|247|DISKURS XXXVI

Darin der Unterzeichnende einen kleinen Spaziergang mit Kemal unternimmt.

Den ganzen restlichen Tag über regnete es in Strömen, und so verbrachten wir ihn herumlungernd und ruhend (vor allem Guyetus und Schoppe, die beiden Greise in unserer Gesellschaft), bis die Nacht hereinbrach und wir direkt in den tiefsten Schlaf übergingen, nachdem wir uns auf den Strohlagern der Garnison ausgestreckt hatten. Wir alle hatten es bitter nötig, Kräfte zu sammeln.

Am nächsten Morgen wuschen wir uns, so gut es ging, und machten uns ein wenig zurecht. Bei einigen waren die Kleider zerrissen, doch zum Glück fanden wir im Turm Kleidungsstücke verschiedener Art, die der Garnison gehört hatten. Nach einem üppigen Frühstück, vom Statthalter Ali Ferrareses mit einer Geschicklichkeit zubereitet, die wie ein Zauberkunststück beklatscht wurde, waren wir zum Aufbruch bereit. Doch da fielen Schoppe und Guyetus erneut die Augen zu, weil sie zu viel gegessen und ihre Kräfte noch nicht zurückgewonnen hatten.

Unterstützt von dem düsteren Wintertag schloss der gute Gott Morpheus, der sanfte Despot über die menschliche Ruhe, der ganzen Gesellschaft erneut die Augen, zumal auch das leise, aber insistente Schnarchen des Deutschen und seines Pariser Kollegen ansteckend wirkte. Das nutztet ihr beide, du und Barbello, natürlich aus, um euch zu intimen Aktivitäten zurückzuziehen, welche ihrerseits den Schlaf befördern. Malagigi sorgte wie gewohnt dafür, dass ihr euch unbeobachtet davonschleichen konntet. Nur zwei Personen widerstanden dem Herrn des Schlafs: Die eine war ich, armer Secretarius, unfreiwillig ein Feind des Schlummers, die andere war der Statthalter.

Er stand neben mir und blickte durch das Fenster auf die blitzenden Strahlen, welche die zwischen den schwarzen Wolken am Himmel hervorscheinende Sonne auf die Erde warf. Die kurzen, sonnigen Abschnitte machten die Luft kristallklar, wie sie nur an Wintertagen sein kann. Ich schlug ihm vor, hinauszugehen, um frische Luft zu schnappen. Der grobe Korsar schien ein wenig überrascht, willigte aber ein.

Wir machten einen langen Spaziergang über die vom unbarmherzigen Seewind gepeitschten Klippen und unterhielten uns, mal in das raue Gold der Dezembersonne getaucht, mal vom perlmutternen |248|Dunst der dichten Wolken umhüllt. Vielleicht war es dieser fortwährende Wechsel, der mich beim Sprechen gelegentlich in Schweiß ausbrechen und dann wieder erschauern ließ.

Wir sahen uns kaum an, sondern hielten den Blick auf den welligen Horizont gerichtet. In Wirklichkeit war ich eher derjenige, der sprach, und er hörte zu. Plötzlich legte mir Kemal eine Hand auf die Schulter:

»Ich gehe pissen«, sagte er einfach und entfernte sich, die Klippe hinabsteigend.

Ich sah ihn bald wieder auftauchen, aber er kehrte nicht zu mir zurück. Er setzte sich auf einen Stein, um aufs Meer zu blicken. Die Luft wurde immer milder. Auch ich setzte mich am Gipfel des Kliffs nieder, von wo aus ich das umliegende Panorama und Kemal, den abtrünnigen Italiener, im Blick hatte.

Nach einer Weile kletterte der Korsar wieder zu mir hinauf und setzte sich neben mich.

»Wisst Ihr was? Ich habe nicht die Bohne kapiert von dem, was diese verrückten Leute, die da oben im Turm schlafen, über diese griechische Stadt mit ihren Refektorien erzählen, den zu gleichen Teilen aufgeteilten Ländereien und den Kindern, die stehlen üben, ohne bestraft zu werden. Klar ist für mich nur, dass der slawonische Mönch für sie Gold wert ist. Wenn ein König sie jetzt an seinen Tisch laden würde, würden sie sagen: ›Nein danke, mein slowenischer Mönch erwartet mich.‹ Richtig?«

»Richtig«, bestätigte ich nur amüsiert.

»Wie man’s auch dreht und wendet, im Grunde seid ihr alle Gold wert!« Kemal brach in ein herzhaftes Gelächter aus. Er schien das Lösegeld zu meinen, das Ali Ferrarese sich für uns von den Franzosen erhofft hatte.

»Auch Ihr seid Gold wert«, stellte ich fest.

»Pah, wer interessiert sich schon für einen abgehalfterten Ketzer, außer den Inquisitoren.«

»Ihr seid wichtig für Ali Ferrarese«, schmeichelte ich ihm.

Kemal lächelte bitter.

»Bei allen Göttern, das ist ein Mann, der weiß, was er will!«, rief er plötzlich aus. Er hieb sich mit der Faust auf den Oberschenkel, und seine Stimmung wechselte, als er an seinen Kommandanten dachte, wie die eines Mönchs, der am Abend reumütig erkennt, dass er den ganzen Tag lang nicht gebetet hat.

|249|»Ihr steht ihm um nichts nach«, beharrte ich lächelnd.

»Nein, ich bin nichts Besonderes«, verbesserte mich der nun wieder ernst gewordene Barbareske. »Wir italienischen Abtrünnigen sind so. Die Natur des Korsaren und die des Italieners gleichen sich seit jeher. Es ist, als hätte Allah die Italiener aufgerufen, ein Loch in der Welt zu füllen, und dieses Loch sind die Korsarenschiffe. Ja, natürlich, es gibt und gab auch englische, holländische, türkische, arabische Korsaren und andere mehr … Barbarossa war zum Beispiel ein Grieche. Aber wenn man in Tunis oder Algier von einem wahren Barbaresken spricht, der durchs Feuer gehen kann und am Leben bleibt wie ein Salamander, der aus seiner eigenen Asche wiedergeboren wird wie der Phönix, dann ist die Rede von Italienern. Wie Occhialì.«

Das Mysterium der Zeit
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