DISKURS CVI
Darin die Entdeckung gemacht wird, dass man nicht so schlau gewesen war, wie man gedacht hatte.
Trotz des Sturms, der noch immer tobte, beobachtete die Mannschaft gespannt die Ankunft des Statthalters und der Nazarener.
»Wo ist Ali Ferrarese?«, fragtest du.
Wir starrten abwechselnd den aus dem Totenreich zurückgekehrten Mustafa und einander staunend an. Doch es war kein Trugbild, und ein Detail machte alles noch unglaublicher: Mustafa trug seinen unvermeidlichen weißen Schal um den Hals. Kemal wich unseren Blicken aus.
Kaum waren wir an Bord, umringte die Mannschaft den Statthalter. Dann erschien auch der große Anführer.
»Ali!«, grüßte Kemal ihn höflich und küsste ihm die Hände. Sogleich zog der Kommandant sich zurück, während sein Statthalter sich mit der Mannschaft unterhielt. Mustafa stand dicht bei Kemal wie die anderen Matrosen und erstattete ihm, unhörbar für uns, rasch Bericht.
Während er sprach, drehte der Statthalter uns den Rücken zu, als wollte er sich vor den Fragen schützen, die wir ihm hätten stellen können. Ich sah, wie du ihm deine Fragen im Geiste zwischen die Schulterblätter |709|bohrtest: Hast du uns nicht Mustafas Leiche gezeigt? Welches Spielchen hast du mit uns getrieben? Was war dein Plan? Wer bist du, Kemal?
Just in diesem Moment wandte der Allah ergebene Italiener, der hoffnungslose Renegat, Kemal der Lügner, sich zu uns um, als sei er nur vorübergehend abgelenkt worden. Doch er machte nur eine Handbewegung, flüsterte Mustafa etwas ins Ohr, und augenblicklich wurden wir fortgebracht.
Man behandelte uns nicht grausam, im Gegenteil. Kemal schien angeordnet zu haben, uns Misshandlungen zu ersparen. Immerhin waren wir seine Gefährten im Unglück gewesen, und der falsche Barbello noch etwas mehr. Wenn ich recht verstanden hatte, hatte der Statthalter der Mannschaft nichts über die zweifache Natur unserer Begleiterin gesagt: die Enthüllung wäre ihr übel bekommen.
Wir wurden von vier Korsaren begleitet, die uns stützen mussten, damit wir nicht vor Erschöpfung zusammenbrachen. Bevor er uns verließ, grunzte Kemal eine Art rauen Gruß, und das war alles. Jetzt, wo er an Bord wieder in Amt und Würden aufgenommen war, konnte er natürlich nicht zeigen, dass er sich mit drei dreckigen Nazarenern verbrüdert hatte.
Wir wurden unter Deck in eine kleine Zelle aus vier grob zusammengenagelten Bretterwänden gesperrt, und wie in vielen solcher Verschläge auf Schiffen war die Decke so niedrig, dass man nicht aufrecht stehen konnte. Es war eindeutig ein Käfig für den Transport von Sklaven oder Gefangenen, die isoliert gehalten wurden. Unsere Behandlung aber war geradezu luxuriös. Man gab uns ein paar alte Decken, ein paar Lumpen zum Abtrocknen, Trockenfleisch, Schiffszwieback und Wein. Nachdem wir uns den Magen ein wenig gefüllt hatten, schliefen wir sofort ein. Viele Stunden lagen wir so am Boden, fiebernd und von Kälteschauern geschüttelt, zwischen Leben und Tod schwebend. Wie im Traum hörten wir von weitem die Schreie und den Lärm der Mannschaft.
Als die Kälte ihren Griff um unsere Knochen endlich gelockert hatte, fanden wir die Kraft, ein paar Worte zu wechseln.
Eines sei klar, sagte Barbara: Kemal hatte der entsetzlichen Flucht aus Gorgona, der Kälte und Angst vor dem nahen Tod nur deshalb so gut widerstanden, weil er wusste, dass das Schiff von Ali Ferrarese in der Nähe kreuzte und bald am Turm der Meloria auftauchen würde.
|710|»Von wegen Mut«, zischte sie, »er wusste genau, dass die Seinen schon bald kommen würden.«
»Wie soll er das gewusst haben?«, fragtest du.
»Ich weiß es nicht.«
Ein Schiffsjunge versorgte uns erneut mit Nahrung und ließ uns dann hinaus, damit wir unsere körperlichen Bedürfnisse in der Backbordkabine erledigen konnten.
Als er uns zu unserem Käfig zurückführte, kam die erste Überraschung.
»Seht mal!«, riefst du aus.
Am Ende des erstickend engen Korridors, der zu unserer Zelle führte, stieß ein Matrose einige unverwechselbare Gestalten grob durch eine kleine Tür: drei Männer mit langen Bärten und verwildertem, ungepflegtem Aussehen. Wie eine Erscheinung verschwand das Trio sofort hinter der Tür.
»Das waren doch die drei Bärtigen!«, rief Barbara aus. »Was machen die denn hier?«
Von diesem Moment an konntet ihr nicht mehr schlafen, nicht einmal mehr ruhig am Boden sitzen. Ihr begannt, bei jedem Geräusch die Ohren zu spitzen, ihr spähtet in alle Richtungen und schnuppertet jedem verdächtigen Geruch nach.
Zwei schmutzige Kerle von der Rudermannschaft gingen an unserem kleinen Gefängnis vorbei.
»Heda, ihr beiden!«, riefst du, »sagt Kemal, dass wir mit ihm sprechen wollen. Wir wollen wissen, wo ihr uns hinbringt.«
»Lasst gut sein, Signorino Atto«, versuchte ich ihn zu beruhigen.
Die beiden starrten dich wortlos an und schienen sich darüber zu wundern, dass wir nicht wussten, welches das uns zugedachte Los war.
Wir lauschten weiterhin angestrengt und versuchten, an den Geräuschen, die von der Brücke kamen, zu erkennen, was das Schicksal für uns bereithielt.
Alsbald folgte die zweite Überraschung. Eine vertraute Stimme und vor allem eine Ausdrucksweise, die keine Verwechselung zuließ:
»Nimm die Hände von mir, du Hund!«
Caspar Schoppe hielt sich einen aufdringlichen Matrosen vom Leib. Wir waren in zahlreicher Gesellschaft an Bord, das stand mittlerweile fest. Schoppe war also von den Barbaresken gefangen genommen worden. Doch wann und wie?
|711|Wenige Minuten später, Barbara war vor Erschöpfung eingeschlummert, öffnete sich die Tür unseres Käfigs und ein armer Mensch mit geschwollenem Gesicht und blutenden, verkrusteten Wunden am ganzen Körper wurde zu uns hereingeworfen. Der Unglückliche kauerte sich keuchend am Boden zusammen. Es war etwas Vertrautes an ihm. Als unsere Kerkermeister sich entfernt hatten, versuchten wir ihn zu trösten und ihm das Gesicht mit dem Wasservorrat zu waschen, den unsere Wärter uns gelassen hatten.
»Hoffentlich ist es Schoppe und den anderen, wenn sie lebendig hier an Bord sind, nicht so übel ergangen wie diesem Ärmsten«, bemerkte ich, während ich die Stirn des Mannes mit Wasser säuberte.
»Die Armen«, sagte er und schlief schlagartig ein.
Wir zuckten zusammen. Bei diesen Worten hatten wir ihn erkannt: der ehemalige Kommissar von Gorgona war wieder bei uns.
»Was macht denn dieser Wirrkopf hier?«, riefst du aus.
In den folgenden Stunden hörten wir das Echo anderer vertrauter Stimmen. Außer dem Protest von Guyetus auch das weinerliche Stimmchen von Naudé und ein paar Sätze, die direkt aus der unverwechselbaren Kehle von Marcantonio Pasqualini kommen mussten. Dann war Malagigi also nicht untergegangen! Wie sollten wir da nicht auch hoffen, dass Hardouin sich ebenfalls lebend auf dem Korsarenschiff befand?
»Wir haben gar nichts verstanden«, sagtest du.
Die Erklärung lag nahe: man hatte mit uns gespielt wie mit Kindern. Ach, die armen dummen Nazarener! Kemal hatte recht, wenn er uns verachtete. Die Korsaren waren die ganze Zeit über in der Nähe von Gorgona gewesen, sogar auf der Insel selbst, zwei Schritt hinter uns. Sie hatten sich unsichtbar und auf leisen Sohlen bewegt, während wir armen Trottel strauchelten, auf allen vieren krochen, vor Hunger und Durst fluchten und schließlich wie irrsinnige Menschenfresser den Mönch verschlangen, nach dem wir so lange gesucht hatten. Der Wald, den wir durchwandert hatten, die Klippen, die wir hinaufgeklettert waren, die schmutzigen Hütten, in denen wir übernachtet hatten – bei jedem Schritt hatten wir, ohne es zu wissen, den Atem der Korsaren im Nacken gehabt. Der schlagende Beweis? Nachdem Mustafa in Abstimmung mit Kemal seinen Tod inszeniert hatte, hatte er sich sogar noch die Freiheit genommen, seinen weißen Schal zurückzuholen, |712|den er jetzt wieder um den Hals trug. Darum hatten wir ihn in der Nacht, als wir das Boot repariert hatten, nicht mehr an dem Baum gefunden, wo er gehangen hatte.
»Sie haben uns ununterbrochen beobachtet. Wir glaubten allein zu sein, dabei waren sie Tag und Nacht in unserer Nähe. Wie hätten sie sonst die ganze Gruppe entführen können? Überfälle und Entführungen sind schließlich ihre Spezialität!«
»Und warum haben sie nicht auch uns entführt? Sie haben sogar Kemal bei unserer Gruppe gelassen«, wandtest du ein.
»Das ist doch klar«, antwortete ich. »Denk an das Sprichwort von Sertorio: Man kann einem Pferd den Schwanz ausreißen, aber nur, indem man es Haar für Haar tut. Unsere Gruppe war zu groß, um alle auf einmal zu entführen. Es hätte einen Kampf gegeben, vielleicht sogar Tote. Ali Ferrarese wollte auf keinen Fall wertvolle Beutestücke verlieren, die man für einen guten Preis verkaufen kann. Die Barbaresken haben die sicherste Strategie verfolgt, sie haben uns einer nach dem anderen abgeholt. Zuerst hat Kemal den Tod Mustafas simuliert, weil er wahrscheinlich bei den anderen Korsaren, die sich in der Nähe aufhielten, nützlicher sein konnte. Dann haben sie Guyetus abgefangen, als er sich umbringen wollte, und danach Hardouin und Malagigi, während sie ihr Glück auf dem Boot versuchten, und man muss sagen, für die beiden war es besser so. Danach wurden die drei Bärtigen entführt, weil es schien, als befände sich Philos Ptetès unter ihnen, ein Mann, der ein schönes Lösegeld wert sein konnte. Und da sie schon einmal dabei waren, auch den ehemaligen Kommissar, damit die Beute noch fetter würde. Kemal dürfte nicht einmal ein Zehntel der Geschichte von den Handschriften von Poggio Bracciolini verstanden haben, aber darum ging es ihm gar nicht. Diese Korsaren aus den Barbareskenreichen sehen in uns Nazarenern Kühe zum Melken, die so viel wert sind, wie das Lösegeld, das sie einbringen können. Es ist unwichtig, ob Philos Ptetès irgendein beliebiger Mönch war. Dieser ungebildete Ignorant Kemal hat erlebt, mit welchem Eifer wir nach ihm suchten, und daraus geschlossen, dass auch er teuer verkauft werden konnte. Er wusste nicht, dass der Mönch nur wegen der Handschriften wichtig war.
»Moment: Malagigi hat gesagt, er habe Guyetus’ Körper an einem Baum hängen und dann die Klippe hinunterstürzen sehen«, wandtest du ein.
»Vielleicht war es nur eine Puppe mit seinen Kleidern, wie wahrscheinlich |713|auch Mustafa, obwohl er auch selbst den Abhang hätte hinunterklettern und ein paar Minuten lang zwischen den Wellen Leiche spielen können. Das wäre viel sicherer gewesen und leichter zu bewerkstelligen.«
»Der Arme«, brummte der ehemalige Kommissar, ein schläfriges Auge öffnend.
Wir sahen ihn an. »Kennst du Mustafa zufällig?«, spottetest du.
»Natürlich kenne ich ihn«, antwortete er zu unserer Überraschung und sah uns mit ernster Miene an. »Mustafa, ja, und ob. Er hat mir erzählt, dass er sich totgestellt und mit geschlossenen Augen ans Ufer gelegt hat.«
Wir blickten ihn immer noch erstaunt an.
»Aber du bist ihm doch nie begegnet!«, drängtest du ungeduldig.
»In der Tat, nein, ich bin ihm nie begegnet.«
Ich fing ein Blitzen deiner Augen auf. Du bliebst eine Weile still, dann machtest du einen Vorstoß:
»Darf ich fragen, ob Ihr auf Gorgona jemals Aristoteles und Platon begegnet seid?«
»Aber sicher bin ich ihnen begegnet, sehr oft sogar.«
Du warfst mir einen vielsagenden Blick zu, deinen Mund umspielte ein Lächeln.
»Man hat uns gesagt, dass sie sich auf der Piana dei Morti herumtreiben«, nahmst du die Unterhaltung wieder auf.
»Ja, genau dort, auf der Piana dei Morti.«
»Sie haben Weidenkörbe, um Kastanien zu sammeln …«, fuhrst du ungerührt fort.
»Und was für Körbe! Sie klauen immer alle Kastanien und für uns bleiben keine übrig, vor allem Aristoteles, der ist unfreundlicher als Platon, oh ja, der hält sich für sonst was! Wie eingebildet der ist, dieser Aristoteles.«
Du hattest genug gefragt. Jetzt war es klar: der ehemalige Kommissar bejahte alles, was man ihn fragte. Seine Worte bogen sich wie Grashalme unter dem ersten Windhauch, der über sie hinwegfuhr. Was auch immer man ihm sagte, er stimmte zu und schusterte sich das bereits Gesagte notdürftig zurecht, um seine Wahnideen aufrechtzuerhalten. Er war verrückt.
»Er muss einer der vielen Irren sein, die vom Großherzog nach Gorgona verbannt wurden«, erklärtest du leise.
»Warum nur haben wir das auf Gorgona nie bemerkt, Signor Secretarius?«
»Ich weiß es nicht, Signorino Atto.«

Zum Glück ging von nun an alles sehr schnell. Von einem der beiden Schiffsjungen erhielten wir die Bestätigung unserer Vermutungen. Während wir auf der Suche nach Philos Ptetès noch durch die Wälder Gorgonas irrten, hatten die Korsaren durch einen jüdischen Händler bereits mit dem französischen Konsul in Livorno Kontakt aufgenommen und heimliche Verhandlungen begonnen. Gegen ein üppiges Lösegeld boten sie die Freilassung einer beachtlichen Anzahl Geiseln: die gesamte Mannschaft eines Brandschiffs und ein Grüppchen Edelleute, Musiker, Literaten und Philologen. Die Franzosen hatten sofort eingewilligt, denn mit der Rückgabe der Gefangenen ließ sich die Niederlage vertuschen und die militärische Ehre retten. Außerdem würden die französischen Schiffe einige wichtige Persönlichkeiten heil und gesund nach Paris geleiten, die von niemand Geringerem als Seiner Eminenz Kardinal Mazarin persönlich erwartet wurden. Die vereinbarte Summe war gewaltig, ja regelrechter Diebstahl. Doch nur so würde man verhindern können, dass die schmachvolle Geschichte bekannt würde. Die Soldaten waren bereits ausgelöst worden und ein Teil des Lösegeldes war kassiert, jetzt waren wir Zivilisten an der Reihe.
Während die Barbaresken und die französische Marine die letzten Formalitäten für unsere Übergabe regelten, wurden wir auf dem Deck der Karacke versammelt.
So konnten wir Schoppe, Naudé, Hardouin und Malagigi wieder in die Arme schließen. Nur Guyetus fehlte beim Appell. Protest erhob sich, wir fürchteten das Schlimmste für unseren betagten Gefährten. Doch vergeblich, wir erfuhren nichts über sein Schicksal.
Zu unserer großen Erleichterung fanden wir auch Rosina Martini wieder, der während der ganzen Zeit zum Glück kein Haar gekrümmt worden war.
Und so spielten sich in diesen Stunden bei den Untiefen der Meloria seltsame Szenen der Wiederbegegnung ab, bei denen Tote und Lebende aufeinandertrafen, doch die Lebenden (du, Barbara und ich) |715|weit eher an Tote gemahnten als die vermeintlich Toten (Schoppe, Naudé, Pasqualini und Hardouin), die von den Korsaren entführt, aber in Sicherheit gebracht und ernährt worden waren.
Du trugst dein kleines Fernrohr am Gürtel. Ein Barbareske kam auf dich zu, sah dich fassungslos an, entriss es dir brutal und ging ohne ein Wort davon. Zuerst warst du wie erstarrt vor Empörung, dann klärte sich alles. Du hattest das Werkzeug der Seefahrer nach dem Verschwinden von Sieben, Zwölf und Neunzehn gefunden. Es war die unfreiwillige Unterschrift der Barbaren unter die Entführung der drei Bärtigen.
»Die drei Bärtigen, wo sind sie? Sieben, Zwölf und Neunzehn!«, hörten wir Naudé kreischen.
Auch Mazarins Bibliothekar hatte sie gesehen und wollte jetzt um jeden Preis der Tasche habhaft werden, darin sich das Gastmahl des Trimalchio verbarg. Er wusste ja nichts von den letzten enttäuschenden Erkenntnissen Schoppes, er ahnte nicht, was wir in den Handschriften von Poggio Bracciolini entdeckt hatten.
Die drei Bärtigen waren da, aber die Tasche blieb verschwunden.
»Vergiss es«, brummte der Verehrungswürdige.
Naudé erbleichte.
»Auch die verloren? Wie der ganze Rest?«, stammelte er.
»So kann man es nennen«, beschied ihm der deutsche Gelehrte knapp.
Dieser Antwort ließ sich entnehmen, dass Schoppe dem Bibliothekar bereits von dem traurigen Verlust der Papiere von Philos Ptetès berichtet haben musste.
Wahrscheinlich hatte er ihm nicht alle Einzelheiten offenbart. Zu viel hätte er seinem französischen Kollegen erklären müssen: dass der vermeintliche Schatz von Philos Ptetès unter den Kanonenschüssen einer Gruppe Irrer verschüttet worden war und vor allem, dass die Zeit, dieser blinde, unermüdliche Marathonet, der uns seit Jahrhunderten vorwärts zu laufen schien, in Wahrheit mit einer dehnbaren Kette an den Startblock gebunden blieb. Mit einem Wort, es ging darum, Naudé das Tempus der Zeit zu erklären. Denn die Geschichte ist im Grunde wie die Deklination eines Verbs, also die Zeit selbst, und alles hängt davon ab, welches Tempus man wählt.
Von diesen sonderbaren, komplizierten Überlegungen hätte Caspar Schoppe seinen verhassten und geliebten Gabriel in Kenntnis setzen |716|müssen. Doch das war eine schwere Aufgabe, und Schoppe war jetzt müde, sehr müde.
Bei dieser Gelegenheit sahen wir auch Kemal wieder. Er trat sehr prächtig gekleidet auf, war mit Dolchen und Krummsäbel wieder bis an die Zähne bewaffnet und wurde von einem großen Trupp finsterer Gestalten begleitet.
»Der Nazarenerhund Guyetus ist noch immer auf dieser Seite des Grabens«, verkündete unser Korsar mit mürrischem Sarkasmus, worauf seine Eskorte aus Schurken grinste, »aber Allah hat ihm ein böses Fieber verpasst, das möglicherweise ansteckend ist. Darum muss er isoliert bleiben. Wenn das Lösegeld kommt, geben wir ihn euch zurück, dann könnt ihr mit ihm machen was ihr wollt.«
»Verzeiht, aber könnten wir bitte die Tasche dieser drei Männer wiederbekommen?«, wagte Naudé schüchtern zu fragen.
»Du meinst die drei Idioten mit den langen Bärten? Keine Angst, Nazarener, ich habe diese Schweinerei für perverse Invertierte in Sicherheit gebracht. Ich werde sie gegen gutes Geld einem Freund in Slawonien verkaufen. Nach eurem Mönch zu urteilen, holen sie sich dort mit Hilfe von diesem Zeug gerne einen runter. Ich habe kapiert, wie krank ihr Nazarener seid: Ihr schmachtet nach allem alten Plunder, haha!«
Dann gab er zwei kräftigen Matrosen ein Zeichen, worauf sie mir mit Gewalt den Hut vom Kopf rissen.
»He, was sind das für Manieren!«, protestierte ich, aber ich ahnte bereits, was sie vorhatten.
Auf Kemals Anweisungen hin steckte einer der beiden die Hand in einen Schlitz des Hutes und zog ein Bündel Papiere heraus. Der Statthalter wusste, dass sich darunter das Petronius-Fragment befand, das wir in der Torre Vecchia gefunden hatten. Es war das letzte Beweisstück für die Fälschungen von Poggio Bracciolini und würde ebenfalls in Slawonien bei Kemals Freund landen.
Wir schwiegen bestürzt. Jetzt gab der Barbareske wieder die Befehle. Unser Leben lag in seinen Händen, vor allem wenn – welch entsetzliche Vorstellung! – keine Einigung über unser Lösegeld mit der französischen Marine zustande käme. Die Tage, als Schoppe auf Kemal reiten und ihn wie ein Tier behandeln konnte, waren vorbei.
Nachdem er seine Ankündigungen gemacht hatte, warf der Statthalter von Ali Ferrarese seine lange, ergraute Mähne nach hinten und |717|verschwand, ohne uns eines Blickes zu würdigen. Wir sahen ihn nie wieder.

Die letzten diplomatischen Scharmützel zwischen Korsaren und Franzosen waren Gott sei Dank alsbald beigelegt. Geld kann sogar Berge ebnen, und der Kapitän des Schiffes Seiner Majestät, des Allerchristlichsten Königs von Frankreich, hatte sich ausreichende finanzielle Mittel besorgt, um die Sache zu erledigen.
Mit dem Lösegeld war nun endgültig alles zum Schweigen gebracht. Nur vier Geiseln würden nicht wieder heimkehren: die drei Bärtigen und der angebliche ehemalige Kommissar von Gorgona. Ihnen stand ein abenteuerlicher Epilog bevor, denn die Franzosen waren nicht bereit, auch nur einen blanken Heller für sie zu bezahlen. Also verkaufte Ali Ferrarese sie für wenig Geld an die Sklavenbäder von Tunis.
Unsere Übergabe durch die muselmanischen Barbaren an das christliche Lager fand mitten auf See statt, als wir vom Beiboot der Korsaren in eine Schaluppe der französischen Marine umstiegen.
Doch das elegante Schiff, auf dem wir nun endlich in Sicherheit waren, nahm nicht sofort Kurs auf die Heimat. Wir machten einen letzten kurzen Halt an der Insel, die uns alle beherbergt und den Traum jener genährt hatte, die in den Papieren des Philos Ptetès den Schlüssel ihres irdischen Ruhms gesucht hatten.
Die Ellbogen auf die Reling gestützt, stand ich an Deck neben Schoppe, und wir beobachteten Naudé, wie er von Bord ging und sich mit drei französischen Unteroffizieren auf den Weg in den unbewohnten Ort machte, um dort die Tasche aus hartem Leder mit der Kopie der Bibel für die Bibliothek des Kardinals zu holen. Von der bewaffneten Bande, die uns von der Insel gejagt hatte, war keine Spur zu sehen. Die verrückten Bewohner Gorgonas hatten sicherlich das Schiff Seiner Allerchristlichsten Majestät des Königs von Frankreich gesehen und sich in ihre Verstecke zurückgezogen.
Es gab jedoch ein kleines Schiff der Marine des Stephansordens, dem ein paar Fischer gemeldet hatten, dass sie im Vorbeifahren Gewehr- und sogar Kanonenschüsse auf der Insel gehört hatten. Eine Suchaktion, um jene zu bestrafen, die in die Festung eingebrochen waren und Munition und Bombarden aus dem Besitz des Großherzogs der Toskana |718|benutzt hatten, war bereits in vollem Gange. Den armen geisteskranken Inselbewohnern würde mit Sicherheit schon bald eine sehr viel strenger bewachte Unterbringung auf dem Festland zugewiesen werden. Unter den Matrosen ging das Gerücht um, dass man die Schar der Irren in diskreten Verhandlungen sogar Alis Korsaren angeboten hatte, doch der Seeräuber habe, so hieß es, das Angebot mit einer knappen Bemerkung abgelehnt: »Verrückte habe ich schon genug an Bord.«
Als Naudé wieder bei uns war, sah ich ihn ein Blatt Papier in den Händen halten. Es war die Karte der Insel. Nach dem Ende von Philos Ptetès war sie die einzige Verbindung zum Schatz des Mönchs gewesen. Jetzt war sie wertlos. Naudé blickte mich finster an, zögerte, dann zerknüllte er das Blatt und warf es ins Meer.
Ich blickte zum Verehrungswürdigen hinüber. Jetzt sah man genau, dass er krank war. Er hustete schwer und verbrachte die ganze Überfahrt in einem Sessel an Deck sitzend oder unter Deck liegend, wo es an Platz nicht mangelte, da das französische Schiff rund war, keine Galeere. Sie war fast verstummt, die teutonische Hydra von Lerna, wie Bouchard den alten Schoppe in seinen Aufzeichnungen genannt hatte. Ich ahnte, dass die Fälschungen von Poggio Bracciolini ihm immer noch bitter aufstießen. Also zog ich zwei grob mit einem Faden zusammengenähte Heftchen hervor. Sie waren zerknittert, aber noch lesbar. Ich reichte sie ihm:
CHIFFRE DER NAMEN
Platons Dialoge
»Warum erst jetzt?«, fragte er mit brüchiger Stimme, während er darin blätterte.
»Ich wollte sie nicht hervorholen, solange wir noch auf der Karacke der Korsaren waren. Sie hätten uns die Papiere weggenommen. Kemal scheint sich in den Kopf gesetzt zu haben, nun auch mit dem Verkauf von Handschriften Geld zu machen. Ihr habt es doch gehört, oder? Er will das Gastmahl des Trimalchio verkaufen.«
»Einverstanden, aber warum gebt Ihr mir das? Ihr hättet es Gabriel Naudé schenken können. Er kann Euch in Paris helfen, indem er Euch bei Mazarin in ein gutes Licht rückt. Ihr werdet lange Zeit in Frankreich bleiben müssen, da könnt Ihr Freunde gebrauchen.«
|719|Ich wollte gerade antworten, da kam er mir zuvor.
»Ich verstehe. Sogar Ihr seid, wiewohl kein Philologe, drauf gekommen. Dieser Esel Naudé wäre nie und nimmer in der Lage, so etwas zu veröffentlichen. Er ist ein ignoranter Atheist, der nur Medizin studiert hat und nicht einmal promoviert ist. Er hat das Abschlusszeugnis nur bekommen, weil er vor den Studenten und dem Direktor diese Rede gehalten hat, wie hieß das noch gleich …«
»Der Paranimf?«
»Genau, der Paranimf. Doch wartet.«
Urplötzlich hatte Schoppe den einstigen Schwung zurückgewonnen. Mit einem Wink rief er Hardouin zu sich.
»Kommt her, lieber Freund. Und Ihr, Signor Secretarius, mögt Ihr uns bitte einen Augenblick entschuldigen?« Schoppe wollte mit dem Buchhändler allein bleiben.
Er hatte mich überrumpelt. Ich machte eine Verbeugung und entfernte mich. Von weitem hörte ich nur noch:
»Ich weiß, dass Ihr ein Kind erwartet, lieber Hardouin, vielleicht sogar einen Jungen. Meinen Glückwunsch. Nun, ich habe etwas, was Ihr dem Kleinen geben könnt, wenn er im richtigen Alter ist. Man weiß nie, vielleicht kann er sich dafür begeistern. Vor allem wenn er, was ich hoffe, Eure Herzenswärme und Geistesschärfe erbt.«
»Ihr seid zu gütig«, sagte Hardouin ein wenig verlegen.
»Ich weiß, was ich sage«, erwiderte Schoppe.
Die Chiffre der Namen hatte ihre Reise angetreten. Wo würde sie ankommen? Alles hing von den Eigenschaften ihres zukünftigen Paladins ab. Auch ich hatte an Hardouin als idealen Kandidaten gedacht, denn er besaß den ungetrübtesten Geist von allen in der Gruppe, und zudem konnte er die Aufzeichnungen Bouchards drucken lassen. Freilich mangelte es ihm an Bekanntheit und den notwendigen Beziehungen, um sich in der überfüllten, chaotischen Gelehrtenrepublik durchzusetzen. Darum hatte ich mich zuletzt doch an Caspar Schoppe gewandt. Doch Schoppe selbst hatte anders entschieden.
Es würde gerade für Hardouin eine große Offenbarung werden, in diesen Aufzeichnungen zu lesen, dass Platon in Wirklichkeit erst lange nach der Ankunft Jesu erfunden worden war. Denn niemand anderes als der bretonische Buchhändler hatte mir in der Nacht, in der wir das Boot kalfatert hatten, erklärt, wie weise Papst Urban VIII. gewesen |720|war, als er sich auf das platonische Prinzip berief, nicht das wahre Wesen der Dinge erkennen zu wollen, was allein Gottes Vorrecht ist, sondern nur zu versuchen, die Dinge zu praktischen Zwecken zu beherrschen. Jetzt würde Hardouin mit Freude entdecken, dass diese erhabene Weisheit kein christliches Abschreiben bei Platon war, um es mit Guyetus Worten zu sagen, sondern das Abschreiben eines falschen Platon von einer Glaubenswahrheit.

Am nächsten Tag sah ich dich mit deinem geliebten Meister Malagigi und Hardouin in ein intensives Gespräch vertieft und trat zu euch.
»Von wegen Schiffbruch mit dem Beiboot! Wir wurden entführt, während wir schliefen!«, erzählten die beiden.
»Und der Abschiedsbrief?«, fragtest du.
»Den habe ich gewiss nicht geschrieben. Es wird dieser Verräter Kemal gewesen sein«, antwortete Hardouin.
»Gut möglich«, stimmte ich zu, mich in euer Gespräch einmischend. »Es muss eine Fälschung von Kemal gewesen sein. Vielleicht hat er sich durch unsere Gespräche über Fälschungen anregen lassen!« Ich lachte.
»Kann Kemal so flüssig schreiben?«, fragtest du zweifelnd.
»Er ist alles andere als der Ignorant, den er uns vorgespielt hat«, überlegte ich. »Vergessen wir nicht, liebe Freunde, dass wir vom Statthalter Ali Ferrareses persönlich sprechen. Zwei Jahrzehnte in den Gefängnissen der spanischen Inquisition sind keine Kleinigkeit. In dieser Zeit wird er viel gelesen und geschrieben haben, wenn die Verhöre und Folterungen es erlaubten. Wie könnte sein Statthalter weniger gebildet sein als er?«