|289|NOTIZ
Darin die gegenwärtige Lage hintangestellt wird und man hört, wie der geheimnisvolle Orestes sein Urteil über die Historiker der Antike und ihre Lügen abgibt.
Cicero
behauptet, dass die himmlischen Sphären bei ihren Bewegungen ein
Geräusch erzeugen. Bei uns könne man es aber nicht hören, da unsere
Ohren taub seien für seine Frequenz, und ohnehin sei das Gehör von
allen Sinnen der gröbste und stumpfeste. Als Beispiel dienen ihm
jene Völker, die an den Nilfällen leben und von dem Wasser, das
dort herabstürzt, taub geworden sind. erscheint dies als eine so gewaltige
GOTTESLÄSTERUNG, dass er selbst durch ihren übergroßen Lärm taub zu
werden meint. Wie vermochten diese Völker denn Handel zu treiben
und wie wurden sie regiert? Seneca scheint die Geschichte zu
glauben und sagt zu Lucilius, dass es dort sogar eine Stadt gab.
Warum aber sollen deren erste Bewohner sich dort angesiedelt haben?
Gab es den Nil damals schon oder nicht? Gab es jenen tosenden
Wasserfall schon oder nicht? Warum machten sie sich die Mühe,
ausgerechnet dort eine Stadt zu erbauen? Oder bemerkten sie nicht,
dass der Ort unbewohnbar war? Da diese tauben Nilbewohner von Natur
aus taub waren, müssen sie auch stumm gewesen sein, also genossen
sie jenes Gut, nach dem Seneca strebte, ein Leben in Ruhe und
Frieden. Welch eine rechtschaffene Stadt, welch eine gut geführte
Republik. Welch ein Unsinn.
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Herodot, der berühmte Historiker, Herodot, der von Cicero Vater der Geschichtsschreibung genannt wird. Herodot, der erste, wie Cicero sagt, der seine Historien korrekt verfasste, Herodot, den Dion Chrysostomos überaus schätzte, Herodot, der zu der Zeit des Xerxes lebte, behauptet als Historiker, dass Xerxes Heer so groß an Zahl war, dass die Flüsse austrockneten, wenn die Männer darin ihren Durst löschten. Herodot nennt sogar die Flüsse: Skamandros, Lisos und Klidoto und fügt hinzu, dass allein die Tiere dieses Heeres einen See in der Größe von 30 Stadien, also fast vier Meilen, leer tranken.
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|290|Nach Valerius Maximus zerschnitt der wunderschöne Jüngling Spurina sich selbst das Gesicht, um Frauen nicht zu unsittlichen Gedanken und Taten zu verführen. Auch in der Toskana lebte einst ein Jüngling, der den Begierden jener Unglücklichen nicht willfahren wollte (ach, so maßvolle, so bescheidene Jünglinge gibt es heuer nicht mehr!). Was also tat er? Welch unerhörte Sittsamkeit! Wie unvergleichlich dieser Eifer! Welche einzigartige Seelenstärke! Er ritzte sich das Gesicht mit einem spitzen, scharfen Messer. Mögen die schönen Jünglinge unserer Zeiten dieses einzige Mittel erlernen, das sie gegen die Angst wappnet, von den Vätern und Gatten der jungen Weiber aufgeschlitzt zu werden! Was für ein närrischer Einfall! Schande über den, der ihn aufschrieb!
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Es gibt wohl keinen, der nicht, sobald er von ein wenig Wissen beleckt ist, tausende Male von jenen Orpheus, Amphion und Arion gehört und gelesen hätte, welche mit ihrem so süßen, erlesenen Gesang Ersterer die Tiere und Wälder, der Zweite sogar die Steine und Letzterer die Fische nach Belieben zu erregen und zu bewegen vermochten. Doch ebenso gibt es keinen, der so leichtgläubig und dumm wäre, derlei Geschichten nicht allesamt für Märchen der Dichter zu halten, welche damit auf die Redekunst eines ausgezeichneten Redners oder Sängers anspielen wollten. Ernsthafte Historiker vom Schlage eines Plutarch, Valerius Maximus und Velleius Paterculus aber wollen der Nachwelt weismachen, dass Marc Anton, der römische Redner, mit seinen wohlgesetzten Worten die wütenden Soldaten zurückhalten konnte, die ihn auf Befehl der grausamen Heerführer Mario und Cinna töten wollten. Wie schön, dass diese Soldateska ihm noch so viel Zeit ließ, seine lange, rhetorisch ausgefeilte Rede zu halten! Es ist schon sehr schwer zu schlucken, dass die Schlächter Marc Anton überhaupt ein paar Dinge sagen ließen. Nein, unseren seriösen Historikern zufolge waren diese Meuchelmörder so gutherzig und großzügig, dass sie lieber Marc Antons Geschichtchen anhörten als ihr Leben vor dem Zorn ihrer Befehlshaber zu retten, und mit dem Schwert in der Scheide unverrichteter Dinge abzogen. Und dies klingt noch wie eine kleine, eine halbe GOTTESLÄSTERUNG, wenn man liest, was Valerius Maximus und Plutarch schrieben, nämlich, dass der Redner Hegesias anderen Soldaten ihr zukünftiges Unglück so zungenfertig |291|ausmalte, dass er sie zum Selbstmord trieb. Ach, wo sind solche Redner heute? Den Unsrigen fehlt eine derart überwältigende Redegabe, die ihre ist bescheidener und kann höchstens dazu überreden, die eignen Laster zu töten statt sich selbst. Freilich sind die besten Redner die Historiker selbst oder die, welche sie erfanden, da sie uns ihre GOTTESLÄSTERLICHEN und schimärischen Ammenmärchen auftischen konnten.
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Diodorus Siculus, jener Diodorus, von dem Justin der Märtyrer ein großes Loblied singt, schreibt, dass die Frauen Korsikas, nachdem sie ihr Kind neun Monate lang ausgetragen und es unter unerträglichen Schmerzen geboren haben, halb ohnmächtig und geschwächt von der Entbindung durch die Stadt wanken, während ihr Mann sich an ihrer Stelle ins Bett legt und sich mit guten Suppen und Kapaunen stärkt. Nun, und wer stillt das Neugeborene? Sie. Müsste er es dann nicht eigentlich tun? Und nun stellt euch die Besuche der Verwandten und Nachbarn vor! Wie geht es Euch, wie war es? Fragt meine Frau, wenn sie zurückkommt. ABSCHEULICHE GOTTESLÄSTERUNG!
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beschleicht mitunter der Verdacht, dass die antiken Autoren wie zufällig schrieben, aus purer Lust, irgendetwas aufzuschreiben, und dass sie gar nicht überlegten, was sie niederschrieben. Oder die antiken Autoren hat es nie gegeben. Andernfalls lässt sich nicht erklären, wie sie Gott weiß was für einen Unsinn verzapfen konnten.
Pomponius Mela schreibt von Völkern in Äthiopien, die stumm sind, weil sie entweder keine Zunge haben oder ihre Lippen zusammengewachsen sind. Zum Trinken dient ihnen eine Fistel unter der Nase, und wenn sie Hunger haben, essen sie Getreide, Linsen und Ähnliches Korn für Korn. Darum müssen sie scharren und picken wie die Hühner. Feine Völker sind das! Dieser unerträglichen GOTTESLÄSTERUNG fügt Pomponius Mela hinzu, dass jene Völker, bis ein gewisser Eudoxos ihnen das Feuer brachte, keinerlei Kenntnis davon hatten. Es gefiel ihnen aber so sehr, dass sie uti amplecti etiam flammas et ardentia sinu abdere donec noceret maxime libuerit, also es umarmten und aus Freude mit großer Lust an ihrem Busen bargen, und jenes maxime libuerit bedeutet nichts anderes, als dass sie schließlich verbrannten. Und jenes donec noceret, bis sie verbrannten, was zum Teufel soll das bedeuten? Kann man etwa auch nur eine Sekunde standhalten, wenn einem eine Fackel unter dem Gewand lodert? Ich gebe die Worte des Herrn Mela wieder, damit niemand glaubt, ich,, würde dergleichen GOTTESLÄSTERUNGEN ersinnen, um meine Leser zum Lachen zu bringen oder weil ich ein Feind der antiken Autoren bin.
dünkt, dass dieser Autor nicht im Geringsten bedachte, was er schrieb! Und auch die Kopisten, die es überlieferten, Himmel Herrgott, haben sie denn nicht gelesen, was sie da kopierten? Konnten sie der Welt die Beleidigung nicht ersparen, für so dämlich gehalten zu werden, dass sie derartige Hirngespinste glaubt?
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Von der Wiege an hören wir dieses Gerede zum Lob der guten Römer der Antike. Titus Livius erzählt von Cincinnatus, der von seinem kleinen Acker auf der anderen Seite des Tibers geholt wurde, um Diktator zu werden und gegen die Sabiner und Aequer zu kämpfen. Er erfüllte seine Pflicht aufs Beste, doch dann verzichtete er auf das Amt und kehrte auf sein Äckerchen zurück. Mehr sagt Livius nicht über ihn. Konnte er uns nicht ein bisschen mehr erzählen? Warum wollte ihn das ganze Volk? Und warum holten die Römer ausgerechnet Cincinnatus, über den sie nicht das Geringste wussten, damit er sie regiere? Entweder war er ein reicher Patrizier, der aus Vergnügen den Boden bestellte, oder er war wirklich ein Bauer. Wenn er ein Patrizier war, warum diente er seiner Republik dann nicht von Anfang an und verteidigte sie vor großer Gefahr? Hatte er je zuvor ein Amt für das Volk ausgeübt? Hatte er je im Krieg gekämpft? Warum sagt Livius nichts darüber? Wenn er hingegen immer in jener bäuerlichen Einfachheit gelebt hatte, in der das römische Volk ihn vorfand, als es ihn zum Diktator machte, wie konnte er sich dann zum Heerführer eignen? Wenn ganz Rom ihn zum Diktator ausrief, muss er wohlbekannt und angesehen gewesen sein. Livius erzählt, dass Monna Raccilia, seine Gemahlin, sofort in die Hütte lief, um seine Toga zu holen. Die Toga des Senators? Oder den derben Kittel, den Überwurf der Possenreißer, den die Landbevölkerung trägt? So sehr vertrauen wir den Autoren, die über das Leben der Römer schreiben, dass wir wie Tölpel kopfüber auf alles hereinfallen, und wenn von Römern die Rede ist, scheint es fast, als meinten wir damit den Gipfel aller Tugend, aller Kunst, alles Guten in der Welt. GOTTESLÄSTERUNGEN!
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Plinius berichtet, dass Nikokreon, Tyrann von Zypern, ein großer Feind des Philosophen Anaxarchos war. Als Alexander der Große den Tyrannen zu einem Gastmahl einlud, war auch Anaxarchos zugegen. Von Alexander gefragt, wie er über dieses Mahl denke, antwortete Anaxarchos: »Alles ausgezeichnet, mein König. Nur eines hat gefehlt: der Kopf eines gewissen Satrapen.« Und mit diesen Worten wies er auf Nikokreon. Alexander der Große war bereits tot, da erlitt Anaxarchos bei einem Seesturm Schiffbruch in den Gewässern von Zypern und wurde von Nikokreon gefangen genommen. Er wollte ihm die Zunge abschneiden lassen, aber Anaxarchos kam ihm zuvor, biss sie sich mit den Zähnen ab und spuckte sie dem Tyrannen ins Gesicht. Die in dieser lächerlichen Lügengeschichte berichtete Handlungsweise ist nicht nur höchst absonderlich, sondern auch unmöglich durchzuführen, weil unsere Kiefer dafür nicht geeignet und kräftig genug sind, wie jeder an sich selbst leicht feststellen kann. Ist doch schon der Schmerz unsäglich, wenn man sich beim Essen versehentlich in die Zunge beißt, vom Abbeißen gar nicht zu reden! Wie konnte Plinius überdies einfallen, Anaxarchos zu loben, der Alexander lehrte, dass alles, was ein König tut, erlaubt ist?
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Nach Plutarch soll der König der Äthiopier gehinkt haben und alle seine Freunde ebenfalls. Wie das, bitte sehr? War es vorgetäuscht oder echt? Wenn es echt war, hatten sie sich gar willentlich einen Oberschenkelknochen gebrochen? War es aber vorgetäuscht, bemerkte der König nichts? Athenaios berichtet von Schmeichlern wie zum Beispiel Clisophus, der, als Philipp von Makedonien ein Auge verloren hatte, mit einem Verband über demselben Auge vor ihn trat. Dass ich nicht lache!
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Nach Plinius gibt es Bäume, die so groß sind, dass zehntausend Männer im Schatten eines einzigen Baumes stehen können. Das sagt auch Vergil, aber Dichter übertreiben bekanntlich und haben die poetische Freiheit, verrückt zu spielen und zu lügen so viel sie wollen. Plinius aber ist ein Historiker und kein Dichter. Oh, oh, oh, |294|Plinius ist der größte GOTTESLÄSTERER der Welt. Agnolo Poliziano sagte, mit den Flausen von Plinius könne man ein ganzes Buch füllen. Und ärger noch als Plinius sind Strabo und Arian, ernsthafte Schriftsteller, die, ohne mit der Wimper zu zucken, behaupten, es gebe noch größere Bäume als jene des Plinius.
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Man munkelt von Männern, die sich in Statuen verlieben, sie küssen und mit ihnen gewisse, unaussprechliche Schändlichkeiten treiben; aber dass es Männer gibt, würdige, angesehene und durchaus nicht wahnsinnige Männer, die in Liebe zu Bäumen entbrennen … Plinius sagt, dass Crispus Passienus, zweimaliger Konsul, Gatte der Kaiserin Agrippina und Stiefvater von Nero, sich in eine Buche verliebte. Das mag schlucken, wer will, ich habe keinen Durst. Xerxes dagegen liebte eine Platane. Das schreiben Aelianus und Herodot. Apropos Platanen, Pausanias erzählt, am Ufer des Flusses Piero soll es einen Wald mit so großen Platanen gegeben haben, dass man in einigen fröhlich Bankette halten konnte.
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Man schrieb das Jahr 451, und auf den Katalaunischen Feldern ereignete sich jene Schlacht zwischen den Hunnen Attilas und den Goten, die unter Aëtius mit den Römern verbündet waren. 180 000 Männer starben, so viele, dass ihr Blut ein Bächlein anschwellen ließ, bis daraus ein breiter Strom wurde, der die Leichen mit sich riss. Ich muss doch sehr bitten! Und alle Toten sollen völlig ausgeblutet sein! GOTTESLÄSTERUNGEN wie diese wecken den Verdacht, dass die Ereignisse, die sie ausgelöst haben, in diesem Fall die Schlacht, niemals stattgefunden haben. Vor dreihundert Jahren raffte die schwarze Pest einen Großteil der Bewohner Europas dahin, und mit ihnen gingen viele Erinnerungen verloren. Die Überlebenden »bearbeiteten« die Archive, häufig aus Gewinnsucht, und die Listigsten von ihnen veränderten Memoiren, Berichte, Tagebücher, vor allem aber Besitzurkunden ihren Interessen entsprechend … Schon oft hieß es, dass die hochwohlgeborene Herkunft und der ansehnliche Stammbaum gewisser adeligen Familien ausgerechnet 1350 ex abrupto entstand … Könnten wir dann für die Ereignisse des Jahres 451 die Hand ins Feuer legen?
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Nach Seneca ließ ein persischer König einer ganzen Stadt die Nase abschneiden. Die Stadt hieß Rinocolura, was auf Griechisch Nase bedeutet, ein Name, der nach Seneca auf jenen Nasenmord in alter Zeit zurückgeht. Wie hieß sie denn vorher? Und der Name des Königs, wie lautete der? Lachhaft!
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Eines der erhebendsten und berühmtesten Ereignisse römischer Zeit ist zweifellos die Geschichte der Clelia. Kein antiker Schriftsteller, der sie nicht erwähnt, und die Nachwelt hebt sie in den Himmel. Darum scheint es zu gewagt, wenn ich diese Geschichte für eine GOTTESLÄSTERUNG halte. Es wird erzählt, dass die Römer Porsenna, dem König des etruskischen Clusium, der Rom belagerte, zehn Jungfrauen und zehn Jünglinge als Geiseln überließen. Clelia, eine von ihnen, war nicht älter als zwölf Jahre. Als sie eines Tages die Erlaubnis erhielt, im Tiber zu waschen, floh sie mit ihren Gefährtinnen durch den Tiber schwimmend bis nach Rom.
bewundert, verehrt und liebt diese Stadt, caput mundi seit ihren Anfängen bis in unsere Zeit! Aber darum lässt er sich noch lange nicht für dumm verkaufen. Der Tiber ist berühmt für seine gefährlichen, tiefen Strudel und breiten Wirbel, die noch die stärksten Männer verschlingen, von jungen Mädchen ganz zu schweigen. Pretestati nennt sie Plutarch, das heißt, die Ältesten waren noch nicht 17. Die Römer aber blieben dem einmal gegebenen Wort treu und gaben – welch beispielhafte Ehrlichkeit! – die Mädchen an Porsenna zurück. Wahre Ehrenmänner! Welch ein verlässliches Volk! Sogar im Krieg! Und das zum Vorteil der Belagerer! Mit einem solchen Volk hätte der Gott Abrahams wenig Anlass zum Zorn gehabt!
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Nach Valerius Maximus hat Cimon um seine Besitzungen weder Hecken, noch Mauern, noch Wachen gewollt, wer aber hinein- und hinauswollte, konnte nach Belieben mitnehmen, was ihm gefiel. Plutarch sagt, dass Cimon immer sehr üppig auftischte, sodass jeder vorübergehende Bettler sich stärken konnte. Und Emilius Probus erzählt, das Cimon stets mit einer Schar Diener aus dem Haus ging, damit diese Geld an die Armen verteilten, denen sie auf der Straße begegneten.
Haben die antiken Autoren wirklich geglaubt, sie würden Cimon |296|mit dieser Schilderung ein Loblied singen? Reichtümer müssen gerecht verteilt werden, nicht an die erstbesten Schlaumeier vergeudet, die womöglich nur die Armen spielen! Eine so dumme Verschwendungssucht und eine so lächerliche Freigebigkeit ist keine Tugend. In weniger als einem Jahr bliebe von seinen Besitzungen ohne Mauern nur noch die nackte Erde. Und eine Tasche wäre bald leer, wenn man allen gäbe, die betteln. Sollte es den geizigen Reichen etwa nur in der Bibel geben? Es scheint fast, als hätten diese tugendhaften Antiken das Evangelium Jesu gar nicht gebraucht, sie waren auch so schon heilig. -
Nach Plutarch lachte und weinte der große Feldherr Phokion nie und ging immer unbekleidet. Phokion war nach Plutarch, der von Plinius abschreibt, einer der berühmtesten Feldherrn und Redner Griechenlands und befehligte zwanzig Jahre lang als General das Heer von Athen. Feine Befehlshaber hatte Athen!
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Die Liebe zur eigenen Brut ist bei allen Tieren so stark, dass es keine noch so wilde Bestie gibt, die ihre Kinder nicht gerne sähe, nährte und umarmte. Minucius Felix erzählt, wie süß die Kindheit ihrer eigenen Nachkommen für Diebe ist, und Plutarch berichtet, dass König Agesilaus, von einem Freund in seinem Haus dabei überrascht, wie er auf einem Rohr reitet, um seine Kinder zu erfreuen, diesen beschwört, es niemandem zu erzählen, der nicht selbst Vater ist. Darum kann es nur eine hässliche GOTTESLÄSTERUNG sein, dass die Perser nicht einmal das Gesicht ihrer Kinder kannten, bis diese sieben Jahre alt waren. Das verstehe ich ja bei fürstlichen Vätern, die im Dienst des Staates fortwährend irgendwohin gerufen werden, aber gewöhnliche Bürger, Handwerker, Künstler und Bauern, die meist mit der ganzen Familie in einem einzigen Raum leben, wie machten die das? Und die Mütter, wie zum Teufel stillten sie ihre Kinder? Bedeckten sie sie mit einem Tuch?
Armer Artaxerxes, der 150 Kinder hatte, wenn er wirklich kein einziges von ihnen sehen durfte! Eine GOTTESLÄSTERUNG, der ich eine weitere an die Seite stellen möchte, damit sie als gute Freundinnen zusammenhalten. Cäsar berichtet in seinen Commentarii von einem noch strengeren Brauch bei den Galliern, die ihre Kinder nicht sahen, bevor diese nicht reife Jünglinge waren, Waffen tragen |297|und kämpfen konnten. Cäsar präzisiert jedoch, dass das Gebot palam, also offensichtlich, heimlich (nachts oder was weiß ich) aufgehoben werde und ihnen erlaubt sei, ihre Kinder zu sehen. Lächerlich. Schande. Eine Schande, so etwas zu schreiben und zu sagen. Und es zu glauben? Genauso schändlich. Und das von Cäsar. Lügner. Und GOTTESLÄSTERER. -
Was
wundert, ist, dass diese seriösen Historiker manche Spinnereien in einer Weise vortragen, als gäbe es nicht den geringsten Zweifel daran. Dabei halten sie uns, die wir anbeißen, womöglich für Einfaltspinsel. Immer vorausgesetzt, dass es Historiker, die solche Albernheiten schrieben, wirklich gab. Genebrardus, ein angesehener Autor unseres Jahrhunderts, glaubt an den 57 Jahre währenden Schlaf des Epimenides, ohne mit einer Silbe misstrauisch zu werden. Gregorio Turonese und Paulus Diakonus glaubten, dass die sieben Weisen von der Zeit des Kaisers Decius an wirklich zweihundert Jahre lang schliefen.
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Curius, der große, ruhmreiche Heerführer der Römer, der die kriegerischsten Völker unterjochte, vor allem die Sanniten, und der König Pyrrhus, den mächtigen Feind der Römer, aus Italien vertrieb, wurde von einer sannitischen Gesandtschaft in einer Hütte angetroffen, wo er sich anschickte, ein paar Rüben zu kochen. Genau so. Nach Valerius Maximus lebte Curius in einem tugurium und aß in seinem ganzen Leben nichts anderes als – wenige – Rüben. Es kommt noch schlimmer. Als die Gesandten ihm das kostbare Geschenk aus Gold zeigten, dass sie ihm gebracht hatten, soll Curius geantwortet haben, für jemanden, der so speiste wie er, sei das Gold nichts. Viel besser, als selbst Gold zu besitzen, sei es, über den zu herrschen, der es habe … Nehmen wir Curius Unhöflichkeit gegenüber den Gesandten einmal für bare Münze, denn, wie es heutzutage scherzhaft heißt, ein Gesandter ist jemand, der von seinem Herrscher nur unter der Bedingung ein Amt erhält, dass er außer Landes geht. Doch diese verächtliche Haltung gegenüber dem Gold lässt sich nicht so leicht schlucken. Trotzdem ist sie eisern für wahr gehalten worden, wurde niedergeschrieben, transkribiert, kopiert und gerühmt und hat sich bis heute den Seelen so stark eingeprägt, dass
wer weiß welche Gefahren drohen, wenn er sie als Lüge entlarvt. Aber es ist eine. Man sage mir doch bitte, warum Curius den Geleitzug der Gesandten mit den klappernden Hufen und dem Gewieher der Pferde, den Stimmen der Reitknechte und zumindest dem Klopfen an seiner Türe nicht ankommen hörte? Und Curius warf sich nicht wenigstens die Toga oder Zimarra um? Nein, M. Curius blieb dort stehen, wo er stand: am Feuer, um seine Rübchen zu schmoren. Damit nicht zufrieden, geht Athenaios so weit zu behaupten, dass Curius nichts anderes aß als Rüben. Achtung, Signor Curius, Rüben machen Blähungen und stacheln, wie es heißt, die Venus an, was aber kein Problem für Euch sein dürfte, da Plutarch sagt, dass ihr eine Frau hattet, die Mehl an die Rüben tat.
Ein ähnliches Ammenmärchen ist die Geschichte von Titus Livius und Valerius Maximus, nach der die römischen Konsuln und Diktatoren vom Feld weg, wo sie mit Hacke und Pflug arbeiteten, direkt in die Regierung des Römischen Reiches gerufen wurden, und wenn sie ihre Pflicht getan hatten, kehrten sie in ihre Hütten und an ihre Pflugschar zurück. Ebenso lachhaft ist Plinius’ Geschichte, nach der die wohlklingenden, berühmten Nachnamen der römischen Patrizier sich von Bohnen, lateinisch fabae (die Fabier), von Linsen, lateinisch lentes (die Lentuli), von Ziegen, lateinisch caprae (die Caprari) und von Schweinen, lateinisch porculi (die Porzii) ableiteten. Sollen Curius und all die anderen Konsuln, Feldherrn und Diktatoren des alten Rom, die von ihren Äckern geholt wurden, denn wirklich und im Ernst Bauern gewesen sein, die von früher Kindheit an pflügten und hackten, statt in der Schule schreiben und in den Akademien die Historien lesen zu lernen, um an den Höfen Konversation zu treiben? Was machten denn dann die echten Bauern? Was unterschied sie von ihren Herrschern? Nichts? Nein, nichts. ERZGOTTESLÄSTERUNG. -
Aischylos, der berühmte sizilianische Tragiker, geht eines Tages aus der Stadt hinaus, um Luft zu schnappen und bleibt auf einer Wiese stehen. Und siehe, da fliegt ein Adler durch die Lüfte, der in Schnabel und Krallen eine soeben geraubte Schildkröte hält. Nun war der Dichter kahlköpfig und sein Haupt zu allem Unglück unbedeckt. Der Adler erspäht den Schädel, hält denselben für einen schönen runden, glänzenden Stein und lässt prompt die Schildkröte |299|darauf fallen, damit deren harte Schale zerbricht und er sich über das Fleisch hermachen kann. Und so verlor der große Tragödiendichter sein Leben. Schade, dass seine Kollegen Tragiker daraus kein Drama gemacht haben, denn diese GOTTESLÄSTERUNG ist eher Stoff für Kothurne als für Historiker.
Aelianus sagt, dass Agathokles, Tyrann von Syrakus, der ebenfalls kahl war, immer einen Myrtenkranz trug, wenn er ausging, um das Unglück des Aischylos zu vermeiden. Sueton berichtete, dass Cäsar, dessen Haupt fast kahl war, die letzten Nackenhaare wachsen ließ und über den kahlen Schädel kämmte, bis ihm vom Senat die Ehre gewährt wurde, einen Lorbeerkranz zu tragen. Laut Dion Cassius war auch Kaiser Tiberius kahl. Als Seianus ihn zu den Festen der Flora einlud, verlangte er von allen, die den Kaiser bedienten, und das waren fünftausend, sie sollten entweder kahl oder kahlgeschoren sein. Welch ein Risiko ging Seianus ein … und wenn nun ein paar Adler mit Schildkröten vorbeigeflogen wären? Es ist kaum auszuhalten, wie kann man einen solchen Unsinn nur glauben? Gerade Adler sind bekannt für ihre scharfen Augen. Außerdem hat es nie eine Stadt gegeben, um deren Mauern Adler flatterten, erst recht nicht in Sizilien, wo die Städte des alten Griechenlands alle an der Küste lagen. -
Nach Plinius soll es eine Stadt mit Menschen aus dreihundert verschiedenen Nationen gegeben haben. Wie zum Henker verständigten die Bewohner dieser Stadt sich miteinander? Venedig, die Stadt, in der aufgrund des Handelsverkehrs die meisten fremden Völker aufeinandertreffen, wird nicht mehr als deren zehn beherbergt haben, und gewöhnlich können nicht mehr als vier Nationen einander verstehen.
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Seit seiner Geburt hat
unzählige Male gehört, dass Pythagoras seine Schüler zwang, fünf Jahre lang zu schweigen, eine Zeit, in der sie nur dem Unterricht zuhören durften. Diogenes Laertius fügt hinzu, dass sie, bevor sie die erste Prüfung bestanden hatten, nicht einmal den Lehrer sehen durften, welcher nachts unterrichtete. Nach bestandener Prüfung aber wurden sie sogar in sein Haus geladen.
Nun gut, lassen wir das mit dem niemals den Lehrer sehen und den nächtlichen Unterricht des Pythagoras durchgehen, obwohl es immer noch gewaltig nach Betrug stinkt. Aber fünf Jahre lang in einer Schule lernen und niemals Fragen stellen, nicht reden, über nichts disputieren?hält das für eine ausgemachte GOTTESLÄSTERUNG.
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Nach Plinius und Valerius Maximus starb Anakreon an dem Saft einer Rosine, und der Senator Fabius erstickte an einem Haar in der Milch. Plinius redet in einer Weise, die wenig oder gar nichts mit den alten Römern zu tun hat, welche den wahren Gott nicht kannten. Denn er betrachtet den Fall wie ein Christ, indem er besonders auf die banalen Gründe eingeht, die zum Tod führen können, weshalb sie den menschlichen Hochmut erniedrigen und beleidigen. Freilich führen diese römischen Historiker zwei, gelinde gesagt, sonderbare Fälle als Beispiele an und stellen sie in der gewohnten Weise antiker Autoren vor, nämlich mit sehr wenigen Worten, als wären es Sachen, die so leicht passieren können, dass es übertrieben wäre, sie lang zu erklären oder wenigstens ein paar nähere Umstände zu schildern, um jeden Zweifel an ihrer Wahrheit auszuräumen. Kann man aber an einer Rosine sterben? Also nimmt
eine getrocknete Traube, und als er sieht, wie winzig sie ist, begreift er nicht und wird nie begreifen, wie man daran sterben kann. Valerius Maximus wiederum präzisiert, dass es nicht die Rosine war, die Anakreon tötete, sondern ihr Saft … Bitte, wie kann Saft aus einer Rosine austreten, der einen Menschen tötet? Wer
nicht beipflichtet, dass dies eine GOTTESLÄSTERUNG ist, möge es selbst ausprobieren. Und was ist von der Geschichte von Fabius zu halten, dem römischen Senator und Prätor, der an einem Haar in einem Glas Milch erstickte? Welches Haar vermöchte so zu würgen, dass man daran stirbt? Und was für eine Art Haar war das? Ein Haar seines Bartes? Ein Haar von seinem Kopf? Von der Ziege? Von der Frau, die sie melkte? In unseren Landen ist Milch weiß und Haare sind zumeist schwarz. Warum sah er es nicht in der Milch schwimmen? Trank er sie vielleicht aus einer Flasche? Und wenn es zuvor nicht gesehen ward, wie konnte man es hinterher sehen? Welcher Hippokrates oder Galenus schloss, dass ein Haar die Ursache dieses Ablebens war? Selbst wenn sie den Leichnam öffneten, wer hätte so scharfe Augen gehabt, dieses Haar zu finden? Was |301|mich, ΄Oǫɛοτήϛ, betrifft, so lasse ich kein gutes Haar an dieser schönen Geschichte und nenne sie eine GOTTESLÄSTERUNG.
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Wenn die antiken Historiker ihren Lesern je Anlass gegeben haben, an ihrer Glaubwürdigkeit zu zweifeln, dann war es in ihren Berichten von Schlachten, wie jener zwischen Römern und Barbaren, die Strabo beschreibt. Von den Letzteren starben zehntausend, auf römischer Seite nur zwei. Ein anderes Mal fielen beim Kampf der Römer gegen Antiochus, den König von Syrien, 24 römische Reiter und 300 Fußsoldaten im Feld, auf der Gegenseite jedoch 50 000 Reiter. Als Marcus Valerius gegen die Sabiner kämpfte, tötete er deren 13 000 und verlor keinen einzigen Mann. Marius tötete 120 000 Kimbern und machte 70 Gefangene, und als er ein anderes Mal 20 000 abschlachtete und 800 gefangen nahm, verlor er selbst nur 23 Mann. Beim Kampf zwischen Mithridates und Sulla verlor der König 10 000, Sulla dagegen nur 14 Mann. Und Lucullus siegte über Tigranes, indem er fast seine gesamte Kavallerie und über 10 000 Fußsoldaten tötete, selbst jedoch nur fünf gefallene Römer und hundert Gefangene zu beklagen hatte. Diese Märchen über die Römer werden, was Tapferkeit und wundersame Kühnheit betrifft, nur von den Märchen über die Spartaner übertroffen. Diodorus Siculus schreibt, dass die Spartaner im Kampf gegen die Arkadier 10 000 Männer töteten, ohne einen einzigen Verlust zu erleiden. Justin schreibt vom Sieg Alexanders über Darios, dass auf Seiten des Perserkönigs 70 000 Fußsoldaten und 10 000 Berittene starben, Alexander der Makedonier hingegen nur 130 Fußsoldaten und 150 Reiter verlor. Das bedeutet, dass zwei Männer von Alexander jeweils tausend Soldaten des Darios besiegten.
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Nach Seneca, Plutarch, Lucius Floros und Valerius Maximus ließ Mucius Scaevola freiwillig seine Hand verbrennen. Das geht nun wirklich zu weit. Ausgerechnet diese für ein Hirngespinst zu halten, die schönste, würdigste, berühmteste Tat der alten Römer, die je beschrieben wurde: dass Mucius seine Hand verbrennen ließ, weil er sich dafür bestrafen wollte, dass er irrtümlich einen anderen als den Etruskerkönig Porsenna, der Rom belagerte, getötet hatte. Das geht zu weit, leugnen zu wollen, was viele, nein, alle! weisen Schriftsteller aufschrieben und die gesamte Antike für wahr |302|hielt, ohne dass bis heute der geringste Zweifel erhoben wurde. Zu weit, mag sein, aber es geht auch zu weit, was man uns hier weismachen will. Dionysios von Halikarnassos erzählt, dass Mucius, als er das feindliche Lager betrat, einen schönen, in Purpur gekleideten Mann sah, der umringt von vielen bewaffneten Männern im Tribunal saß, wo er Befehle gab und den Soldaten ihren Sold auszahlte. Und da er den König nie zuvor gesehen hatte, glaubte er, dieser Mann sei es, während es nur der Secretarius des Königs war. Mucius war nicht gerade aufmerksam, er hätte wissen müssen, dass Könige Obliegenheiten, wie Soldaten auszahlen, nicht persönlich erledigen. Plutarch dagegen berichtet, dass Porsenna umgeben von den Seinen auf dem Königsthron saß, worauf Mucius, der den König nicht kannte, einen seiner Männer tötete, statt den König selbst. Valerius Maximus wiederum schreibt, dass Porsenna ein Opfer auf dem Altar darbrachte. Wie es auch sei, als Mucius vor den König gebracht wurde, forderte dieser ihn auf, zu gestehen, was ihn zu einem so großen Verbrechen bewogen hatte. Statt zu erbleichen (denn die Römer kannten ja keine Furcht!), erklärte Mucius, weitere 300 Römer hätten sich im ganzen Lager versteckt (Welch eine Schande für einen Römer, zu lügen!). König Porsenna erschrak sehr (er war ja schließlich kein Römer), verdoppelte seine Leibwache und befahl, Mucius ins Gefängnis zu werfen. Dieser aber blickte dem König kalt und unerschrocken ins Auge, wie Plutarch berichtet, und legte seine rechte Hand in das Kohlebecken, um sie dafür zu bestrafen, dass sie den Falschen getötet hatte. Porsenna staunte nicht schlecht und befahl, ihn freizulassen. Daher wurde Mucius, nachdem er mit dem qualmenden Stumpf zu seinen Leuten zurückgekehrt war, als wenn nichts wäre, fortan Scaevola genannt, das heißt Linkshänder. Soweit die Geschichte, oder vielmehr das Märchen. Und nun bitte ich um einen Gefallen, ich möchte von jemandem wissen, ob es wahr ist oder ob ich mir nur einbilde, dass man einem Mörder und jemandem, der des versuchten Königsmordes beschuldigt wird, – wenigstens! – die Hände fesselt und ihn mit vielen Soldaten umgibt, bevor man ihn vor den König führt. Am allerwenigsten sollte man ihn mit freien Händen neben einem Kohlebecken stehen lassen … Außerdem sterben Menschen manchmal schon, wenn ihnen ein einziger Finger durch das Eisen oder Feuer verletzt wird, wie wir bei den öffentlichen Hinrichtungen der Diebe sehen, denen der Henker einen Finger oder die Hand abschneidet und dann ich weiß nicht welche Arznei darauf tut, damit die Menschen nicht sofort ohnmächtig werden, sondern noch zur vorbestimmten Stätte ihres Todes geführt werden können.
Wie oft kommt Seneca auf das Ammenmärchen von Mucius Scaevola zurück! Es ähnelt dem Unsinn, den man bei Valerius Maximus liest, dem zufolge ein Page von Alexander dem Großen sich lieber den Arm durch glühende Kohle verbrennen ließ, die vom Weihrauchfass auf ihn herabgefallen war, als die Opferungszeremonie Alexanders zu stören. Abgesehen davon, dass aus einem Weihrauchfass nichts auf einen Arm herunterfallen kann, ich hab’s selber ausprobiert, warum hat es niemand bemerkt? Der Gestank versengten Fleisches verbreitet sich sofort überall und ist unerträglich. Welche Art Opfer brachte Alexander dar, einen Lammbraten? Denn das ist der einzige Gestank, der alle anderen überlagert. Valerius Maximus schließt dann mit einer Galanterie ganz nach seiner Art, nämlich dass der Page infimam aetatem gewesen sei, also ein Milchbübchen! GOTTESLÄSTERUNG. -
Nach Claudianus schuf Archimedes eine Glaskugel mit den Bewegungen aller Himmelskörper. Schon in der Wiege hörte
das Loblied auf Archimedes als Mann der Mathematik und erhabenes, geradezu göttliches Ingenium. Und das bewies er während der Belagerung seiner Heimatstadt Syrakus durch Marcellus, den großen römischen Feldherrn. Damals wurde Archimedes’ Name unsterblich. Denn mit Hilfe seiner überaus kunstreichen Maschinen und wunderbaren Instrumente ließ er Marcellus an der Erstürmung der Stadt verzweifeln. Nachdem dieser das Vorhaben aufgegeben hatte, machte er Archimedes’ Erfindungen lächerlich, weil er ihm keine Genugtuung verschaffen wollte. Wie könnten wir Modernen jenen Briareos der Geometrie besiegen? Von Archimedes stammt das stolze Wort – vielleicht auch Angeberei oder Lug und Trug –, wenn er nur einen festen Punkt hätte, könnte er die Welt aus den Angeln heben. Doch das überall verbreitete, tausendmal besungene Ruhmesblatt, er habe eine Glaskugel gebaut, in der man klar und deutlich alle Bewegungen der Himmelskörper erkennen könne, ist für mich eine der schlimmsten GOTTESLÄSTERUNGEN. |304|Glas ist ein äußerst zerbrechliches Material, und kommt es aus dem Ofen, lässt es sich nur wenige Augenblicke lang biegen und bearbeiten. Obendrein wird die Sache, soviel ich weiß, nur von Claudianus berichtet, der erklärt, die Kugel sei parvo vitro, aus wenig Glas gewesen, während Firmianus Lactantius von concavo aere spricht, also von konkaver Bronze.
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Nach Pausanias und anderen sehr wichtigen Historikern war die Welt einst ohne Getreide und Korn, und nach Plinius blieb Rom die ersten 580 Jahre nach seiner Gründung ohne Bäcker. Ich, ΄Oǫɛοτήϛ, weiß nicht, welche dieser beiden GOTTESLÄSTERUNGEN schwerer wiegt. Gibt es größere Torheiten als diese beiden? Wenn die Historiker uns an der Nase herumführen wollten, hätten sie sich um ein wenig mehr Wahrscheinlichkeit bemühen sollen. Das Märchen besagt, dass die Menschheit sich anfangs nur von Eicheln ernährte. Als diese eines Tages ausgingen, versuchte eine Frau, Korn zu mahlen und zu backen, und so entstand der Brauch. Narren und Schwachköpfe sind wir, wenn wir das glauben! Und obendrein erfindet der ewige Plinius, dass in Rom die pistores, also die Bäcker, erst 580 Jahre – erstaunlich präzise, Plinius! – ab urbe condita auftauchten. Vorher sollen die Frauen der Römer selber Brot gebacken haben. Diese GOTTESLÄSTERUNG passt zu jener anderen, natürlich wieder von Plinius, dass es in Rom jahrhundertelang keine Barbiere gegeben hat. Wie nett von den Königen und von Cäsar, sich selbst zu rasieren … Die Brotgeschichte wird übrigens von Lactantius widerlegt, da er berichtet, dass es in Rom schon zur Zeit der Belagerung durch die Gallier Bäcker gab.
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Gott will nicht, dass wir Gewissheit über die Ehrbarkeit und Treue unserer Frauen haben. Wir Männer werden nie sicher sein können, ob unsere Kinder das »richtige Gewicht« haben, wie man sagt, oder ob ein paar Unzen anderer »Materie« beigemischt sind. Bei Aelianus liest ΄Oǫɛοτήϛ, dass die Libyer ihre neugeborenen Kinder in ein Fass mit Schlangen steckten, und wenn diese durch den Angriff auf das Kind zahm wurden, war der unglückliche Kleine ein legitimer Nachkomme. Schön, nur war es dann ein wenig zu spät, um das Kind wieder ins Leben zurückzuholen, also blieb dem grausamen Vater nichts anderes übrig, als den armen kleinen |305|Leichnam unter Tränen zu begraben. Und die entsetzte Mutter wird ihrem Mann beim nächsten Mal ganz gewiss Hörner aufgesetzt haben … Alles was recht ist, dies ist nun wirklich eine klare, eindeutige GOTTESLÄSTERUNG. Ebenso die von Claudianus, nach der die Germanen ihren Neugeborenen sofort an den Rhein brachten, ihn auf einen Schild legten und dem Fluss übergaben. Wurde er von den Wassern verschlungen und ertrank, war er Frucht eines Ehebruchs, blieb er hingegen an der Oberfläche, galt er als legitim. Es schmerzt sehr, dass Justus Lipsius, ein hervorragender Mann unseres Jahrhunderts, diese Geschichte glaubte.

»Wartet einen Moment«, sagte Schoppe nach beendeter Lektüre.
Er kehrte zu den Höhlen zurück und kam kurze Zeit später mit Guyetus und Hardouin heraus, beide noch schlaftrunken und mit tränenden Augen. Der Verehrungswürdige schnäuzte sich mit einem vom Regen bereits völlig durchnässten Taschentuch, nahm mir die Papiere aus der Hand und hielt sie den beiden vor die Nase, während er kurz erklärte, unter welchen Umständen die Schrift gefunden wurde, was ich mit einem Kopfnicken bestätigte.
Je weiter er mit der Lektüre voranschritt, desto heiterer wurde Hardouins Miene. Der bretonische Buchhändler nickte belustigt, während Guyetus’ Gesicht einen finsteren Ausdruck annahm. Mir fiel ein, wie übel er und seine Kollegen Hardouins Bemerkungen über Lykurg und Sparta aufgenommen hatten. Nun, was wir jetzt in der Hand hatten, stellte Plutarchs Ammenmärchen über die vermeintliche Existenz des Sparta von Lykurg weit in den Schatten. Hier standen alle großen Namen unter Anklage: von Cicero bis zu Titus Livius, Seneca, Pausanias, Plinius und viele andere mehr. Wenn es in ihren Werken so viele Lügen gab, Gotteslästerungen, wie der geheimnisvolle Orestes sie nannte, warum sollte man ihnen den Rest weiterhin glauben? Von der gesamten Geschichte und Literatur des griechischen und römischen Altertums blieb ohnehin kein einziger Stein mehr auf dem anderen, den man nicht mit einem Hauch hätte umwerfen können. Ich vermutete, dies war der Grund für die finstere Miene, den der alte Pariser Philologe an den Tag legte. Aber ich irrte mich, wenigstens zum Teil.
»Ich würde zu gerne wissen, wer dieser Orestes ist, der sogar auf Altgriechisch |306|unterschreibt«, versetzte Schoppe, als die beiden ihre Lektüre beendet hatten. »Unser guter Gabriel Naudé weiß es auch nicht.«
Ich bemerkte, dass der alte Deutsche es vermied, den Inhalt des Dokuments zu kommentieren oder zu kritisieren. Es war zu heikel für einen Philologen, der sein ganzes Leben dem Studium von Werken gewidmet hatte, die jenem Orestes zufolge wahrscheinlich nicht mehr als ein Zeitvertreib von Spaßvögeln waren.
»Merkwürdig, dass Naudé nicht weiß, wer Orestes ist«, sagte Guyetus mit einem undefinierbaren Unterton. »Er kennt ihn nämlich sehr gut.«
»Ihr wisst, wer er ist?«, fragten wir einstimmig und erstaunt zusammenzuckend.
»Natürlich weiß ich das. Es ist Jean-Jacques Bouchard.«