiano Dal Pozzos bekannte »Höflichkeit« gegenüber jungen talentierte Männern« (S. 343).
Der Eritreer, Rouvray, die Paracelsus-Mediziner
Wie Naudé in seiner nächtlichen Beichte Atto Melani erzählt, griffen er selbst und Cassiano ein, um den Druck des Buches des Eritreers aufzuhalten (vgl. I. Herklotz, Cassiano dal Pozzo und die Archäologie des XVII. Jahrhunderts, München 1999, S. 74 und ebd., Jean-Jacques Bouchard. Neue Spuren …, op. cit.). Das vom Eritreer geschriebene und nie veröffentlichte Porträt Bouchards steht in der Vatikanischen Bibliothek: Genau wie im Roman zu lesen ist, enthält es nicht ein Wort über die erotischen Tagebücher, wie Ingo Herklotz beobachtet hat (Ianus Nicius Erythraeus und Jean-Jacques Bouchard. Zur schweren Geburt einer neulateinischen Vitensammlung des 17. Jahrhunderts, in: »Neulateinisches Jahrbuch«, 10 (2008), S. 145–176).
Herklotz kommt jedoch zu der falschen Schlussfolgerung, dass der Angriff auf Bouchard aus Rache geschehen war: Aufgrund eines erst kürzlich entdeckten Briefes (L. Ferreri, A proposito dell’agguato e della morte di Jean-Jacques Bouchard, in: »Bibliotheca, Rivista di studi bibliografici« 2002/2, S. 198–203) glaubt er, dass der unglückselige Franzose unter den Mördern von Rouvray, eines Knappen des französischen Botschafters d’Éstrées, war.
|772|Herklotz vernachlässigt eine wichtige Quelle über das Rom zuzeiten Bouchards (P. Blet SJ, Correspondence du Nonce en France Ranuccio Scotti 1639–1641). Die Dinge ereigneten sich folgendermaßen: Der unglückselige französische Philologe hatte Rouvray angezeigt, da dieser Inhaber eines anrüchigen Lokals war. Rouvray seinerseits hatte sich die Papstmacht zum Feind gemacht, weil er an einigen gewalttätigen, von d’Éstrées gedeckten Aktionen teilgenommen hatte. Er war in Abwesenheit verklagt und verurteilt worden, auf ihn war ein Kopfgeld ausgesetzt. Anstatt nach Frankreich zu fliehen, wie die Barberini (immer bereit zur Nachsicht mit dem Feind) es ihm heimlich angeboten hatten, flüchtete der Knappe auf Wunsch des stolzen d’Éstrées nach Frosinone, wo er sich trotz der auf seinen Kopf ausgesetzten Belohnung dreist in der Öffentlichkeit zeigte und sogar an Treibjagden teilnahm. Schließlich entführten und töteten ihn zwei Bauern und zeigten seinen Kopf vor, um die fette Belohnung zu kassieren. Nur in diesem sehr indirekten Sinn also konnte sich Bouchard vorwerfen, bei Rouvrays Tod eine Rolle gespielt zu haben.
Die Rekonstruktion der medizinischen und hypnotischen Behandlung, der Bouchard von Pierre Potier unterzogen wurde, basiert auf den im Gutachten enthaltenen medizinisch-historischen und psychiatrischen Angaben. Zu den Medizinern, die entscheidende Impulse zur Iatrochemie lieferten, zählen tatsächlich auch Pietro Castelli, Pierre Potier und Marc’Aurelio Severino, der, wie im Roman berichtet, auch ein Traktat über die Graphologie verfasst hatte, das heute leider verschollen ist: Il Vaticinator (vgl. C. Webster, M. Pelling, S. Mandelbrote, The practice of reform in health, medicine and science 1500– 2000: essays for Charles Webster, Aldershot 2005).