DISKURS LXXXIV
Darin wieder über die Karte der Insel diskutiert wird und Gabriel Naudé eine Erleuchtung hat.
»Philos Ptetès und der Kopist des armen Bouchard sind ein und dieselbe Person«, sagte er schließlich.
Verblüfft drehten wir unsere Köpfe zu ihm um.
»Ihr meint, dieses B im Sand bedeutet Bouchard, und Philos Ptetès hat es geschrieben?«
»Genau. Als wir nach dem Untergang des französischen Brandschiffs alle zusammen im Rettungsboot saßen, habt Ihr mir erzählt, dass Ihr Bouchard in der Toskana getroffen habt, der auf der Suche nach einem guten Kopisten für eine Handschrift dieses byzantinischen Historikers Synkellos war. Ihr habt mir berichtet, mein armer Freund sei so froh gewesen, einen guten Kopisten gefunden zu haben, |552|dass er ihm noch andere Handschriften in seinem Besitz anvertraut habe. Jetzt wissen wir, dass die beiden ein und dieselbe Person sind. Dieser Verdacht war mir übrigens schon gekommen, als wir immer wieder neue Aufzeichnungen von Bouchard und gleichzeitig Papiere von Poggio Bracciolini fanden.«
»Das ist ja unglaublich!« Vor Staunen fuhr ich auf, was bei uns dreien zu einem schmerzhaften Zerren an dem Seil um unsere Handgelenke führte.
»Gebt doch acht!«, schimpftest du, weit mehr daran interessiert, hier herauszukommen, als an Bouchard oder dem Mönch.
»Entschuldigt bitte, Signorino Atto, doch Ihr werdet meine Überraschung verstehen. Angesichts dieser Mitteilung, Monsire Naudé, muss ich Euch daran erinnern, dass es im Großherzogtum der Toskana von trefflichen Kopisten nur so wimmelt, und ihre Geschicklichkeit ist bekanntlich einzig auf der Welt. Habt Ihr selbst nicht auch in Florenz im Auftrag Kardinal Mazarins nach einem Kopisten für die Gutenbergbibel gesucht?«
»Was hat das denn damit zu tun? Dank der ausgezeichneten Beziehungen zwischen Frankreich und dem Großherzogtum konnte ich mich der offiziellen Kopisten der Medici bedienen. Als Cousins der Regentin Anna von Österreich sind die Medici ihr gerne in jeder Weise gefällig. Bouchard dagegen suchte einen privaten Kopisten – just einen wie Philos Ptetès!«
»Ihr habt zweifellos recht«, pflichtete ich ihm bei, während ich eine bequemere Sitzhaltung einzunehmen suchte, ohne meinen Gefährten im Unglück zur Last zu fallen. »Doch daraus zu schließen, dass der slawonische Mönch und Bouchards Kopist ein und dieselbe Person sind …«
»Aber ja doch! Warum finden sich Bouchards Aufzeichnungen sonst auf dieser Insel zusammen mit den Papieren von Poggio Bracciolini? Wollt Ihr eine Bestätigung? Es war der Mönch, der dieses B im Sand zurückgelassen hat, da es auch ein neuer Buchstabe für unsere Karte ist, zusammen mit den anderen, die wir in der Torre Vecchia, im Haus von Nummer Drei und in der Piana dei Morti gefunden haben. Wie ich vermutet habe, ist das alles sein Werk.«
»Der Mönch weiß aber noch nicht«, überlegte ich, »dass Ihr seine Karte in Händen habt, nicht Schoppe.«
»Und ich sage Euch außerdem«, fuhr er in weit schärferem Ton fort, |553|»Poggios Erbschaft, die der Mönch den Pariser Philologen brieflich angeboten hat, kann nur von Bouchard selbst stammen. Aus diesem Grund habe ich Euch nicht verraten, Signor Secretarius.«
»Verraten? Bei wem?«, heuchelte ich Verständnislosigkeit.
»Bei den anderen. Noch weiß niemand, dass auch Ihr Bouchard kanntet. So seid Ihr nicht unter den Verdächtigen, im Gegensatz zu mir.«
»Moment! Zu sagen, dass ich ihn kannte, ist übertrieben. Wie ich Euch erzählte, habe ich ihn einmal getroffen, und das scheint mir kein ausreichender Grund, mich zu verdächtigen, mit seinem Tod zu tun zu haben.«
»Wie auch immer, auch ich habe nichts mit dem Tod meines Freundes zu tun. Allerdings taucht mein Name in seinen irren Aufzeichnungen auf. Philos Ptetès wusste also schon, wer ich bin, bevor er mir begegnete, und er steckt auch hinter den Funden des Satyricon von Petronius und der Papiere von Bouchard. Darum hat er gestern trotz meiner Versuche keine Anspielung auf Poggio machen wollen.«
»Könnte es sein, dass er uns seit dem Schiffbruch auf dieser Insel hinterherspioniert?«, fragtest du erstaunt.
»Ich sehe keine andere Erklärung für unsere dauernden Funde von Bouchards Notizen und Poggios Papieren. Von wegen Zauberschloss des Magiers Atlante, wie der arme Guyetus dachte! Das hätten wir schon früher kapieren können. Wir sind alle dumm gewesen«, schloss er in einem Ton, der allmählich von Trostlosigkeit in Verzweiflung überging.
»Ein höchst geschickter Schauspieler, dieser Mönch, das muss man ihm lassen«, bemerktest du. »Doch warum hätte er sich so seltsam verhalten sollen, statt uns seine Anwesenheit auf der Insel sofort kundzutun?«
»Vielleicht hat er, als er uns nach dem Schiffbruch belauschte, schon bald meinen Namen gehört«, vermutete Naudé, »und da er mich für schuldig am Tod Bouchards hält, hat er beschlossen, euch durch seine Aufzeichnungen von der Geschichte zu informieren und mich bei euch verdächtig zu machen. Vielleicht hat er deshalb dieses B für Bouchard hier hinterlassen.«
»Aber die kostbaren Seiten des Petronius auf diese Weise über der Insel zu verstreuen, nur um Katz und Maus zu spielen, erscheint mir wirklich übertrieben«, wandtest du ein.
|554|»Das kann ich mir selbst nicht erklären«, gestand Naudé und fügte nach kurzer Pause mit einer von Seelenpein beschwerten Stimme hinzu: »Ihr könnt Euch nicht vorstellen, wie qualvoll es für mich ist, beobachtet, verdächtigt, sogar verurteilt zu werden. Die Verleumdung, meine Freunde, ist eine unsterbliche Göttin, hat sie sich einmal an dich geheftet, gibt es keine Rettung mehr. Es wird immer jemanden geben, der sich erinnert und sie wieder hervorholt, während die Wahrheit, eine sehr viel komplexere Materie, leicht vergessen wird. Wie Sallust in seinem Catilinia sagte: ›Alle anderen Verbrechen kann man verfolgen, nachdem sie begangen wurden; sorgst du bei diesem hingegen nicht dafür, dass es gar nicht erst geschieht, wirst du, nachdem es begangen wurde, vergeblich vor Gericht Gerechtigkeit fordern!‹«
Wir nickten beide zustimmend bei diesen Worten des Bibliothekars, obwohl ich mich fragte, ob dieser Satz wirklich von Sallust stammte, oder ob Naudé nicht wieder einmal falsch zitiert hatte.
Die Wahrheit ist immer kompliziert, da hatte Naudé recht. Doch mit dieser weisen Erkenntnis, überlegte ich lächelnd, machte Naudé sich ein Prinzip zu eigen, das er selbst bekämpft und verlacht hatte, als er es aus Schoppes Mund hörte: Einfache Erklärungen sind weit verbreitet, aber sie sind oft zu einfach, um wahr sein zu können, hatte der Verehrungswürdige erklärt, als unser Grüppchen auf dem Weg zur Piana dei Morti über den Prozess gegen Galileo diskutiert und gestritten hatte.
»Glaubt Ihr, es sei mir egal, wie man sich hier auf Gorgona den Mund über mich zerrissen hat?«, fragte Naudé.
Etwas störte mich: Während er redete, konnte ich ihm nicht direkt ins Gesicht sehen.
»Ja, es ist wahr«, hub er wieder an, »in der letzten Phase seines Lebens hat der arme Bouchard mich mehrmals um Rat gefragt. Aber das bedeutet nichts und sagt nichts über sein Ende aus. Während der letzten Jahre vor dem Überfall kam er immer dann zu mir, wenn ihn diese seltsamen Zweifel über die Wahrheit der Dinge befallen hatten, und das geschah sehr oft. Er sagte immer öfter, dass die antiken Historiker Lügner, nein, Gotteslästerer seien. Ich verstand nicht recht, was er damit meinte, und um die Wahrheit zu sagen, es interessierte mich auch nicht besonders, waren es doch eindeutig Phantasien einer gemarterten und verwirrten Seele. Er legte lange Listen an mit Dingen, die die |555|Historiker des Altertums geschrieben hatten und die seiner Meinung nach weder möglich noch wahrscheinlich waren. Armer Bouchard, mit welchen Spinnereien vergeudete er manchmal seine Zeit!«
Ich kannte diese Listen. Sie waren in den Aufzeichnungen enthalten, die Naudé selbst im Haus von Nummer Drei gefunden hatte. Ich hatte die Zusammenfassung gemeinsam mit Mazarins Bibliothekar überflogen, und am nächsten Morgen im Wald hatte ich zusammen mit Schoppe, Guyetus und Hardouin den ganzen Text gelesen.
»Eines Tages ging ich ihn im Palazzo della Cancelleria besuchen«, fuhr Naudé fort, »und er ließ mir fast keine Zeit, mich hinzusetzen, so sehr brannte ihm auf der Seele, was er mir sagen wollte.«
»Monsire Naudé«, kam ich ihm zuvor, »Ihr müsst Euch nicht verpflichtet fühlen, Euch zu rechtfertigen, insonderheit nicht vor mir und Signorino Atto. Wir hatten nie die Absicht, Euch Böses zu unterstellen.«
»Das stimmt, Monsire Naudé«, setztest du nach, »wir können Euch versichern, dass …«
»Lasst mich erzählen, was Bouchard mir damals sagte«, bat der Bibliothekar.
Wir Starken Geister, hatte Bouchard in jenen, nunmehr fünf Jahre zurückliegenden Tagen zu Naudé gesagt, brüsten uns damit, dass wir auf die Märchen der Priester, der Abergläubischen, der Heuchler, die aus Eigennutz predigen, nicht hereinfallen. Wir haben das griechische und lateinische Altertum zu unserem idealen Reich erhoben, weil wir dort, auf den Weiden der Philologie, im Olymp der großen Geister, der so befreiend anders ist als unsere armselige, von Religion und Bigotterie vergiftete Gegenwart, frei umherschweifen können und nur ein einziges Reittier brauchen: unsere Vernunft. Um es anzuspornen, haben wir die Peitsche des Skeptizismus, als heilige Schrift halten wir die kostbaren Handschriften antiker Autoren, die uns die Antike überlieferte, unter dem Arm. Epikur, der Hedonist, hat uns das gute Leben gelehrt, die Stoiker, wie Seneca, haben uns im guten Sterben unterwiesen und uns gezeigt, wie wir freiwillig in den Tod gehen können, wenn die Ehre es erfordert. Die Sophisten haben uns beigebracht, die Argumente anderer zu sezieren, um das Wahre und Falsche zu unterscheiden. In der Gelehrtenrepublik sind wir alle gleich, jeder ist König und Untertan in einem, bewaffnet nur mit dem scharfen Schwert der Vernunft.
|556|Also kannst auch du, Gabriel Naudé, so hatte Bouchard gesagt, genauso gut sehen wie ich, was wahr oder falsch, vollständig oder lückenhaft ist, und wir müssen dafür keinen Glauben bemühen. Meinst du nicht auch, dass diesen Historikern fernster Epochen, diesen sonderbaren Berossos und Manetho, diesen Vätern der ältesten Antike, mit demselben Misstrauen begegnet werden muss, das wir den Märchen der Frömmler entgegenbringen?
Erscheint es dir nicht auch ein wenig seltsam, dass uns nur Autoren überliefert sind, die bei anderen Autoren über Berossos und Manetho gelesen haben, welche wiederum nur indirekt von ihnen wussten? Findest du es nicht verwunderlich, dass weder von den beiden selbst noch von den späteren Autoren, die ihre Schriften in Händen gehalten haben wollen, auch nur eine einzige Seite überliefert ist? Und hältst du die Dinge, die Berossos und Manetho berichtet haben sollen, nicht auch für aberwitzig? Zu guter Letzt: Siehst du nicht, dass die Berichte von Herodot, Livius, Plutarch, Cicero, Valerius Maximus, Plinius und Tacitus mit jenen Lügen gespickt sind, die ich Gotteslästerungen nenne?