DISKURS LX

Darin unerwartet der Name des großen Galileo Galilei auftaucht und man von dem Prozess hört, der ihm einige Jahre zuvor gemacht wurde.

Sofort zuckte die ganze Gruppe zusammen. Fast brachte Schoppe den armen Kemal, der ihn auf dem Rücken trug, zu Fall, als er sich neugierig nach uns umdrehte. Wie ein Rudel Wölfe richteten die anderen Augen und Ohren auf mich und den Inselbewohner.

»Wo hat er das gefunden?«, zischte Naudé mir ins Ohr, nachdem er sich blitzschnell zwischen mich und den Bärtigen geschlängelt hatte.

»Er hat es aus seiner Tasche gezogen, mehr weiß ich nicht«, flüsterte ich hastig, einen Hustenanfall vortäuschend, um mir die Hand vor den Mund halten zu können.

»Kann ich mal sehen?« Mit eleganter Dreistigkeit entwand Naudé meinem Gesprächspartner das Blatt.

Der Bärtige wagte nicht, sich dem geschickten Handstreich zu widersetzen, auch weil Naudé das Dokument schon gierig überflog und |419|die anderen Gelehrten, Pasqualini und du, Atto, ihn bereits umringt hatten wie Fliegen, die sich auf ein Stück Fleisch stürzen.

Es handelte sich nicht, wie erhofft, um ein weiteres Fragment antiker Autoren, sondern um ein Blatt aus den Aufzeichnungen Bouchards. Keine vollständigen Sätze, sondern Gedankenfetzen, dürre, hastig aufs Papier geworfene Notizen:

Biographie: daraus wird nichts. G. hat kein Vertrauen.

Er wirkt senil, ist aber hellwach.

Dialog über die zwei hauptsächlichsten Weltsysteme. Material und Zeugenaussagen des Prozesses neu ordnen. G. wollte unbedingt verurteilt werden.

E.D. hat schon alles für ihn getan.

Leute, denen man sich nicht widersetzen kann. Die Gotteslästerungen überwiegen, wie bei den antiken Historikern. G. folgt Scaliger.

Impia cohors. Darmarios.

Alles führt zurück auf die Zeit.

Wer sich hinter dem diskreten Kürzel »G.« verbarg, war nicht schwer zu erraten, folgte doch gleich darauf der Titel des unsterblichen Hauptwerks von Galileo Galilei: Dialog über die zwei hauptsächlichsten Weltsysteme.

Aus dieser Notiz ließ sich schließen, dass Bouchard Material für eine Biographie Galileos gesammelt hatte, außerdem Zeugenaussagen in dem Prozess, bei dem der Wissenschaftler von einem Kirchengericht verurteilt worden war. Dann hatte er Galileo persönlich getroffen, doch ohne Ergebnis. Der toskanische Astronom vertraute ihm nicht, und ein gewisser E.D. hatte schon alles für ihn getan (aber was?).

Bouchards Verdacht, Galileo habe sich absichtlich verurteilen lassen, wurde mit Bestürzung aufgenommen. Nur Schoppe nickte hämisch: hatte er es nicht immer wieder gesagt?

Wer die Leute waren, »denen man sich nicht widersetzen kann«, war nicht zu ergründen. Die Gotteslästerungen erinnerten dagegen an die lange Liste mit Ammenmärchen der antiken Historiker und an die gestern in der Tasche der schlafenden Bärtigen gefundene Notiz. Rätselhaft waren die letzten Äußerungen: wieder tauchte die impia cohors, also die »gottlose Bande« auf, und was bedeutete: »G. folgt Scaliger«? Und dieser Darmarios? Wer oder was zum Teufel war das? Das |420|größte Geheimnis schließlich war der letzte Satz: »Alles führt zurück auf die Zeit.« In der zuletzt gefundenen Notiz hatten wir gelesen: »Die Gotteslästerungen der antiken Historiker verderben die Zeit.«

Armer Bouchard, dachte ich.

Das Blatt ging von Hand zu Hand, und zu meiner größten Überraschung folgte nicht der übliche Aufruhr und eine Unterbrechung des Marsches, sondern tiefste Grabesstille.

Die Gruppe verteilte sich wieder ordentlich, und plötzlich bildeten sich zwei fast parallele Reihen – erstaunlich bei einer abenteuerlich zusammengewürfelten Truppe von Schiffsbrüchigen. Hinten marschierten Malagigi und dein falscher Barbello, Hardouin ging ihnen voran.

Unser Ziel war die Piana dei Morti. Ich überlegte, dass Naudé vor unserem Aufbruch gewiss einen Blick auf seine Karte geworfen hatte. In welche Ecke der Insel würde man uns führen? Sehr wahrscheinlich dorthin, wo das Kreuz eingezeichnet war.

Nur Schoppe, dem nichts oder fast nichts die Sprache verschlug, wagte einen leisen Kommentar:

»Unglaublich. Überall taucht dieser Betrüger Scaliger auf.«

»Hör doch auf, Caspar«, ermahnte ihn Naudé, ebenfalls flüsternd.

Das Mysterium der Zeit
titlepage.xhtml
cinnertitle.html
cimprint.html
caboutBook.html
caboutAuthor.html
cnavigation.html
ctoc.html
c4.html
c5.html
c6_split_000.html
c6_split_001.html
c7.html
c8.html
c9.html
c10.html
c11.html
c12.html
c13.html
c14.html
c15.html
c16.html
c17.html
c18.html
c19.html
c20.html
c21.html
c22.html
c23.html
c24.html
c25.html
c26.html
c27.html
c28.html
c29.html
c30.html
c31.html
c32.html
c33.html
c34.html
c35.html
c36.html
c37.html
c38.html
c39.html
c40.html
c41.html
c42.html
c43.html
c44.html
c45.html
c46.html
c47.html
c48.html
c49.html
c50.html
c51.html
c52.html
c53.html
c54.html
c55.html
c56.html
c57.html
c58.html
c59.html
c60.html
c61.html
c62.html
c63.html
c64.html
c65.html
c66.html
c67.html
c68.html
c69.html
c70.html
c71.html
c72.html
c73.html
c74.html
c75.html
c76.html
c77.html
c78.html
c79.html
c80.html
c81.html
c82.html
c83.html
c84.html
c85.html
c86.html
c87.html
c88.html
c89.html
c90.html
c91.html
c92.html
c93.html
c94.html
c95.html
c96.html
c97.html
c98.html
c99.html
c100.html
c101.html
c102.html
c103.html
c104.html
c105.html
c106.html
c107.html
c108.html
c109.html
c110.html
c111.html
c112.html
c113.html
c114.html
c115.html
c116.html
c117.html
c118.html
c119.html
c120.html
c121.html
c122.html
c123.html
c124.html
c125.html
c126.html
c127.html
c128.html
c129.html
c130.html
c131.html
c132.html
c133.html
c134.html
c135.html
c136.html
c137.html
c138.html
c139.html
c140.html
c141.html
c142.html
c143.html
c144.html
c145.html
c146.html
c147.html
c148.html
c149.html
c150.html
cfootnotes.html