DISKURS CII

Darin man es mit einer alten Bekannten zu tun bekommt.

Rußgeschwärzt, bedeckt mit Wunden und grässlichen Narben, das Gesicht zur Unkenntlichkeit geschwollen, Flammen des Hasses aus den Augen sprühend, zweifellos eine Beute des Wahnsinns, stand, ein großes Küchenmesser schwingend, Nummer Drei vor mir.

»Als du und deine Freunde ankamt, haben die Einwohner sich so geängstigt, dass sie die Stadt verlassen haben und an die Küste zurückgekehrt sind. Sie haben begriffen, dass ihr nur gekommen seid, um eure Nasen in ihre Angelegenheiten zu stecken. Ihr wollt gar nicht wirklich wissen, wie man bei uns in Taprobana lebt.«

Während ihres irren Geredes hatte ich Gelegenheit, diese offenbar unbesiegbare Erinnye zu betrachten, die den Einsturz iher Hütte nur durch ein Wunder überlebt haben. konnte. Verletzungen und Verbrennungen schienen nicht behandelt worden zu sein, sondern hatten sich dank der wunderbaren Heilkräfte der Natur und der Jugend von allein geschlossen. Ihre Kleider waren nur mehr schwärzliche Lumpen, zerfetzt und verdreckt, die Haare ein Wirrwarr verfilzter Strähnen, von einer unbeschreiblichen Schmutzschicht zusammengehalten. Das verrußte Gesicht war abgemagert, der Blick wahnsinnig. Durch ein Wunder musste Nummer Drei beim Einsturz ihres Hauses von einem Teil des Daches oder einem Stück Mauer bedeckt und so vor den Flammen geschützt worden sein. Die großflächigen, aber begrenzten Verbrennungen schienen vom Kontakt mit glühenden Holzscheiten |692|herzurühren, nicht von offenen Flammen. Wenn man bedachte, dass wir zurückgekehrt waren, um in den Ruinen ihres Hauses zu stöbern und sie für tot gehalten hatten, während sie unter den rauchenden Trümmern noch atmete und kurze Zeit später sogar darunter hervorgekommen war!

Ich hatte mich erhoben. Das Mädchen kam auf mich zu, das Messer in der Hand. Ich wich zurück. Die Klinge war breit und schwer, sie eignete sich gut zum Schweineschlachten, und meine Gegnerin war verrückt.

»Ich … es tut mir leid, was mit Eurem Haus passiert ist. Die Kaninchen, die Hühner …« sagte ich mit erhobenen Händen zum Zeichen meiner Kapitulation, in der Hoffnung, das Mädchen würde ruhig bleiben.

»Meinem Haus?«, sagte sie, die Brauen runzelnd. »Dem ist doch gar nichts passiert! Das hier ist mein Haus. Siehst du nicht, wie sauber und ordentlich es ist? Nur dass …«

Sie brach ab und spitzte die Ohren. Die Kanone hatte erneut geschossen. Nach wenigen Sekunden folgte der Aufprall zwischen den umliegenden Häusern. Nummer Drei lächelte.

»… nur dass jetzt der Krieg ausgebrochen ist. Die Stadtgarde hat beschlossen, die Fremden zu verjagen«, schloss sie zufrieden und bewegte sich wieder auf mich zu.

Ich nahm all meinen Mut zusammen. »Und darum müssen auch wir beide jetzt Krieg führen?«, fragte ich und wich nicht weiter zurück.

Diese direkte Frage schien sie ein wenig zu verwirren. Sie blieb ebenfalls stehen. Nummer Drei fürchtet klare Reden, dachte ich.

»Wenn Ihr nichts dagegen habt, gehe ich jetzt«, sagte ich, eine Bewegung in Richtung Tür andeutend.

»Nein!«, rief sie, hob das Messer und stellte sich zwischen mich und den Ausgang. »Erst müsst Ihr mir sagen, was Ihr mit den Papieren machen wolltet, junger Mann. Ihr habt sie angerührt, ich habe alles in Unordnung vorgefunden.«

»Welche Papiere?«

»Meine. Die ich dort unten in der Bibliothek habe.«

»Die gehören Euch nicht. Es sind meine. Und jetzt nehme ich sie wieder an mich.«

»Das stimmt nicht, sie sind Eigentum der Stadt!«, schrie die Wahnsinnige und kam wieder auf mich zu.

|693|Die Kanone schoss abermals, wieder ein Donnerhall, dann ein entsetzlich lauter Einschlag in nächster Nähe.

»Wer schießt von der Torre Vecchia?«, fragte ich.

»Einer unserer Männer.«

»Was habt Ihr vor? Wollt ihr uns alle umbringen?«

»Das kann ich nicht sagen, die Kriegsgesetze unserer Stadt verbieten es. Seit der Krieg ausgebrochen ist, hat sich alles verändert. Jetzt nehme ich die Papiere und bringe sie in Sicherheit.«

»In Sicherheit? Wohin denn?«

»Zu unseren Magistraten. Kommt mit, junger Mann, ihr schlüpft vor mir in den Brunnen. Ihr werdet mir helfen, die Papiere auszusuchen, die als Erste gerettet werden müssen.«

Sie zeigte mit dem Messer auf den Schacht, der zum Kabuff führte. Ich musste vor ihr hinunter, doch wenn wir erst einmal beide in dem engen Raum waren, in dem die Schätze von Philos Ptetès gehütet wurden, hätte ich vielleicht Gelegenheit, sie zu entwaffnen, überlegte ich. Gefolgt von meiner Bewacherin, kletterte ich hinunter und hoffte, dass sie nicht wieder vom Wahnsinn gepackt und mir das Messer zwischen die Schulterblätter stoßen würde.

»Gut, da wären wir«, sagte sie, als wir vor den großen Bücherborden standen. »Wie ihr seht, habe ich alles wieder in Ordnung gebracht, jede Handschrift steht an ihrem Platz. Aber … was ist das, da liegen ja alle Papiere am Boden?«

Sie drehte mir einen Augenblick lang die Seite zu, und das war der richtige Moment: mit aller Kraft versetzte ich ihr einen Fausthieb auf den Arm, sodass ihr Messer meterweit davonflog und unter lautem Klirren auf den Boden fiel. Das war ihr einziger Fehler, der nächste Zug dagegen war wohlüberlegt: sie packte mich an den Haaren und zog so kräftig daran, dass ich fast aufgeschrien hätte. Dann versuchte sie, sich auf das Messer zu stürzen, doch ich hielt sie zurück, indem ich sie ebenfalls am Schopf zog. Beide fielen wir der Länge nach hin und versuchten, am Boden übereinanderrollend, den Kopf des anderen auf den Boden zu pressen, um über ihn hinüberzusteigen und das Messer zu erhaschen. Dann geschah alles gleichzeitig: Kemals Stimme von oben aus der Tür des Häuschens, der sein Kommen ankündigte, der Kanonendonner, der den nächsten Einschlag in unserer Nähe ankündigte und schließlich die Überraschung.

Zuerst ein Pfiff, dann ein metallischer Klang und ein Knirschen, zuletzt |694|eine Art Brüllen, das alles mit sich riss und in einen höllischen Abgrund saugte. Es war das Ende.

Das Mysterium der Zeit
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