Der Paria und die Leichtgläubigen
Bäume mit so ausladenden Zweigen, dass sie zehntausend Männer bedecken konnten; Anakreon, der sich an einer getrockneten Weinbeere verschluckte und starb, und der Senator Fabio, der an einem Haar in seiner Milch erstickte; Muzio Scevola, der sich aus Buße unbeirrt die rechte Hand in einer Kohlenpfanne röstet; Stürme, in denen es Blut, Fische und Steine regnet; Nero, der Rom anzündet und glückselig, von seiner Lyra begleitet, über den rauchenden Ruinen singt; Königin Kleopatra, die wie eine Hollywoodheldin vor Cäsar aus einem aufgerollten Teppich schlüpft, den ein Händler ihm vor die Füße gelegt hat, und ihn auf der Stelle schamlos verführt. Maecenas, der drei Jahre nicht schlief und Epimenides, der fünfzig Jahre schlief ohne aufzuwachen; Aischylos, der starb, weil ein Adler ihm eine Schildkröte auf den Kopf fallen ließ. Oder die berühmten Gesetze des Lykurg, der anstatt Gold- und Silbermünzen riesige Scheiben aus Eisen einführte, die man nur mit Schubkarren transportieren konnte, oder verbot, die Holzdächer der Häuser mit der Axt und die Türen mit der Säge zu bauen.
Schließlich Aristoteles’ Schriften, die, bevor sie das laizistische Evangelium der Menschheit wurden, sorgfältig in der Erde vergraben, den Würmern zum Fraße dienten. Und schweigen wir lieber vom Ägypter Manetho, der von den Zeiten erzählt, in denen die Wasser des Nils mit Honig gemischt flossen, oder vom Pharao Sesochris, der so groß wie ein Elefant war.
Zu Tausenden könnte man die Reihe völlig unwahrscheinlicher, aber in das ernste Kleid der Geschichtsschreibung gehüllter Erdichtungen, die uns die Antike überliefert hat, weiterführen. Und Millionen sind die Studenten, die gezwungen waren, sich die griechischen und römischen Geschichtsschreiber, die Autoren dieser für Schwärmer und Leichtgläubige verfassten Kitschromane, |774|einzuprägen. Auch wir haben zu ihnen gezählt, wurden in den besten Jahren unserer Jugend dazu gezwungen, uns die als reine Wahrheit verkauften Legenden mühsam anzueignen.
Die Liste der Unsinnigkeiten antiker Historiker in Bouchards Aufzeichnungen (Diskurs XXXV und die Notizen zu XXXIX und XLII) ist lediglich eine winzige Auswahl aus dem Meisterwerk des skeptischen Humors, das uns Abt Secondo Lancelotti in I farfalloni degli antichi historici, Venedig 1637, hinterlassen hat, in dem sich auch die Titel der Werke und die Nummern der Kapitel, aus denen die Beispiele gezogen wurden, finden lassen.
Wie der aufmerksame Leser gemerkt haben wird, ist zwischen den vielen unwahrscheinlichen Geschichten, die uns die Antike überliefert hat, nicht nur Platz für die naiven Mythen aus Roms Anfängen, wie die Geschichte der Wölfin, die Romulus und Remus gesäugt hat, oder die epischen Phantasien Homers. Es geht im Gegenteil um ernstzunehmende Geschichtsschreiber wie Tacitus, der uns, nachdem er penibel die ethnischen Gruppen des antiken Germaniens aufgelistet hat, über die sich noch heute Wissenschaftler die Köpfe zerbrechen, versichert, dass die Häuser der teutonischen Vorfahren mit Putz aus Kuhmist gemacht wurden, oder uns von Erdbeben erzählt, die Flüsse in die Luft hoben, sodass Wanderer unter ihnen spazierten. Vor so hanebüchenen Informationen ist es legitim, auf die Bremse zu treten: erst nachdenken und dann, gegebenenfalls, glauben.
Die Philologie hat es jedoch vorgezogen, die Reihenfolge dieser beiden Handlungen umzukehren, und wurde so zu einer Wissenschaft, die hauptsächlich aus Mutmaßungen besteht. Es war unausweichlich, dass das Pendel einmal die Richtung änderte: vom Höhepunkt des Vertrauens und der Leichtgläubigkeit zum absoluten Misstrauen. Dies geschieht nun bereits seit über drei Jahrhunderten.
Die gewagte These, dass die gesamte Antike nichts anderes als eine gigantische Fälschung sei, verübt von gelehrten Mönchen des XI. bis XIV. Jahrhunderts, wurde zum ersten Mal vom französischen Jesuiten Jean Hardouin (1646–1729) formuliert.
Unser Buchhändler Louis Hardouin, eine historische Gestalt aus Fleisch und Blut, war bretonischen Ursprungs und in Paris tätig. Das Kind, dessen Vater er Ende 1646 wird (dies haben wir in dem Roman Verschleierung1, dem Gegenstück zu diesem Buch, erzählt) ist niemand anderer als eben der gelehrte |775|Jesuit Jean Hardouin, geboren am 23. Dezember 1646, der ein berühmter und umstrittener Gelehrter der lateinischen und griechischen Klassiker war.
Der wagemutige Jesuit hatte keine Gelegenheit, seine Theorie publik zu machen. Einige kleinere Werke wurden in Amsterdam veröffentlicht, vielleicht ohne seine Zustimmung. Aufgrund der heftige Angriffe und Polemiken zwang die jesuitische Gemeinschaft Pater Hardouin aber zu einer Art Abschwörung und stoppte dann die Veröffentlichung seiner Werke. Der größte Teil verblieb also in einem handschriftlichen Stadium, in vielen Fällen schon bereit zum Druck. Hardouins handschriftliche Kodizes werden in der Nationalbibliothek in Paris aufbewahrt (Lateinische Manuskripte 12015, 8799, 8784, 6574, 6573, 3452, 3422, 2746, 1583 sowie 3647, 6216 und 6226A, aufgrund des schlechten Konservierungszustandes nicht einsehbar). Um es jedem interessierten Leser zu ermöglichen, sich ein direktes Bild von den provokativen Ideen Hardouins zu machen, ohne dass sie durch den Filter der Kritik gehen mussten, haben wir die Photographien der Manuskripte auf der Webseite http://www.attomelani.net/index.php/english/mysterium/hardouin-manuscripts/ zugänglich gemacht.
Bis jetzt hat niemand die Schriften Jean Hardouins gelesen, und während wir es taten, bemerkten wir, dass die moderne Wissenschaft von seinem Werk kaum Kenntnis genommen hat. Es sind nur einige kleinere gedruckte Werke Hardouins im Umlauf, vor allem ein postum veröffentlichtes Heftchen, Ad censuram scriptorum veterorum prolegomena (London 1766), eine rasche Synthese seines Denkens, die das Glück hatte, noch einmal in moderner Zeit zu Anfang des vorigen Jahrhunderts in englischer Sprache zu erscheinen. Das Original hingegen erschien vierzig Jahre nach Hardouins Tod. In dem anonymen Vorwort, das dem nunmehr verstorbenen Jesuiten ausdrücklich feindlich gesinnt ist, wird des Autors mit einem Sonett gedacht, das ihn als credulitate puer, audacia juvenis, deliris senex (»leichtgläubig wie ein Kind, dreist wie ein Bub, verwirrt wie ein Greis«) beschreibt. Es ist uns nicht gelungen, die Originalhandschrift der Prolegomena aufzutreiben, von der der anonyme Herausgeber behauptet, er habe sie in der gedruckten Ausgabe gewissenhaft befolgt. Es fehlt also nicht an Zweifeln über die Echtheit oder auch nur Vollständigkeit des Textes.
Heute wird Pater Hardouin allgemein als armer, irrer Paranoiker eingestuft. Ähnlich wie es in der Sowjetunion mit den abtrünnigen Intellektuellen geschehen ist, wurden seine Ideen nicht mit philologischen Argumenten widerlegt, sondern mit psychiatrischen. Gewiss wird ihm sowohl heute als auch |776|zu seinen Lebzeiten eine unvergleichliche Bildung zugestanden (man erinnere sich an seine beispielhafte Ausgabe der Historia Naturalis von Plinius) und einen beachtenswerten Sachverstand auf dem Feld der Numismatik (Hardouin nutzte antike Münzen, um die literarischen Fälschungen zu entlarven). Im Allgemeinen werden seine Hypothesen aber ohne eine direkte Untersuchung abgetan. Man stützt sich höchstens auf die Argumente seiner Zeitgenossen – also auf die Auctoritas der Vorfahren, wie es die Geisteshaltung der vormodernen Gesellschaft wollte. Oder man behilft sich mit einer flüchtigen Lektüre der Prolegomena, deren handschriftliches Original aber seltsamerweise unauffindbar ist.
Keiner seiner Kritiker hat das Herzstück seines Werkes, die nicht publizierten Pariser Handschriften, gelesen. Doch Hardouins noch zu Lebzeiten veröffentlichte gedruckten Werke enthalten nur einige Leitideen. Der wagemutige Jesuit behauptete beispielsweise, dass die Werke der Antike vom stilistischen Standpunkt aus gesehen wenig glaubhaft seien (zum Beispiel Vergils Aeneis, die Hardouin schlechthin als plump und stark an die Abenteuerromane des Mittelalters angelehnt empfand); dass die abstrakten Doktrinen der Kirchenväter (Augstinus, Thomas von Aquin, Dominikus) und die endlosen, faden philosophischen und ketzerischen Moralschriften, die im Laufe der Jahrhunderte von den ökumenischen Konzilen (Konstantinopel, Ephesos, Nicäa, Chalcedon etc.) ausgeweidet worden waren, nichts anderes seien als Erfindungen skrupelloser Mönche, die daran interessiert gewesen seien, den christlichen Glauben zu verwässern und zu trüben. Hardouin fand schließlich heraus, dass viele der antiken Münzen gefälscht waren, um, so behauptete er, die ebenfalls gefälschten griechischen und lateinischen Klassiker zu bestätigen.
Die gewagte Behauptung, dass einige Konzile der katholischen Kirche nur historische, im Nachhinein konstruierte Täuschungen seien, ist in Wahrheit keine Erfindung Hardouins. Wie Naudé Atto Melani im Diskurs XCIII erinnert, hielt der Gräzist Leone Allacci, einer der Gelehrten, mit denen Bouchard in Kontakt stand, die Schriftstücke des berühmten achten Konzils von Konstantinopel für eine Täuschung und glaubte sogar, dass das Konzil selbst niemals stattgefunden habe. Eine Meinung, die auch der berühmte Humanist Antonio Possevino teilte (vgl. L. Canfora, Il Fozio ritrovato; Juan de Marianae André Schott, Bari 2001, S. 79). Wie man sieht, den bizarren Ideen des Jesuiten Hardouin fehlte es nicht an illustren Vorgängern. Auch seine so befremdliche Idee von hochgelehrten, weltabgeschiedenen Klostergemeinschaften, die sich in großem Umfang dem schändlichen Werk der historischen und literarischen Fälschung widmeten, ist nicht völlig ohne Anhaltspunkte. Das im |777|5. Jahrhundert am Bosporus entstandene berühmte Kloster der Akoimeten (= die Schlaflosen) war von frommen Ordensmännern bevölkert, die sich Tag und Nacht im Gebet abwechselten, um dessen Kreislauf nie zu unterbrechen. Erst ab den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts erkannte man, dass an dem frommen Ort der Meditation außer den liturgischen Gesängen auch noch Unmengen brillanter Fälschungen produziert worden waren. Zum Beispiel das Epistolarium des Isidor von Pelusium, das sich bei eingehenderer Untersuchung als eine riesige Collage aus Bruchstücken anderer schon bekannter Werke herausstellte, und Isidor selbst als ein literarisches Phantom, wie die erfundenen Autoren von Andrea Darmarios. In geschickter Bastelarbeit schufen die Mönche, aus Johannes Chrysostomos schöpfend, auch das Epistolarium (über 1000 Briefe!) des heiligen Nilus. Dieselbe Technik verwendeten sie, um verschiedenen Briefe des Basilius von Caesarea zu erstellen. Auch andere berühmte anonyme oder pseudonyme Schriften wie die Areopagitica und die Erotapokriseis des Pseudo-Kaisarios sind als Lügengebilde der Akoimeten-Mönche entlarvt worden, unter denen der berühmte und skrupellose antiochenische Patriarch Petrus einen Ehrenplatz einnimmt, Empfänger aber auch Verfasser zahlreicher phantasievoller Erfindungen auf theologischem Gebiet, deren – und das ist der beunruhigendste Aspekt – eigentlichen Zweck man noch immer nicht herausgefunden hat (vgl. Gerhard Müller, Schlagwort »Akoimeten« in: Theologische Realenzyklopädie, XXXIV, Tübingen 2002, S. 148–153). Bedenkenswert ist auch die Tatsache, dass einige dieser gewaltigen Fälschungen erst nach 1960 und später entdeckt wurden, also erst Jahrhunderte nach ihrer Entstehung.
Die Chiffre der Namen
Wie Pater Hardouin behauptet hat, existierten die Fälschermönche also tatsächlich. Aber abgesehen vom Dilemma Fälschungen/erfundene Geschichte, das man schon in den Prolegomena Hardouins entdecken kann, sind es die Pariser Handschriften des Jesuiten, in denen sich seine Leitmethode findet, die der Leser durch die Lektüre unseres Romans kennenlernen konnte.
Die Chiffre der Namen (der Begriff ist unsere Erfindung) ist die Geheimsprache, die Hardouin hinter den antiken lateinischen oder griechischen Texten aufgespürt zu haben glaubt. Eingenistet in die Überschriften und die Figuren der Dialoge von Platon verstecken sich, laut dieser Hypothese, andere Worte und Sätze mit Anspielungen auf Jesus, die bezeugen, dass die Dialoge |778|erst nach dessen Tod und nicht, wie üblicherweise behauptet, drei Jahrhunderte zuvor verfasst wurden. Diese in den drei gelehrten Sprachen – Latein, Griechisch, Hebräisch – konzipierte und verfasste »Geheimsprache« sei, so Hardouin, nicht nur in den Dialogen Platons versteckt, sondern auch in Werken anderer, angeblich vorchristlicher Autoren: der großen lyrischen und tragischen Dichter (Aischylos, Sophokles, Euripides, Hesiod, Pindar, Aristophanes, Theokrit) sowie der lateinischen Poeten und Prosaiker (Cicero, Catull, Vergil, Martial). Alle seien von vorne bis hinten gefälscht, pure Erfindungen mittelalterlicher Mönche. Nach Hardouins Theorie spiegelt natürlich auch der Inhalt dieser versteckten Codes den Versuch wider, die christliche Botschaft zu verunreinigen und abzuwerten.
Eine aufwühlende These – oder vielleicht reiner Unsinn? Wie entscheidet man, ob sie auch nur in Teilen glaubhaft ist, ob sie wenigstens eine, wenn auch wackelige Grundlage besitzt?
Eine erste objektive Annäherung musste zunächst prüfen, ob die geheimnisvollen Sätze in dem dreisprachigen Code, die etwas über Jesus aussagen, aber von antiken, heidnischen Autoren geschrieben wurden, wirklich ausfindig gemacht werden konnten. Teils aus Neugierde, teils aus Abenteuerlust entschieden wir uns, diese Herausforderung anzunehmen. Was Latein und Griechisch betraf, konnten wir dank unserer schulischen und universitären Bildung ohne fremde Hilfe vorgehen. Für das Hebräische beauftragten wir zwei voneinander unabhängige Übersetzer in zwei unterschiedlichen Ländern, ohne ihnen etwas über den Zweck des Auftrags zu verraten.
Überraschenderweise bestätigte sich Hardouins Rekonstruktion: Wie die Leser anhand der wenigen Beispiele erfahren konnten, die wir aus dem umfangreichen, präzisen und äußerst komplexen Werk des Jesuiten entnommen (und zusammengefasst dargestellt) haben, scheinen hinter den Überschriften und den Figurenverzeichnissen des Theaitetos oder des Parmenides tatsächlich Sätze mit direktem Bezug auf das Evangelium hervorzutreten. Wir ergreifen an dieser Stelle die Gelegenheit, dem großen holländischen Hebraisten Ruben Verhasselt für die wertvolle Hilfe zu danken, die er uns freundlicherweise geleistet hat.
Hinweis für die Leser: Die Beispiele in Bouchards Aufzeichnungen stammen aus Hardouin, Lateinische Handschrift 6574, Nationalbibliothek Paris (vgl. auch den Link unter www.aufbau-verlag.de). Wer die Richtigkeit der Hardouinschen Methode überprüfen möchte, sollte also von dort ausgehen. In Hardouins Originalmanuskript werden die Formen auch in hebräischer Schrift wiedergegeben, wir haben sie um der besseren Lesbarkeit willen weggelassen.
|779|Im
griechischen Text Platons finden die hebräischen Wörter dank ihres
Klangs hinter griechischen Buchstaben verborgen einen Platz (
»on« wird
beispielsweise zu ων, oder
»ja« wird ια geschrieben).
Wie bereits im Diskurs XCVIII erklärt, gilt es, die in den griechischen Wörtern verborgenen hebräischen Wörter aufzustöbern, indem man zum Beispiel einfach transliteriert oder aus den griechischen Wörtern nur die Konsonanten nimmt, da das Hebräische eine Konsonantensprache ist, in der Vokale nicht geschrieben werden. Hat man hebräische Wörter erkannt, berücksichtigt man nur ihre Wurzel, das heißt, man lässt flexierte Formen weg (Konjugationen, Deklinationen usw.). Dann übersetzt man diese hebräischen Wörter ins Lateinische. Der lateinische Satz, der dabei entsteht, wird sich in der lateinischen Fassung der Bibel wiederfinden lassen, und manchmal finden sich sogar dieselben Wurzeln in der hebräischen Fassung der Bibel.
Die syntaktische Struktur des Satzes ist schließlich die eines lateinischen Satzes, der aber mit griechischen Buchstaben konstruiert ist. Der Mechanismus der Verschlüsselung dieser »geheimen Botschaften« ist im Wesentlichen der von Hardouin selbst erläuterte. Wir haben ihn zum Teil in Bouchards Aufzeichnungen wiedergegeben, die unsere Figuren finden, nachdem sie die Titel von Platons Werken gelesen haben. Nach einigem Nachdenken über Hardouins Interpretationen haben wir uns in aller Bescheidenheit erlaubt, gelegentlich in Nuancen von seinen Schlussfolgerungen abzuweichen.
Die Titel der platonischen Dialoge in Bouchards Notizen sind nur einige wenige der tausenden Beispiele, die Hardouin liefert. Es wäre vielleicht angebracht, (vor allem seitens derjenigen, die seine handschriftlichen Werke nicht mit der gebührenden Aufmerksamkeit gelesen haben) den Jesuitenpater vorübergehend von der Anklage, er habe unter Wahnvorstellungen gelitten, freizusprechen, bis weitere Nachprüfungen erfolgen.
Aber angesichts der ungehaltenen Reaktionen, die Hardouins Ideen auch heute noch in akademischen Kreisen hervorrufen, kann man leicht vorhersagen, dass eine ungetrübte und objektive Prüfung seiner Hypothesen wohl niemals stattfinden wird. Wie alle Verfechter extremer Thesen, die für die akademischen Festungen Unannehmlichkeiten bedeuten, ist Hardouin vermutlich dazu verdammt, ein Paria zu bleiben (der Ausdruck stammt von dem amerikanischen Wissenschaftler Anthony Grafton, auf den wir weiter unten noch zurückkommen werden).
Es ist aber interessant zu bemerken, dass seit vielen Jahren, ja seit Jahrhunderten zwischen einigen Gelehrten und Populärwissenschaftlern eine Debatte über Thesen stattfindet, die denen Hardouins ganz ähnlich sind, in |780|einigen Fällen sogar noch brisanter – oder absurder, je nach Standpunkt –, und von der die Öffentlichkeit wenig oder gar nichts ahnt.
Die Frage liegt auf der Hand: Wenn Hardouins These stimmt, griechische und lateinische Literatur und Geschichtsschreibung also nur eine riesige Farce sind, müssten dann eventuell auch die Jahrhunderte, in denen die gefälschten historischen Begebenheiten stattfanden und in denen die von den Fälschermönchen erfundenen Poeten und Prosaiker lebten, aus dem Kalender gestrichen werden? Gibt es eine erfundene Zeit? Muss die Geschichte um das ein oder andere Jahrhundert gekürzt werden, vielleicht gleich um mehrere Jahrhunderte?
Die Idee, dass die Zeitrechnung stark »aufgepumpt« wurde, ist nicht neu. Faszinierend ist, dass es nicht nur weltfremde, einzelgängerische Gelehrte wie Jean Hardouin waren, die diese These aufbrachten und vertraten, sondern auch von der internationalen Wissenschaftsgemeinschaft hoch angesehene Astronomen und Mathematiker. In einigen Fällen handelte es sich sogar um eine Teamarbeit zwischen Spezialisten einer oder mehrerer Disziplinen. Die von den Medien allgemein ignorierte Debatte ist spannend und sehr komplex. Hier halten wir nur einige wesentliche Momente fest.
Isaac Newton (1643–1727) war davon überzeugt, dass ganze Jahrhunderte aus der Geschichte zu streichen seien, und schrieb darüber sein letztes, postum veröffentlichtes Buch: The Chronology of Ancient Kingdoms Amended, in dem er ein neues System zu entwickeln versuchte, das die traditionellen Zeitangaben der Griechen, Römer und Ägypter verwarf und der Chronologie Scaligers widersprach. Diesen beschuldigte er, zusammen mit seinem Nachfolger, dem Jesuiten Petavius, ganze Geschichtsepochen erfunden zu haben.
Im darauffolgenden Jahrhundert behauptete der Historiker Edwin Johnson (1842–1902), der englische Übersetzer von Hardouins Prolegomena, dass die Zeit vom 8. Jahrhundert n. Chr. bis zum 14. Jahrhundert n. Chr. zu streichen sei. Gewiss ist die Zeit vor der Mitte des 14. Jahrhunderts aufgrund der Pest von 1348, die zwei Drittel der gesamten europäischen Bevölkerung vernichtete, schwerer zu erforschen. Man kann jedoch sicher sein, dass die wenigen Überlebenden die Situation ausnutzten, um sich mit falschen Dokumenten die Besitztümer der zahlreichen verschwundenen Familien anzueignen. Es scheint sogar, dass die großen Namen des Kapitalismus, von den Fuggern in Deutschland bis zu den Odeschalchi in Italien, die bereits um 1350 als reiche Familien auftauchten, sich mit gerissenen Handstreichen zahlreiche Besitzurkunden |781|aneigneten, die ohne Eigentümer geblieben waren (und ohne Notar, der die Originale der Dokumente verwahrt hätte …).
Lange Zeit nahm man an, dass die ägyptische Geschichte als eine gute Grundlage für die Berechnung der Zeitalter anderer Kulturen dienen konnte. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts stellte Cecil Torr (1857–1928) jedoch einige fundamentale Daten in Frage. Ihm widersprach Flinders Petrie (1853–1942), einer der Väter der modernen Archäologie, mit dem Torr eine Kontroverse über die Geschichte Ägyptens begann, die, wie wir sehen werden, bis heute noch nicht zu Ende geführt ist.
In Deutschland vertrat Wilhelm Kammeier (1889–1959) zwischen den beiden Weltkriegen die Theorie der großen Aktion, also einer ausgedehnten, von der römischen Kirche koordinierten Maßnahme zur Verfälschung der gesamten westlichen Kultur vom Mittelalter an – von den im Archiv des Vatikans aufbewahrten Papstregistern bis zu mittelalterlichen diplomatischen Dokumenten. Kammeier lebte in der DDR, wo er, laut seinem deutschen Verleger, an Armut und Hunger starb. Unbequeme Thesen haben keine Freunde.
In den USA konnte sich ab den 50er Jahren der Psychoanalytiker, jüdische Arzt und Freund Einsteins Immanuel Velikovskij (1895–1979) einen umstrittenen Ruf erobern. Er entwickelte auf der Grundlage einer recht persönlichen Lesart der Bibel sowie der Mythen und Zeugnisse verschiedener Kulturen eine Theorie der planetarischen Katastrophen, die eine zeitliche Neuordnung der Zivilisationen im Mittelmeerraum (Israel und Ägypten vorneweg) vorsah. Einige Jahre lang galt Velikovskij bei amerikanischen Universitäten und Akademien als persona non grata und wurde unverhohlen von der offiziellen Wissenschaft boykottiert, obwohl er, vor allem mit seinem berühmtesten Werk Worlds in Collision, New York 1950 große Publikumserfolge feierte und hohe Verkaufszahlen erzielte. Er starb vermutlich an Diabetes und Depressionen, der Folge einer fast kompletten Ausgrenzung aus den akademischen Kreisen.
In jüngerer Zeit vertritt der Deutsche Heribert Illig in einigen Büchern und zahlreichen gut dokumentierten wissenschaftlichen Beiträgen, die oft in Zusammenarbeit mit anderen Wissenschaftlern aus universitärem Umfeld entstanden sind, die Meinung, dass ein bestimmter Teil des Mittelalters (das 7., 8. und 9. Jahrhundert), der unerklärlich arm an historischen Ereignissen und archäologischen Überbleibseln, aber reich an gefälschten Dokumenten ist, nichts anderes als eine künstliche Ausdehnung der Zeit (Phantomzeit) darstellt, die das byzantinischen Reich zusammen mit dem Papsttum und |782|dem westlichen Römischen Reich schuf, um die Geschichte und die Zählung der vergangenen Zeitalter auf einer günstigeren politisch-ideologischen Grundlage neu zu schreiben. Das Ergebnis wäre, dass einige historische Persönlichkeiten, die für sich schon wie romanhafte Gestalten erscheinen (z.B. Karl der Große, der im 9. Jahrhundert lebte), vollständig in das ihnen gemäße legendenhafte Umfeld zurückkehren, und wir uns heute im 18. statt im 21. Jahrhundert nach Christus befinden würden.
Von Illigs Forschungen angeregt, haben ihn weitere deutsche und Schweizer Wissenschaftler mittlerweile überholt und bezeichnen ihn sogar als konservativ. Der russische Mathematiker Anatolij Fomenko, ein hoch angesehener Wissenschaftler von internationalem Ruf und Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Moskau, ist zu der Überzeugung gelangt, dass die Vergangenheit in dem Maße gekürzt werden müsse, dass die Geburt Jesu um das Jahr 1000 anzusetzen sei, und fegt so zehn Jahrhunderte Geschichte weg. Um zu dieser Schlussfolgerung zu gelangen, bemühte Fomenko, der ein ganzes Team von Wissenschaftlern koordiniert, diverse Disziplinen, von der Astronomie bis zur Statistik, von der Linguistik bis zur Interpretation der Hieroglyphen und antiker ägyptischer Horoskope. Fomenko veröffentlichte seine Arbeit von den Ausmaßen einer Encyclopädia Britannica größtenteils bei dem seriösen akademischen Verlag Kluwer und löste Verstimmungen und Polemiken in wissenschaftlichen Kreisen aus. Auf seinem Weg folgte er den Spuren seines Landsmannes Nicolai Morozov (1854–1946), der im stalinistischen Russland der 20er und 30er Jahre aktiv und Verfechter eines mehrere Jahrhunderte umfassenden Schnitts in der antiken und mittelalterlichen Geschichte war, weswegen er von den universitären Hierarchien des kommunistischen Russlands erbittert bekämpft wurde. Von Bedeutung war für Fomenko auch die Arbeit des amerikanischen Astronomen Robert Newton (1918–1991). In den 70er Jahren vermutete dieser amerikanische Wissenschaftler, dass eine unerklärliche Anomalie in der historischen Rekonstruktion der Mondbeschleunigung nur auf eine Weise erklärt werden konnte: indem man den Almagest von Ptolemäus, den berühmten ägyptischen Traktat zur Astronomie, dessen Tafeln die Bewegungen der Sterne und des Mondes beschreiben und das zahlreichen Gelehrten, einschließlich Scaliger, als Grundlage für die Berechnung der Vergangenheit diente, auf das Mittelalter datierte.
Vom Almagest spricht im Roman der Buchhändler Hardouin, wenn er im Diskurs LXXIII und folgenden daran erinnert, wie Ptolemäus das platonische Prinzip sozèin ta fainòmena, Rettung der Phänomene auf die Astronomie anwandte:
|783|Er appellierte an die Bescheidenheit, die die menschliche Wissenschaft auszeichnen muss, und warnte davor, Göttliches und Menschliches miteinander zu vergleichen. Gott allein kennt das wahre Wesen der Dinge, der Mensch braucht nur ein Rechensystem, um natürliche Vorgänge seinen Zwecken dienstbar zu machen, mehr nicht.
Dieses Prinzip von Platon und Ptolemäus nahmen Papst Urban VIII. und Kardinal Bellarmino wieder auf, als sie versuchten, es Galileo Galilei verständlich zu machen (vgl. auch in den Anmerkungen das Kapitel über Galilei):
Hat Jesus Christus, so entgegnete Maffeo Barberini seinem Freund Galileo, uns nicht offenbart, dass Gott abba, also »Vater« oder »Papa« ist? Abba, mit diesem Namen riefen die kleinen Kinder zu Jesu Zeit ihren Vater. Jesus will uns damit sagen, dass der menschliche Geist, dessen Erkenntnisfähigkeiten er doch so hoch schätzte, die Wahrheit der Dinge nicht besser versteht als ein Kindchen. Das Klügste, was wir tun können, lieber Galileo, ist also, uns mit unbeweisbaren wissenschaftlichen Kenntnissen zu praktischen Zwecken abzufinden. Im Übrigen müssen wir dem Vater vertrauen, wie die Kinder in zartem Alter es tun.
Wenn Robert Newton Recht hatte, ist der Almagest von Ptolemäus neben Platons Dialogen also ein weiteres Werk, das als vorchristlich ausgegeben wurde, obwohl es erst in einer Zeit nach Christus verfasst worden war. Die Vaterschaft der »christlich-affinen« Thesen von Platon und Ptolemäus würde also den Evangelien zustehen, da sie früher verfasst wurden, und die Anschuldigung, das Christentum hätte sich bereits existierender Ideen bedient, müsste fallengelassen werden.
Fomenko meint stattdessen, dass die Berechnungen zur Mondbeschleunigung wieder aufgehen würden, wenn man die »überflüssigen Jahrhunderte« in der Zeitgeschichte streichen würde.
In der unerschöpflichen Diskussion mangelt es nicht an ausgezeichneten fachspezifischen Herangehensweisen. Der bulgarische Mathematiker Jordan Tabov bewies mit auf die Numismatik angewandten statistischen Untersuchungen, dass die Funde antiker Münzen in Bulgarien in starkem Gegensatz zur traditionellen Geschichtsschreibung stehen (insbesondere zeigt sich eine ungemeine Knappheit von Münzen aus den Jahrhunderten von Illigs »Phantomzeit«) |784|und machte so den Weg zu der Hypothese frei, dass eine große Anzahl von Münzen mit falsch geprägtem Datum in Umlauf gebracht wurden. Aber von wem? Und aus welchem Grund?
In den 90er Jahren, fast ein Jahrhundert nach dem Duell zwischen Torr und Petrie, entbrannte in England erneut eine glühende Debatte um das Problem der ägyptischen Zeitrechnung, dieses Mal ausnahmsweise mit Fernsehbeiträgen der BBC und Debatten in Nachrichtensendungen. Die Kontroverse war von dem Buch Centuries of Darkness ausgelöst, das von einer Gruppe Spezialisten (den Archäologen I.J. Thorpe und John Frankish, dem Historiker Nikos Kokkinos, dem Ägyptologen Robert Morkot), angeführt von Peter James, der die Arbeiten koordinierte, verfasst wurde. Laut Centuries of Darkness ist die Zeitrechnung der Ägypter so überdehnt, dass sie einen Schnitt von circa zweieinhalb Jahrhunderten erfordern würde, was relativ präzise mit den Berechnungen von Isaac Newton übereinstimmt. Gegen die Gruppe um James stellte sich der Ägyptologe Kenneth Kitchen, der die Gegner als »junge Absolventen« und »Söhne von Velikovskij« anging, und ihnen dasselbe Ende wie ihrem Meister wünschte. Insbesondere griff Kitchen seine Gegner wegen ihres »irrationalen Hasses« auf Manetho an (dem griechischen Geschichtsschreiber, der von Pharaonen groß wie Elefanten erzählte). Kitchen musste es aber auch mit seinem Kollegen David Rohl aufnehmen, der dreieinhalb Jahrhunderte aus der Pharaonenzeit streichen wollte.
Das Rätsel um das Pharaonenreich wurde nicht gelöst: Obwohl man in den Schulen weiterhin die ägyptischen Dynastien unterrichtet, ist alles andere als klar, ob einige von ihnen überhaupt existierten und wie lange sie dauerten. Dass der Zeitrahmen des antiken Ägyptens sehr fragil ist, erkennen andererseits selbst die konservativsten Historiker an, ebenso wie es eine bekannte Tatsache ist, dass sich die antike Geschichte Chinas, Indiens und Japans im Wesentlichen auf legendenhafte Grundlagen stützt und uns keine zuverlässigen dokumentarischen Quellen überliefert hat. Darum scheint die Realisierung einer gemeinsamen Zeitrechnung mit diesen Völkern bis zum heutigen Tag eine Schimäre.
Hinzu kommt das Problem der Beziehungen zum Westen: Begibt man sich bei außereuropäischen Völkergruppen auf die Suche nach »jungfräulichen« Zeugnissen, riskiert man, auf Zeugnisse zu treffen, die aus den Erzählungen der Missionare »recycelt« sind.
Ein Beispiel für dieses Phänomen liefert uns Johannes Fried in Der Schleier der Erinnerung, München 2004, S. 208: Um 1870 verbrachte ein österreichischer Polizeikommissar die Abende auf seinem Weingut in Szegedin, Ungarn, |785|damit, den volkstümlichen Erzählungen der Tagelöhner zuzuhören. Eines Abends waren es die Arbeiter, die ihn aufforderten, eine Geschichte zu erzählen, und so hörten sie zum ersten Mal die Legende von Troja: die Geschichte von einem gut zehn Jahre andauernden Krieg, mit großen und unvergesslichen Schlachten, und dem Apfel der Helena, dem epischen Duell zwischen Hektor und dem unbesiegbaren Achilles … Im Jahr danach, als er die Tagelöhner erneut traf, bat der Kommissar sie, wieder eine Geschichte zum Besten zu geben. Sie erzählten ihm eine uralte Legende von einem gut zehn Jahre andauernden Krieg zwischen Ungarn und Türken, mit großen und unvergesslichen Schlachten, in denen das ungarische Heer von einem gefeierten Helden angeführt wurde, dem unbesiegbaren Á g Illés …
Fazit: Der kanadische Mathematiker Florin Diacu, Fachmann für Astrodynamik, untersuchte detailliert (The Lost Millenium: history’s timetables under siege, Toronto 2005) die Theorie Fomenkos und die Beweggründe seiner Verleumder, und erklärte das Match im Wesentlichen für unentschieden: Obwohl Fomenko einige offensichtliche Fehler und Ungenauigkeiten begangen habe, so sagt Diacu, gebe es gute Gründe, seine Thesen weiterhin zu diskutieren und zu überprüfen, ob sie zu glaubhaften Schlussfolgerungen führen können.
Hatte der Korsar Kemal vielleicht Recht, als er sagte, dass die Nazarener, sobald sie etwas Falsches finden, alles tun, um es wahr erscheinen zu lassen?
Ideologische Reinheit
Der Widerstand gegen die alternativen Theorien über die historische Zeit (heute werden sie kollektiv als »kritische Chronologie« bezeichnet) beruht auch auf der Tatsache, dass viele ihrer Verfechter in nicht immer politisch korrekten ideologischen Kontexten tätig waren (oder sind). Kammeier veröffentlichte seine Werke im nationalsozialistischen Deutschland. Fomenko bekam Unterstützung durch das Regime Putins, das in einigen Beigaben seiner Thesen (die historische Aufwertung der slawischen Bevölkerung) Material für eine kulturelle Operation unter nationalistischem Vorzeichen gefunden hatte. Aufgrund solcher Betrachtungen erlag man der Versuchung, aus den Kritikern Scaligers und der traditionellen Zeitrechnung eine verachtete Masse aus Paria, den »Unberührbaren« der niedrigsten indischen Kaste, zu machen, die zu isolieren und totzuschweigen sind.
Aber die ideologische Diskriminierung könnte auch in die entgegengesetzte |786|Richtung funktionieren. Nach dem Krieg mangelte es in Deutschland einem Großteil der »orthodoxen« akademischen Schicht, Überlebenden einer jahrelangen Treue zum Hitlerregime, an einer akzeptablen Ahnentafel, und das noch bis vor kurzer Zeit. Dazu, insbesondere was die Geschichte und die klassischen Disziplinen angeht, der hervorragende Beitrag von Katharina Krall, Ein Vergleich der Schriften von Herbert Jankuhn und Hans Reinerth zwischen 1933 und 1939 (Abschlussarbeit in Geschichtswissenschaften an der Universität Konstanz 2005). Es existieren aufschlussreiche Beispiele, wie der Fall des Akademikers Herbert Jankuhn, eines engen Mitarbeiters von Heinrich Himmler, der sich aktiv am Kunstraub durch das Militär beteiligte. Jankuhn spielte sowohl vor als auch nach dem Krieg eine Schlüsselrolle in den Studien zu Tacitus und der Vorgeschichte Deutschlands und konnte ungestört unter dem Schutzschirm der angesehenen Universität Göttingen arbeiten. Jankuhn und andere profitierten von einem Netzwerk, das größtenteils aus alten Anhängern der von Himmler gegründeten ideologisch-kulturellen Organisation Ahnenerbe bestand und das imstande war, alle ehemaligen nationalsozialistischen Dozenten zu unterstützen. An den deutschen Universitäten muss also, wie Krall schreibt, »die Entnazifizierung […] im Fall der Ur- und Frühgeschichte eher als gescheitert angesehen werden«.
Wie wir schon in den historischen Anmerkungen zu unserem Roman Die Zweifel des Salai (Hamburg 2008) festgehalten haben, sind die Namen der ehemaligen Soldaten Jankuhns und anderer ehemaliger Nazis seit langer Zeit bekannt: eine ganze Liste von Historikern und Juristen, die während des Hitlerregimes eine führende Rolle gespielt hatten und sich dafür einsetzten, ihren Kollegen Zutritt zu wichtigen Institutionen zu verschaffen (vgl. auch U. Halle, Die Externsteine sind bis auf weiteres germanisch! Prähistorische Archäologie im Dritten Reich, Bielefeld 2002).
Ein Vergleich der ideologischen Reinheit kann also für die Vertreter der anerkannten akademischen Gemeinschaft verfänglicher sein als für die Paria der »kritischen Zeitrechnung«.
Nichtsdestotrotz ist auch Illig Opfer einer öffentlichen damnatio memoriae geworden: Intellektuelle wie Wilhelm Borgolte und Erich Fried, die sich offen gegen Illigs Thesen aussprachen, drängten Medien und Spezialisten, nicht mehr über ihn und seine Forschung (die in Deutschland ein beträchtliches Echo hervorgerufen hatte) zu berichten, da die Diskussion ihrem Urteil nach mittlerweile beendet sei. Dieser Vorfall bestätigt, dass das Establishment der deutschen Akademiker, wie in den oben angeführten historischen Beispielen gezeigt, nicht nur ganze Scharen vom Nationalsozialismus befleckter Professoren, |787|sondern auch eine tief sitzende Tendenz zu Intoleranz und Schwarzen Listen geerbt hat.
Der Präzedenzfall Jean Hardouin, der von seinen Vorgesetzten zum Schweigen gebracht wurde, ist bezeichnend für die Nervosität, die die Frage der Zeit und der Zeitrechnung in vielen, nicht nur akademischen Kreisen auslöst; vielleicht auch nicht zu Unrecht.
Auf der Jagd nach dem Schuldigen
Wenn die Verfechter der kritischen Chronologie tatsächlich Recht haben und die Geschichte künstlich um ein paar Jahrhunderte verlängert wurde, wer steckt dann dahinter? Literarische Werke, diplomatische Dokumente, Geschichtsbücher, Chronologien, antike Kodizes und vielleicht Papyri, sogar Marmorinschriften: Wer hätte daran ein Interesse gehabt, so viele Zeugnisse der Vergangenheit zu fälschen? Die Frage lässt Fans von Verschwörungstheorien natürlich das Wasser im Mund zusammenlaufen, doch derartige Theorien verlangen nicht weniger Glauben und Naivität als die Abgötter, die sie stürzen sollen.
Es ist aber zum Beispiel eine Tatsache, dass in Ländern wie Spanien das Problem der gefälschten Inschriften so schwerwiegend ist, dass es eine sehr intensive wissenschaftliche Herangehensweise erforderte, und nicht einmal diese war ausreichend. Wie die Gelehrten zugeben, sind die Fälscher in vielen Fällen zu so »brillanten Ergebnissen« gekommen, dass »viele von ihnen vielleicht niemals von der Kritik aufgespürt werden. Die Entstehung der Epigraphie als Wissenschaft hatte dieses Problem der Klärung von Fälschungen schon in ihren Anfängen, und es ist immer noch nicht gelöst« (M. Mayer, La técnica de producción de falsos epigráficos a través de algunos exemplares de CIL II, in: »Excerpta philologica«, 1/2 (1991), S. 491–499; vgl. allgemein J. Velaza, Sobre algunos aspectos de la falsificación en epigrafía ibérica, in: »Fortunatae«, 3 (1992), S. 315–325).
Jede Theorie hat ihre mehr oder weniger verschwörerischen Antworten parat. Es gibt diejenigen, die pauschal die Kirche beschuldigen, die einzige Institution, die über Jahrhunderte flächendeckend in jeder Ecke der bekannten Welt präsent und daher zu einer Fälschung in dieser Größenordnung fähig war; andere dagegen erklären alles mit einem riesigen Missverständnis bei der Übermittlung der historischen Daten. (Fomenka denkt an die irrtümliche Verdoppelung der Herrscherdynastien, die weitere Reihen frei erfundener |788|Kaiser und Könige hervorgebracht hatten); Hardouin gab die Schuld einer Gruppe von mittelalterlichen Mönchen, unterstellte ihnen aber anti-christliche Ziele.
So gesehen ist der Jesuitenpater der ungewöhnliche Schnittpunkt zweier einander widerstreitender Ansichten: derjenigen, die in einem Teil der kirchlichen Hierarchie die Schuldigen einer geheimen Manipulation der Geschichte erblickt (eine Richtung, die in den letzten Jahren in zahlreichen Trash-Romanen anzutreffen ist), und der zweiten, die in der Fälschung und künstlichen Ausdehnung der Zeitgeschichte eine Strategie sieht, die den Menschen von Christus entfernen soll (eine These, die einigen radikalen Katholiken Genugtuung bereiten würde, ausgenommen vielleicht die Verbannung der Kirchenväter aus dem Panorama der Glaubenslehre). Wenn Fomenko Recht hatte, wäre die Fleischwerdung Christi gut tausend Jahre von uns weggerückt, mit dem unausweichlichen Effekt, dass sich die Figur des Erlösers wesentlich verschwommener darstellt.
Alle oben erwähnten Theorien können auch sehr weit hergeholt erscheinen, und dies ist normal, denn sie widersprechen jahrhundertealten Dogmen und Errungenschaften. Es ist eine gesunde Verstandesübung, wenn man neuen Theorien mit Misstrauen und Skepsis begegnet. Aber genau das geschah mit der antiken Geschichte und Joseph Scaliger nicht.
Die unwahrscheinlichen Begebenheiten in den Berichten der antiken Geschichtsschreiber, die unsere Figuren in Bouchards Aufzeichnungen lesen, müssten dazu auffordern, diesen Verfassern und ihren Quellen mit der allergrößten Vorsicht zu begegnen. Seit ihrer Entstehung in der Renaissance zieht die Philologie es jedoch vor, die antiken Geschichtsschreiber a priori als wahrheitsgetreu anzusehen, als grundsätzlich glaubwürdig, solange keine hieb- und stichfest begründeten Zweifel vorliegen. Die überaus große Zahl an offensichtlichen Erfindungen, die diese Autoren verbreiten und von denen wir in unserem Buch nur einen winzigen Bruchteil gezeigt haben, reicht jedoch aus, um eine gegenteilige Taktik nahezulegen: die antiken Geschichtsschreiber bis zum Beweis des Gegenteils immer als unglaubwürdig zu betrachten.
Bei näherem Hinsehen sind es vor allem die Schulen und Universitäten, also die kulturellen Bildungseinrichtungen aller modernen Gesellschaften, denen aus dieser ungesunden Haltung Schaden erwuchs. Seit Jahrhunderten werden griechische und lateinische Klassiker, in erster Linie die antiken Historiker, ohne jegliches Gegenmittel rezipiert, und den Studierenden wird die mühsame Aufgabe überlassen, reale Geschichte von Märchen zu trennen.
|789|Dem armen Studenten, der nachmittags in den Straßen die Denkmäler der morgens in der Schule gepaukten Literaten sieht, würde nicht im Traum einfallen, dass es sich bei ihnen manchmal um reine Phantasiegebilde handelt. Und doch ist es so. Die Namen der Autoren aus den Aufzeichnungen Bouchards, die in Lehrbüchern und wissenschaftlichen Texten stehen, aber niemals existiert haben, sind selbstverständlich nicht unsere Erfindung. Wie Otto Kresten in seinen umfangreichen Arbeiten gezeigt hat (vgl. Bibliographie), sind die Fälle von griechischen Prosaikern, die es in die Lehrbücher schafften und sich dann als Ergebnis einer Fälschung herausstellten, zahlreich: erfundene Werke, fiktive Titel, inexistente Verfasser. Bis zu ihrer Entlarvung wurden über diese Phantomautoren Berge von Literatur geschrieben, und Studenten legten an den Universitäten Prüfungen über sie ab.
Die Fälscher und Synkellos
Das tatsächliche Ausmaß der Erfindungen griechischer Fälscher des 15. Jahrhunderts, wie Andreas Darmarios, Jakob Diassorinos, Costantinos Paleocapa oder Angelus Vergetius, ist nicht bekannt. Es ist nicht klar, wie weit sie gegangen sind, wie viele und welche Werke noch Frucht ihres »kreativen« Talents sein könnten. Wichtig ist festzuhalten, dass diese regelrechten Fälscherbanden ungestört durch das Europa des 16. Jahrhunderts zogen, also gerade in einer Zeit, in der man bedeutende Handschriftenfunde machte, die dann in die gedruckten Editionen vieler Autoren mündeten. Die Schreiberlinge waren so versiert, dass sie drei verschiedene Stile gleichzeitig verwenden konnten und sich damit schwer »aufspürbar« machten (vgl. N.G. Wilson, A puzzle in stemmatic theory solved, in: »Revue d’histoire des textes«, IV (1974), S. 139–142). Trotz des schlechten Rufs, der Andreas Darmarios umgab, nutzten die angesehensten Gelehrten seiner Zeit, wie Casaubon, Augustín, Schott und andere, seelenruhig seine Dienste. Die von Diassorinos im 16. Jahrhundert koordinierten Fälscher katalogisierten den großen Fundus der griechischen Handschriften in der Nationalbibliothek zu Paris: Also könnten die später erstellten Kataloge wer weiß wie viele falsche oder irreführende Angaben (und Werke) geerbt haben. Außerdem darf nicht vergessen werden, dass diese geschickten Fälscher massiv im Bereich der byzantinischen Chroniken operierten, ausgerechnet der Richtung, der die Chronik von Synkellos angehört. Dessen wichtigste Handschrift, die auch als einzige die Geschichte vom Ursprung |790|der Welt enthält, wurde wahrscheinlich nicht zufällig unter äußerst fragwürdigen Umständen von Isaac Casaubon aufgespürt.
Casaubon entdeckte den Synkellos nämlich in der königlichen Bibliothek zu Paris, kurz nachdem er eine dringliche Nachfrage von Scaliger erhalten hatte, der auf der Suche nach »frischen« historischen Quellen für die Fertigstellung seiner zweiten Arbeit zur Chronologie, dem Thesaurus Temporum, war. Die beiden offiziell auf das elfte Jahrhundert datierten antiken Handschriften von Synkellos wurden unter nicht ganz geklärten Umständen nach einem seltsamen Winterschlaf von etwa fünfhundert Jahren wiedergefunden – die erste von Casaubon zu Beginn des 17. Jahrhunderts, die zweite im Laufe desselben Jahrhunderts.
Die Verrenkungen der Philologie
In Wahrheit geht die moderne Kritik viel nachlässiger als das 16. Jahrhundert mit dem Begriff der Fälschung um. Nicht alles, was vom gesunden Menschenverstand abgelehnt wird, wird auch von der Philologie verworfen. Hat sie eine schwer zu verteidigende Schrift vor sich, greift sie auf das zurück, was Luciano Canfora »Verrenkungen« nennt. Ein typisches Beispiel ist das der sogenannten Enmannschen Kaisergeschichte. Gegen Ende des 14. Jahrhunderts bemerkte der deutsche Historiker Alexander Enmann, dass zwei Geschichten Roms, die von Aurelius Victor und die von Eutropius, viele auffällige Elemente gemeinsam hatten, darunter bemerkenswerte Einschätzungen, aber auch grobe Irrtümer. Es schien offensichtlich, dass Aurelius Victor von Eutropius abgeschrieben hatte – was aber nicht möglich war, da die Schriften von Eutropius jüngeren Datums waren. Man hätte daraus schließen können und müssen, dass eine Fälschung stattgefunden hatte. Dass beispielsweise die Werke nicht zu dem Zeitpunkt verfasst worden waren, der aus den historischen Quellen hervorging, oder dass eines der beiden nicht echt war. Eine Alarmglocke hätte spätestens schrillen müssen, als bekannt wurde, dass sich Teile des bei Eutropius und Aurelius Victor eingeflossenen Materials auch in der Historia Augusta, einem bekannten Falsifikat des späten Römischen Reiches, finden ließen.
Was tat Enmann stattdessen? Er erklärte die Ähnlichkeiten bei Eutropius und Aurelius Victor, indem er eine noch ältere gemeinsame Quelle erfand, eine dritte Chronik der römischen Imperatoren, auf die beide Verfasser angeblich zurückgegriffen hatten. Damit waren die Ähnlichkeiten zwischen Aurelius |791|und Eutropius erklärt und die Authentizität der beiden bewahrt. Einziger Schönheitsfleck dieser Methode: die hypothetische gemeinsame Quelle (eben die »Enmannsche Kaiserchronik«) wurde niemals entdeckt, und weder durch Funde von Fragmenten belegt noch von irgendeinem lateinischen Autor zitiert. In wenigen Worten: Um ein konkretes Phänomen zu erklären (Widersprüchlichkeiten in den Überlieferungen zweier Autoren und Verdacht auf Fälschung oder Verunreinigung der historischen Daten), behalf man sich mit einem abstrakten Pseudophänomen.
Auf dieser unhaltbaren Grundannahme baute man weiter auf und gab Hypothesen häufig den Wert (oder zumindest den Anklang) von sichergestellten Tatsachen. Legionen von Historikern behaupteten fortan jeweils, dass die Enmannsche Kaiserchronik die Erzählung von der Schlacht bei Actium (31. v. Chr.) enthalte; dass sie die Ereignisse bis 337 oder 357 n. Chr. beschreibe; dass sie um die Mitte des 4. Jahrhunderts veröffentlicht wurde; dass drei verschiedene Fassungen von ihr existierten; dass sie Teil einer viel umfangreicheren Ausgabe war, die die gesamte Geschichte Roms enthielt; dass der Verfasser kein Christ war und aus dem Westen des Reiches stammte, sogar ein Gallier war, um genau zu sein; und dass die Chronik auch von den Geschichtsschreibern Ammianus Marcellinus und Rufius Festus benutzt wurde. Man ging sogar so weit, detailliert die innere Struktur der in Enmanns erfundener Erzählung enthaltenen römischen Kaiserbiographien zu beschreiben und zu behaupten, dass sie im 3. Jahrhundert die beliebteste der Geschichten Roms war (gerade dann ist schwer nachzuvollziehen, warum ausgerechnet sie verlorenging und andere, weniger beliebte Geschichtsschreibungen nicht).
Schließlich behaupteten einige Philologen sogar, dass ihr Verfasser ein gewisser Eusebius von Nantes war, von dem nichts bekannt ist, außer dass er ein (verlorenes) Geschichtswerk schrieb, dass (vielleicht) der spätrömische Dichter Ausonius nutzte, um eines seiner (verlorenen) Werke zu schreiben. Von Eusonius sagt man, dass er (vielleicht) Gallier und gebürtig aus Nantes war, dass er (vielleicht) mit Ausonius verwandt war und sein Werk (vielleicht) die Geschichte der Usurpatoren, der Tyrannen, die im Rom des 3. Jahrhunderts auftauchten, enthielt. Aber vielleicht war Eusebius von Nantes auch niemand anderes als der berühmte Geschichtsschreiber Euesbios, der ein (verlorenes) Geschichtswerk verfasst hatte, das (vielleicht) die Zeit von Kaiser Augustus bis (vielleicht) zum Kaiser Marcus Aurelius Carus schildert.
Diese nebulösen Konstellationen, in denen sich Vermutungen auf andere Vermutungen stützen, sind das täglich Brot der Philologie. Dies wäre nach allem sogar legitim – wenn sie sie nicht als Wahrheiten ausgegeben würden. |792|Der linguistische Aspekt ist entscheidend: Wenn der normale Leser liest, ein Argument sei »nachgewiesen«, »belegt«, »widerlegt« oder »ausgeschlossen«, wird er dazu gebracht zu glauben, dass neue Beweise bezüglich der Echtheit der Dokumente vorgestellt werden. Stattdessen handelt es sich nur um Meinungen oder Schlussfolgerungen, die an die Stelle anderer Meinungen und Schlussfolgerungen getreten sind. Einige Experten behaupteten beispielsweise, dass es neben der Enmannschen Chronik eine weitere, von Svetonio Aumentato geschriebe Chronik gegeben hätte. Später verlor auch diese Theorie an Glaubwürdigkeit, da, so die philologischen Texte, »nachgewiesen« worden sei, dass Svetonio Aumentato eigentlich den ersten Teil der Enmannschen Chronik darstelle (W. Burgess, On the date of the Kaisergeschichte, in: »Classical Philology«, 2 (1995), S. 112). Tatsächlich war aber nichts bewiesen worden, da sowohl die Enmannsche Kaisergeschichte als auch Svetonio Aumentato nur virtuelle Konstrukte sind, die keiner je zu Gesicht bekommen hat und vermutlich auch keiner je zu Gesicht bekommen wird. Mit dem suggestiven Ausdruck »nachgewiesen« wurde der Leser dazu gebracht zu glauben, dass es neue Tatsachen gäbe (Entdeckung neuer Dokumente, Entlarvung von Fälschungen, archäologische Funde …), um eine Chronik Svetonio Aumentatos auszuschließen. Stattdessen gab es nur neue Interpretationen, die im engen Kreis der Spezialisten zu einem bestimmten Zeitpunkt die Oberhand gewannen.
Einmal in die popularisierenden Institutionen der Schulen, Universitäten, Ausstellungen, Zeitungen, des Fernsehens und des Internets gelangt, werden die Zettelkästen der Philologen als Festungen der Wahrheit ausgegeben. Die Geschichte der Bibliothek von Alexandria, des ägyptischen Nationalstolzes, deren Ruinen und Handschriften nie gesehen wurden, ist ein eklatanter Fall.
Wenn es anders wäre, wäre es für die Institute der Universitäten natürlich sehr schwer, öffentliche und private Gelder für die wissenschaftliche Forschung herauszuschlagen. Auch das muss verstanden werden.
Doch wer von uns hätte damals, als wir es in der Schule behandelten, geahnt, dass das Gastmahl des Trimalchio nicht das Werk eines gewissen Petronius sein könnte (vgl. das dem Satyricon gewidmete Kapitel), ja dass, als es entdeckt wurde, sofort auf mehreren Seiten laut der Vorwurf einer groben Fälschung erhoben wurde? Obwohl unsere Lehrer uns sagten, die Philologie rege den kritischen Sinn an, hat uns niemand vor ihren Fallen gewarnt.
Auch wenn der enge Kreis der Spezialisten es für sich behält, wissen selbst die »orthodoxen« Philologen, (und nicht nur die Erneuerer der »kritischen Chronologie«) sehr wohl, wie verwickelt, umfassend und brisant das Problem des Unterschieds zwischen Fiktion und antiker Geschichte und der Trennung von Wahrem und Falschem seit jeher ist. In der uralten Debatte mag es hilfreich sein, hier eine jüngere Stellungnahme anzuführen.
Glen Bowersock, Dozent am renommierten Institute for Advanced Study in Princeton, stellte die Situation deutlich dar (Fiction as History: Nero to Julian, London 1994, S. 14): »Für jede konsequente und überzeugende Interpretation des Römischen Reichs stellt sich klar heraus, dass die erfundene Literatur als Teil seiner Geschichte anzusehen ist. Für die Antike wäre dies keine sonderlich überraschende These gewesen, da sie nur eine ungenaue Unterscheidung zwischen Geschichte und Mythos machte und nach Cicero die Geschichte als opus oratorimu – als ein rhetorisches Werk ansahen […] In den erdichteten Erzählungen gab es ebenso viel Wahrheiten und Unwahrheiten wie in der Geschichte selbst.« Und weiter (ebd. S. 11): »Homer, Herodot, Ktesias, Xenophon […] und viele andere fesselnde, aber absolut unglaubwürdige Erzähler waren der Antike über Jahrhunderte sehr vertraut.« Aber trotz der Proteste derjenigen, die »ihre Wahrhaftigkeit verteidigten, indem sie die Absurdität der griechischen Erzählungen anklagten, schien die Erfindung kein Problem darzustellen. Im ersten Jahrhundert konnte Cicero Herodot ruhig zum Vater der Geschichtsschreibung ausrufen, um ihn dann als Erfinder zahlreicher phantastischer Erzählungen anzuprangern. Die Geschichte war einfach zur Handlung geworden – zu dem, was passiert war und dem, wovon man sagte, es sei passiert.«
Wie man sieht, hat die moderne Philologie die Überlagerung von Geschichte und Mythos durchaus zur Kenntnis genommen. Von der Fiktion trennen uns keine klaren Grenzen, und es wird auch nie anders sein können. Grob gesagt: Wie sind in keiner Weise verpflichtet, der antiken Geschichte zu glauben.
Man beachte, dass es sich bei Bowersock nicht um einen isolierten Provokateur handelt, sondern dass er ein anerkannter Vertreter des philologischen Establishment ist, der weder durch unorthodoxe oder revolutionäre Thesen auf sich aufmerksam gemacht noch Kontroversen ausgelöst hat.
Was die griechische Geschichte angeht, sollte jeder das schmale, aber reichhaltige Büchlein von Luciano Canfora lesen, Prima lezione di storia greca |794|(Rom-Bari 2000), in dem der angesehene italienische Gräzist, ohne destruktive Thesen aufzustellen, die unüberwindlichen Grenzen bei der historischen Rekonstruktion der griechischen Antike darlegt (fragmentarischer Charakter der Überlieferung, lügenhafte Berichte der Geschichtsschreiber, unzuverlässiger, akritischer Gebrauch der Quellen, unzählige falsche Handschriften und Inschriften, verschwundene Archive). Hier ein Zitat (S. 35) voll subtiler Ironie: »Wir sehen, wie reichlich Aristoteles und seine Mitarbeiter auf Dokumente zurückgriffen. Und dasselbe kann man von Plutarch sagen, von dem uns zum Glück viel überliefert ist. Sicher, auch sie schossen mal einen Bock. Manchmal fragen wir uns, ob die Fabrik der Fälschungen nicht auch sie getäuscht hat. Und es ist verblüffend zu sehen, dass Aristoteles zwei lange Schriftstücke übertrug – die zwei »Verfassungen der Vierhundert«, die »für die Gegenwart« und die »für die Zukunft« – von denen niemand beschwören würde, dass sie jemals existiert haben.«
Wenn wir den Schätzungen Felix Jacobys vertrauen wollen, der über neunhundert Namen griechischer Geschichtsschreiber zählt, fügt Canfora hinzu, ist uns vielleicht ein Vierzigstel des von hellenistischen Geschichtsschreibern produzierten Materials (S. 34) überliefert. Tatsächlich hat niemand eine Vorstellung davon, was die alten Griechen wirklich geschrieben haben.
So haben wir eine paradoxe Situation: Die Geschichtswerke der Antike müssen als authentisch gelten und werden in Schulen und Universitäten gelehrt, gleichzeitig könnten sie aber ebenso gut Frucht reiner Phantasie, abenteuerlicher Mutmaßungen und fataler ideologisch-historischer Kurzschlüsse sein. Diejenigen, die unsere vermeintliche Vergangenheit für politische Zwecke instrumentalisieren, machen ungestört weiter. Und im Laufe der Jahrhunderte folgten sie zu Hunderten aufeinander (darauf spielt auch Canfora an, S. 86ff.): von der protestantischen Revolution, die eine große Anhängerin von Tacitus war, bis zur Französischen Revolution, inspiriert vom protojakobinischen Mythos des phantomartigen Lykurg, von den Seufzern Rousseaus angesichts des Mythos der Attischen Demokratie (in Wirklichkeit größtenteils von der Sklaverei getragen) bis zur Monstrosität des Hitlerregimes, in dem die willkommene Wiederentdeckung der edlen Ursprünge der Germanen und ihres »nicht mit anderen Völkern« gemischten Bluts sich (Ironie des Schicksals?) auf die Worte Tacitus stützte. Für die ziemlich heikle Frage des Tacitus-Deutschlands verweisen wir auf unseren Roman Die Zweifel des Salai (Hamburg 2008).
Auch wenn sie heute rückläufig ist, geht die an den Schulen erzwungene Lehre der Antike auf Kosten der Verständlichkeit des Studienfachs. In den |795|Schulbüchern für den Lateinunterricht am Gymnasium, die wir im Italien der 80er Jahre benutzten, waren viele Seiten dem Satyricon des Petronius, dieser waschechten Schwulenkomödie, gewidmet, doch kein einziges Mal tauchten Worte wie »homosexuell« oder »impotent« auf, ebenso wenig wie sie über die Lippen unserer Lehrer kamen – Sinn und Natur dieses Romans blieben so vollkommen im Dunkeln.
Gerissene Mönche und leichtgläubige Nachwelt
Die Nachwelt in die Irre zu führen schien vornehmlich eine Teamarbeit zu sein. Dies lässt sich nicht nur aus dem Werk der griechischen Fälscherbanden des 16. Jahrhunderts um Darmarios oder Diassorinos, sondern auch bei den Mönchen schließen, die gemeinsam im Mittelalter tätig waren (hier kehrt man seltsamerweise zu den eigenwilligen Thesen von Hardouin und Kammeier zurück). Wir ließen Bouchard in seinen qualvollen Aufzeichnungen auf ein mittlerweile berühmtes Beispiel hinweisen: die Fälschungen der Mönche des Klosters Reichenau. Das alte, wunderschön auf einer kleinen Insel im Bodensee gelegene Kloster stand in enger Verbindung zu den benachbarten Mönchen aus St. Gallen, wo Poggio Bracciolini vorgab, seine erstaunlichen Funde gemacht zu haben. Karl Brandi, ein großer deutscher Historiker des 19. Jahrhunderts, rekonstruierte die verblüffende Geschichte des Klosters Reichenau (Quellen und Forschungen zur Geschichte der Abtei Reichenau, Band I: Die Reichenauer Urkundenfälschungen, Heidelberg 1890): Die Mönche produzierten über Jahrhunderte ein ganzes Universum an Fälschungen politisch-administrativer Art (Verträge, Diplome, Freibriefe), die ein regelrechtes Gebäude bilden, in dem jedes Schriftstück dazu dient, die anderen zu stützen. Brandi schreibt (ebd. S. V): »[…] erst eine umfassende kritische Prüfung der Fälschungen selbst kann aus ihnen die echten Kerne ausschälen […]. Ohne diese Arbeit ist von der Gründung der Reichenau bis etwa 1200 kein fester Boden zu gewinnen, eine Geschichte der Reichenau in dieser Zeit unmöglich.«
Die Sache ist voller beunruhigender Details: Um die Mitte des 14. Jahrhunderts soll Abt Eberhard von Brandis aus unbekannten Gründen einen Großteil der schriftlichen Dokumente des Klosters zerstört haben, sodass der Komplex von Reichenaus grenzenlosen Besitztümern aus den vorangegangenen Jahrhunderten nicht mehr rekonstruierbar ist. Vielleicht hatte Eberhard etwas zu verbergen? Vielleicht wurde in den Schriftstücken etwas von Reichenaus Vergangenheit erzählt, was nicht den tatsächlichen Gegebenheiten |796|entsprach, und er erfand deswegen die Geschichte ihrer folgenschweren Zerstörung. Wie wir schon erwähnten, wurden just um die Mitte des 14. Jahrhunderts zwei Drittel der Bevölkerung Europas von der schwarzen Pest ausgelöscht. Was davor geschehen war, musste zwangsläufig durch den Filter der wenigen Überlebenden gehen, die oft genug ein großes Interesse daran hatten, die Vergangenheit zu verbiegen.
Die Historiker scheinen die Geschichte nicht ernsthaft zu hinterfragen, stattdessen fordern sie uns auf, der offiziellen Version der Ereignisse Glauben zu schenken. Sogar moderne Fachbücher, die ausführlich die Geschichten Reichenaus und St. Gallens behandeln, sind sorgfältig bedacht, niemals das Wort »Fälschung« zu verwenden (vgl. Gebhardt-Handbuch der deutschen Geschichte, hrsg. v. R. Schieffer, Stuttgart 2001). Die Wahrheit aber ist, dass in fast allen mittelalterlichen Skriptorien (den Teilen der Klöster, in denen die Werke der Antike aufbewahrt und kopiert werden sollten) nach Akoimeten-Art massenweise falsche Schriftstücke produziert wurden. Der scheinbar auf der Hand liegende Grund für den Dokumentenschwindel ist fast immer der ewige politisch-administrative Guerillakrieg gegen die Autorität des weltlichen Kaiserreichs, das versuchte, den Abteien Güter und Rechte abzuerkennen. Manchmal aber sind die Gründe nicht geklärt. Die Namen dieser Produktionszentren von falschen Schriftstücken, die uns Texte von Cicero, Vergil, Kaisarios und Tacitus überlieferten, sind für die Philologen von einer mythische Aura umgeben: Fulda, Corvey, Reichenau, Fleury, Hersfeld, Melk und andere.
Nicht weit von Reichenau und St. Gallen befand sich zum Beispiel die Abtei St. Maximin in Trier. Sie gehörte, wie ein deutscher Historiker sie definiert, »zu den großen Fälschungszentren auf dem Boden des mittelalterlichen Deutschlands neben Fulda und der Reichenau […]«. Mit den Fälschungen von St. Maximin »[…] rühren wir nicht nur wissenschaftsgeschichtlich an die Ursprünge unserer Disziplin, sondern auch an die Tragfähigkeit der ihr eigenen Methodik.« (T. Kölzer, Zu den Fälschungen für St. Maximin in Trier, in: »Fälschungen im Mittelalter«, Internationaler Kongress der Monumenta Germaniae Historica, München 16.–19. September 1986, III, S. 315).
Verfälschungen oder Erfindungen werden auch dem großen Kloster von Fulda und dessen Abt Eberhard zugeschrieben (vgl. Echte und gefälschte Termineiurkunden, in: »Fälschungen im Mittelalter«, op. cit., III, S. 303f.). Im Fuldaer Zentrum, einer wichtigen Anlaufstelle für das Kopieren lateinischer Handschriften während des Mittelalters, lebten Mönche, die nicht zögerten, offizielle Dokumente auf die einfallsreichste Art und Weise zu manipulieren |797|und zu erfinden (vgl. E. Pitz, Erschleichung und Anfechtung von Herrscher- und Papsturkunden vom 4.–10. Jahrhundert, in: »Fälschungen im Mittelalter«, op. cit., III, S. 70–113 und A. Dopsch, Zu den Fälschungen Eberhards von Fulda, in: »Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung«, XIV (1893), S. 327ff.).
Ein anderes Beispiel ist die berühmte Benediktinerabtei von Corvey. Widukind von Corvey, der bekannteste sächsische Geschichtsschreiber des 10. Jahrhunderts, steht bei vielen Historikern unter dem Verdacht, seine Chroniken mit glühender Phantasie verfasst zu haben. Der Verdacht auf Betrug und Fälschung, stellenweise die Gewissheit, betreffen auch den namhaften Abt von Corvey, Wibald von Stablo (1098–1158), und vor allem die internen Dokumente der Abtei, die seiner Amtsperiode zugeschrieben werden: die Annales Corbeienses (von 1144–1159) sowie das Schenkungsregister des Abtes Saracho von Rossdorf (1010–1071). Zu Zeit von Wibald, Saracho und Widukind wurden in diesen Klöstern, laut der mündlichen Überlieferung, unzählige Manuskripte der großen römischen Dichter kopiert. Wo keine antiken Fälschungen vorhanden waren, sorgten, mit der Zeit gehend, Geschichtsschreiber nachfolgender Jahrhunderte dafür, weitere anzufertigen. Die ehrwürdigen Annales Corbeienses, die die Geschichte der Abtei vom 9. bis zum 12. Jahrhundert abdecken, sind in Wahrheit eine Fälschung, die sich dem protestantischen Pastor Johann Friedrich Falcke (1699–1756) verdankt, ebenso der Chronicon Corbeiense, eine fiktive Geschichte der Abtei vom 8. bis zum 12. Jahrhundert.
Melk und sein weltbekanntes Stift haben uns zwei berühmte, auf das 12. Jahrhundert datierte Fälschungen geschenkt: den Melker Stiftbrief, die Gründungsurkunde der Abtei, und das sogenannte Ernestinum, das lange Zeit für das älteste Zeugnis der Babenberger Dynastie gehalten und dann als gekonnter Schwindel eines listigen Mönchs entlarvt wurde. Auch die Frauenorden verschmähten es nicht, dem Willen des Schöpfers mit einigen gekonnten Betrügereien unter die Arme zu greifen (T. Schilp: Die Gründungsurkunde der Frauenkommunität Essen. Eine Fälschung aus der Zeit um 1090, in: »Studien zum Kanonissenstift«, 2001, S. 149–183). Die Fälschungen aus dem Mittelalter gleichen einem Fass ohne Boden und beschäftigen seit Jahrhunderten Heerscharen von Wissenschaftlern. Es wäre absurd zu versuchen, dieses komplexe historische Problem in wenigen Zeilen zusammenzufassen. Nichtsdestotrotz zeichnet sich schon dank der wenigen Andeutungen, die wir gemacht haben, ein klares Bild ab: Die skrupellosen Gemeinschaften der Klöster von Corvey, Melk, Fulda oder Reichenau, in denen man Fälschungen von beachtlichem |798|Erfindungsreichtum fabrizierte, werden uns heute als die Garanten des klassischen literarischen Erbes verkauft. Ist das eine wohlbedachte Haltung oder vielleicht eine Fallgrube für Leichtgläubige?
Das Scaliger-Desaster und seine Hagiographen
Weiter unten wird (anhand der bizarren Geschichte des verwegenen Professor Protsch) die Möglichkeit erörtert, dass auch in unserem so sicheren 21. Jahrhundert der eine oder andere moderne Darmarios seelenruhig am Werk ist. Kehren wir zu unserem zentralen Thema zurück: Wessen Kind ist die Universale Chronologie, die wir heute benutzen? Joseph Justus Scaligers, wie wir wohl wissen.
Wie der italienische Humorist Ennio Flaiano sagte: Nach der Schlacht muss man dem Gewinner immer zu Hilfe eilen. So geschah es mit Scaliger. Nachdem sich seine Chronologie auf überraschend felsenfeste Weise behauptet hatte, vermehrten sich auch Scaligers Hagiographen.
Im 19. Jahrhundert war es der deutsche Philologe Jacob Bernays, der ein huldigendes Porträt über ihn in Druck gab (Joseph Justus Scaliger, Berlin 1855). Zurzeit ist der Amerikaner Anthony Grafton sein autorisierter Biograph. In den zwei Bänden der monumentalen intellektuellen Biographie Scaligers (Joseph Scaliger. A Study in the History of Classical Scholarship, New York 1983–1993) erwähnt Professor Grafton jedoch mit fast keinem Wort, dass sein Lieblingskind die eigenen adeligen Wurzeln erfand, indem er den Vater Giulio Bordon zu Julius Caesar Scaliger machte. Grafton unternimmt auch (ebd., II, S. 548ff.) den kühnen Versuch, die wohl gröbste Fälschung seines Lieblings als eine lässliche Sünde durchgehen zu lassen: die fiktive Liste der Olympischen Spiele, die Scaliger zusammenstellte, um die Berechnung der Zeit im antiken Griechenland für eigene Zwecke zu rekonstruieren.
Grafton kann jedoch nicht leugnen, dass Scaliger bei der Rekonstruktion der einzelnen Systeme zur Berechnung der Zeit, von Griechenland bis Mesopotamien, von den arabischen Ländern bis nach Ägypten, ein wahres Desaster anrichtete. Der amerikanische Professor versucht die Neuheit in der Zeitrechnungs-Methode Scaligers zu unterstreichen, also die Kombination aus Beobachtung von Himmelsphänomenen (Sonnenfinsternissen, Kometen etc.) und Daten aus der geschichtlichen Überlieferung (Herrscherverzeichnisse, Auflistungen der olympischen Spiele, Daten von Schlachten, etc.). Doch Scaliger stützte sich, wie auch sein wohlwollender Biograph zugeben |799|muss, massiv auf das Liber de Epochis (Basel 1578) von Paul Krauß, einem mäßig bekannten deutschen Professor aus Jena, dessen dünnes, aber innovatives Handbüchlein zur Zeitrechnung, das postum erschienen war, bereits eine komplette Aufstellung von Zeitangaben ab dem Jahr 3963 v. Chr. (Zeitpunkt der Schöpfung) bis zum Jahr 622 n. Chr. (Hedschra Mohammeds) enthielt und von Scaliger ausgiebig ausgeplündert worden war (Grafton, Scaliger, Band II, S. 276–279). Es stellt sich also die Frage: »Warum erhob Scaliger so leidenschaftlich Anspruch darauf, dass Ergebnisse, die er von anderen übernommen hatte, neu, entscheidend und von Seiten ernstzunehmender Wissenschaftler nachzueifern seien?« S. 192: »Die Einbeziehung des islamischen Jahres trug notwendigerweise wenig und unzuverlässig zur Verfeinerung des schon Vorhandenen bei.« Darüber hinaus, gibt Grafton zu, verwickelte sich der Vater der modernen Zeitrechnung in eine Reihe von »Fehlern, erzwungenen Interpretationen und Missverständnissen« (S. 177). S. 162: »Sein griechischer Kalender schien solide und präzise, war aber in Wahrheit ein Hirngespinst, verschwommen und brüchig bei näherer Betrachtung.« S. 246: »Selbst ein ihm geneigter Leser hätte seine Darstellung der Kalendarien kaum klar und linear finden können.« S. 208: »Scaligers Bearbeitung des frühen ägyptischen Jahrs war ein Desaster. Er beschwor aus weiten Tiefen eine imaginäre Kreatur aus Missdeutungen und falschen Berechnungen herauf.« S. 245: »Nicht einmal Petavius [der jesuitische Wissenschaftler, der Scaligers Arbeiten fortsetzte, A.d. V.] machte alle groben Fehler in Scaligers Argumentationen zur Astronomie ausfindig […]. Dennoch enthüllen sie, welch dürftige Fähigkeiten Scaliger bis zum Jahr 1583 erworben hatte, und wie eingeschränkt er in den darauffolgenden Jahren die grundlegenden Verfahren der astronomischen Wissenschaft zur Berechnung der Länge des Jahres, der Präzession der Tagundnachtgleiche, des Auf- und Untergangs der Fixsterne beherrschte – Themen, die jemand, der sich dem Studium antiker Kalender widmet, nicht einfach missachten oder falsch verstehen kann.« S. 186: »Der von Scaliger rekonstruierte babylonische Schaltzyklus war, wie der griechische, ein Phantasiegebilde.« S. 172: »Scaligers Theorie war nicht logischer […] als die vieler seiner Nachfolger: eine Reihe nervlich zerrütteter Gelehrter und neurotischer Bildungsphilister, deren Abfolge in den Jahrhunderten Brueghels Parabel von den Blinden gleicht.«
Um den Ruf seines Studienobjekts nicht völlig zu zerstören, muss Grafton natürlich auch einige oberflächliche Aussagen unterbringen, die in totalem Widerspruch zum Vorangegangenen stehen. Zum Beispiel S. 188: »Scaliger wertete die Quellen mit großer Vorstellungskraft aus, aber selten unterdrückte |800|er Zeugnisse oder zwang ihnen Aussagen gegen ihren ausdrücklichen Willen ab.« Oder (S. 172): »Was auch immer seine Fehler gewesen waren, er hatte auf jeden Fall die Daten zusammengestellt und die Fragestellungen formuliert, an denen Scharen von gelehrten Chronologien in den nachfolgenden Jahrhunderten ihren Verstand schärfen sollten.«
Worin besteht also bei aufrichtiger Überlegung die Besonderheit Scaligers?
Sicherlich in der befremdlichen Unterstützung seitens seiner uneinsichtigen Hagiographen, die trotz der offensichtlichen Fälschungen des Sohnes von Giulio Bordon nicht aufhörten, ihn seit Jacob Bernays, seines ersten unkritischen Biographen, zu loben. Also zu einer Zeit, als Scaligers Betrug bei der Auflistung der Olympischen Spiele schon längst ans Licht gekommen war.
Papyri
In den letzten Jahrzehnten erlebt man die fast verzweifelte Suche nach der Bestätigung klassischer Texte durch Papyri-Funde, die üblicherweise älter sind als die mittelalterlichen Handschriften, in denen uns fast alle griechisch-römischen Klassiker überliefert wurden.
Wenige jedoch bedenken, wie es unser Bouchard in seinen bitteren Überlegungen tut, dass es Papyrus in Ägypten seit gut tausend Jahren nicht mehr gab. Die Pflanze wurde nach mindestens zehn Jahrhunderten Abwesenheit erst in den 60er Jahren von uns Modernen wieder ins Land der Pharaonen eingeführt.
Dass die Ägypter Papyrus tatsächlich produzierten und als Schreibmittel verwendeten, ist wiederum von denselben griechisch-lateinischen Texten bezeugt (zum Beispiel Plinius), deren Authentizität man mit den Papyri selbst zu untermauern versucht.
Um sich der Schwierigkeit bewusst zu werden, in die man auf diesem Wege gerät, denke man nur an den sogenannten Papyrus des Cornelius Gallus, einem mit Vergil befreundeten Autor aus dem 1. Jahrhundert n. Chr., von dem uns so gut wie nichts überliefert ist. In den wenigen Versen, die wir von ihm haben, ist die Rede von einer gewissen Lycoris. 1978 wird auf einmal ein Papyrus eines gewissen Gallus gefunden, der zufällig eine Lycoris erwähnt. Eine Sensation! Leider erkennt ein nicht so leichtgläubiger Wissenschaftler bereits wenig später in dem Papyrus eine ziemlich plumpe Fälschung (vgl. F. Brunhölzl, Der sogenannte Galluspapyrus von Kasr Ibrim, in: »Codices Manuscript«, |801|10 (1984), S. 33–40), wo der betrügerische Verfasser, damit sich alles auf Vergils Freund Gallus zurückführen ließ, auf wenigen Zeilen einige einschlägige Personennamen und literarische Indizien eingefügt hatte.
Doch es gibt auf dem Gebiet falscher Papyri oder Sinnestäuschungen, denen Papyrologen unterliegen, noch amüsantere Fälle, wie die unglaubliche Geschichte, in der das ägyptische Museum Berlin-Charlottenburg die Hauptrolle spielt. Die Kuratoren des Museums präsentierten den deutschen Medien einen Papyrus, auf dem in griechischer Sprache vertraglich festgehalten wird, dass ein römischer Offizier seine Einwilligung gibt, bestochen zu werden (vgl. Der Spiegel 44/2000). Schon dies wäre eine ziemlich erheiternde Geschichte, da ein Bestechlicher und sein Verführer sicherlich als Letztes einen Beweis in Umlauf bringen würden, der sie beide festnagelt. Aber der Höhepunkt ist, dass die Berliner Museumskuratoren glaubten, in einer griechischen Formulierung des Einverständnisses auf dem kleinen Schriftfragment (genesthoi – so soll es sein), die bestätigende Unterschrift von niemand anderem als Kleopatra, der berühmten Königin von Ägypten, zu erkennen. Und das neben dem Geständnis einer Straftat! Der renommierte Spiegel wie auch andere Medien und weitere Millionen Leser schluckten diesen kolossalen, erheiternden Unsinn, ohne mit der Wimper zu zucken.
Ein weiterer exemplarischer Fall ist der des berühmten Papyrus von Hearst, einer Sammlung medizinischer Rezepte, die die Experten auf das 20. Jahrhundert vor Christus datierten und die noch heute auf der Liste der bedeutendsten Papyri der Welt steht. 1901 fanden in Ägypten unweit von Der-El-Ballas archäologische Ausgrabungen statt, gesponsert von der Familie Hearst, den berühmten amerikanischen Pressemagnaten. Ein einheimischer Arbeiter bat die Amerikaner um Erlaubnis, ein wenig Dünger von ihrem Komposthaufen nehmen zu dürfen. Großzügig sagten die Amerikaner ja. Um ihnen zu danken, schenkte der Junge ihnen einen fast viertausend Jahre alten Papyrus. Der Jubel im amerikanischen Lager war groß. Niemandem fiel auf, dass der noch zusammengerollte Papyrus ein bisschen neu zu sein schien. Generationen von Ägyptologen und Philologen untersuchten ihn, Bücher, Artikel und Doktorarbeiten wurden über ihn geschrieben. Bis einigen Gelehrten die Idee kam, dass es sich bei dem Papyrus um eine hübsche Fälschung handeln könnte, und dass die Geschichte mit dem Dank für das Häufchen Dung vielleicht ein bisschen zu schnell geglaubt worden war.
In derartigen Fällen lässt sich ein alter Fuchs der Papyrologie wie der Amerikaner Edwin Smith leicht als Drahtzieher hinter den Kulissen vorstellen. Der Kunsthändler, Geldverleiher und Fälscher war in Luxor von 1858 bis 1876 |802|aktiv, oft in enger Zusammenarbeit mit dem Ägypter Mustafa Agha, einem Glücksritter vom selben Schlag. Es ist vielsagend, dass kein Gelehrter an der Authentizität der Papyri, die von diesen beiden Filous hervorgezaubert wurden, wie dem Papyrus Edwin Smith, der in der Medizinischen Fakultät von New York aufbewahrt wird und dessen Herkunft völlig unbekannt ist, den kleinsten Zweifel hegt. Auch der andere bekannte Papyrus, den Smith erwarb und dann an den deutschen Sammler Georg Ebers veräußerte, ist von unbekannter Herkunft: Er wurde angeblich bei einer Mumie gefunden, doch es bleibt ungeklärt, von wem Smith ihn gekauft hatte und wo der genaue Fundort lag. (Die jüngste Datierung des Papyrus auf das 16. Jahrhundert v. Chr. stammt von Kitchen, dem englischen Gelehrten, der sich gegen jeden Versuch einer Revision der ägyptischen Zeitrechnung wehrte.)
Und doch müsste man auf diesem Feld fortwährend höchste Wachsamkeit üben, vor allem angesichts von Fällen wie dem heute in der Rylands Papyri Collection aufbewahrten bekannten »Book of the Dead«, das, obwohl seine Zeichnungen selbst einen Laien stutzig gemacht hätten, lange Zeit für echt gehalten wurde und dann ordnungsgemäß in der Gehenna der wertlosen Fälschungen landete.
Decken wir gnädig den Mantel des Schweigens über den jüngst von einer italienischen Bank für 2,75 Millionen Euro gekauften Artemidor-Papyrus, der triumphierend in Ausstellungen und Publikationen vorgezeigt wurde und dann von dem Philologen Luciano Canfora als Fälschung entlarvt wurde (höchstwahrscheinlich von Constantin Simonides, einem berühmten Betrüger des 19. Jahrhunderts, angefertigt), was dazu führte, dass er sich nun in der Bilanz der Bank mit null Euro niederschlägt.
Was passiert in der Welt der Papyri? Der Italiener Antonio Carlini von der Universität Pisa beklagt, »dass der Papyrus als Beleg zu oft genau in dem Moment an Wert verliert, in dem er entscheidend für das Verständnis eines Textes wäre.«
Schaut man sich zum Beispiel die Papyri an, auf denen die Texte Aristoteles überliefert wurden, ist man fassungslos angesichts der leblosen Knappheit der materiellen Träger. Das führende Werk hierzu ist weiterhin, obwohl unvollendet, P. Moraux, Aristoteles Graecus: die griechischen Manuskripte des Aristoteles. Hier erfährt man, dass das Papyrus-Material beispielsweise die Ausmaße 175 × 95 mm (Ann Arbor, Papyrus Mich. 6643), 80 × 166 mm und 180 × 66 (Berlin, Papyrus Berol. P 5002), 57 × 31 (Brüssel, Papyrus Brux. E 8073) und so fort hat. Dass diese Art Briefmarken von oft ungeklärter Herkunft tatsächlich die Authentizität und den Inhalt des grenzenlosen aristotelischen Korpus bekräftigen |803|sollen, ist eine interessante Herausforderung des menschlichen Verstandes. Eine gute Portion Glauben ist auch in diesem Fall empfehlenswert.
Auch die unzähligen in großen östlichen Grabungsstätten wie Oxyrhynchos aufgefundenen Papyri bestehen größtenteils aus wenigen Worten, wenn nicht wenigen Buchstaben. Außerhalb des ägyptischen Territoriums sieht es nicht besser aus: Die diplomatischen Schriftstücke der Merowinger-Zeit (6.–7. Jahrhundert) sind zu großen Teilen papyrosartig – und zu zwei Dritteln gefälscht, wie der deutsche Historiker Theo Kölzer zeigte. An die Grenze des Absurden stößt man bei dem sogenannten Tulli-Papyrus, von dem Ufologen jahrelang versicherten, dass er den Bericht einer Ufo-Sichtung enthielte. Müßig zu sagen, dass es mittlerweile genügend Anhaltspunkte gibt, die eine weitere offenkundige Fälschung belegen, bei deren Anfertigung die Fälscher ihrer Phantasie scheinbar freien Lauf ließen: Sie berichten von einem mysteriösen, fünfzig Meter großen Wesen mit Mundgeruch.
Man wird einwenden, dass es möglich sei, das Alter eines Papyrus mit der Radiokohlenstoff-Datierung zu beweisen. Tatsächlich hat die sogenannte C14-Methode aber, wie Spezialisten wissen, mittlerweile die rettende Aura verloren, die sie noch vor einigen Jahrzehnten umgab. So stellte sich erstaunlicherweise heraus, dass die Labore vor der Messung vom Auftraggeber eine Einschätzung zum Alter des Objektes erfragen, also genau das, was sie selbst – mit absoluter Unabhängigkeit – bestimmen sollen. Darüber hinaus wird die C14-Methode heutzutage regelmäßig in Kombination mit einer dendrochronologischen Messung durchgeführt, also einer Messung der mit dem betreffenden Fundstück in Verbindung gebrachten hölzernen Fragmente (zum Beispiel die Balken eines Hauses, wenn man das Alter des Mauerwerks herausfinden möchte). In der Dendrochronologie finden derzeit jedoch komplizierte methodologische Debatten mit Spezialisten auch anderer Disziplinen statt, die zu starken Zweifeln an ihrer Anwendbarkeit geführt haben. Wer sich ein Bild machen möchte, kann einen nicht »linientreuen«, aber begierig von Scharen Gelehrter konsultierten Text wie C14-Crash: Das Ende der Illusion, mit Radiokarbonmethode und Dendrochronologie datieren zu können, von Christian Blöss und Hans-Ulrich Niemitz, Berlin 2002 zu Rate ziehen.
Im Bereich der ägyptischen Antike muss noch an den beispielhaften Fall des Sarkophags von Tarragona erinnert werden, dem Fragment eines Grabes, das im März 1850 während der Bauarbeiten im Hafen der spanischen Stadt von einer Gruppe Arbeiter gefunden wurde (und auf wundersame Weise von der Zerstörung verschont geblieben war). Das Relief des Steines zeigte Herkules über der Meerenge von Gibraltar und bestätigte die von römischen Geschichtsschreibern |804|wie Sallust und Pomponius Mela berichtete legendäre Beziehung des griechischen Helden zu der Iberischen Halbinsel.
Schon nach einigen Jahren entdeckte man jedoch, dass der Sarkophag das Werk von Fälschern war. Dieser war darüber hinaus zusammen mit einer ushabti begraben worden, einer häufig in ägyptischen Gräbern zu findenden kleinen Votivfigur, die im Gegensatz zum Sarkophag authentisch war. Der Fälscher musste sie in der Hoffnung, das »Hauptstück« überzeugender zu machen, geopfert haben.
Man erahnt die gut koordinierte Teamarbeit, die Bereitschaft, Geld und Mittel zu opfern (mit den nicht einfachen Gravurarbeiten am Marmor und der ushabti) und den Willen, mehr noch als auf die Zeitgenossen, Einfluss auf die Nachwelt zu üben.
Dieser Zufallsfund zeigt, dass die Fälscher von einer fast religiösen Mission geleitet zu sein scheinen: Sie begraben ihre Arbeiten in der Erwartung, dass sie auf natürlichem Weg entdeckt werden, und verzichten so auf die unmittelbaren Früchte einer bedeutenden archäologischen Entdeckung, wie Geld oder Bekanntheit. Darüber hinaus sind die vergrabenen Artefakte (wie schon Hardouin behauptet hatte) dazu bestimmt, die Zeugnisse der Geschichtsschreiber zu belegen.
Mehr als ein halbes Jahrhundert nach dem Fund des Sarkophags von Tarragona, im Jahr 1916, wurde ein weiterer Teil von ihm gefunden und man begann von vorne: Der amerikanische Gelehrte A.L. Fottingham taufte das neue Fragment: »Die Phönix-Tafel von Tarragona« und deutete die beiden auf dem Bruchstück sichtbaren Figuren, eine weibliche und eine männliche, als die Gottheiten Baal und Tanit, und die eigenartige Spirale zwischen ihnen als die Darstellung eines von dem Paar mit Wasser und Feuer genährten Embryos. Es mussten weitere fünf Jahre vergehen, bis die Komödie ein für alle Mal aufgeklärt wurde (hiermit beschäftigt sich P. Paris in »Révue Archéologique«, 5a s., XIV (1921), S. 146–157).
Fälscher und zügellose Spaßvögel
Einer Frage muss man sich stellen: Ist es möglich, dass auch heute noch chronische Fälscher existieren, die wie die griechischen Kopisten des 16. Jahrhunderts fast zwanghaft überall ihre Fallen auslegen, um die Wahrnehmung der Zeit in den kommenden Generationen durcheinanderzubringen?
|805|Der Codex Sinaiticus aus dem 4. Jahrhundert, der als ältester Kodex die Bibel enthält, wurde im 19. Jahrhundert unter unklaren Umständen in einem palästinensischen Kloster von dem Philologen Tischendorf entdeckt, der daraus am Hof des Zaren sofort eine prachtvolle Fest-Ausgabe machen ließ. Danach erklärte der berüchtigte Simonides unter Anführung zahlreicher Details, dass es sich um eine von ihm angefertigte Fälschung handelte. Ihm wurde nicht geglaubt.
Im Italien der 80er Jahre wurden in Livorno aus einem Wassergraben drei Marmorköpfe ans Licht gebracht, die dem aus Livorno stammenden Amedeo Modigliani zugeschrieben wurden. Aufsehenerregend! Man feierte den hundertsten Geburtstag des großen Künstlers, und die renommiertesten Kritiker beschworen im Fernsehen vor Millionen von Zuschauern die Authentizität der Fundstücke. Bis einige Studenten mit Sinn für Humor ihre Fälschung anhand von Fotos und Videos dokumentierten, in denen man sie mit einem Schlagbohrer und der Hilfe eines Bildhauers die drei Köpfe formen sah, um sie anschließend in den Graben zu verfrachten. Und ihnen musste man glauben.
Die Historie der wissenschaftlichen Fälschungen bejaht also die Frage und liefert obendrein eine umfangreiche und manchmal erheiternde Statistik, die einmal mehr belegt, wie sehr Wissenschaftler es lieben, sowohl zu blenden als auch geblendet zu werden. Die Leichtgläubigkeit entspringt nämlich weniger der Weigerung, zu glauben, als vielmehr der Weigerung zu überprüfen. Unter vielen Episoden ein jüngerer Fall: Professor Reiner Protsch, deutscher Anthropologe und Dozent am renommierten Institut der Anthropologie und Humangenetik für Biologen in Frankfurt. Nach fast dreißig Jahren ehrenvoller Tätigkeit und Anerkennung auf internationalem Niveau wird Protsch vom Dienst suspendiert und im Februar 2005 gekündigt. Was war geschehen? Man hatte entdeckt, dass der angesehene Professor bewusst falsche wissenschaftliche Daten einer Vielzahl von prähistorischen Knochenfundstücken, vor allem von Schädelfragmenten der Neandertaler, produziert hatte: Er hatte die Schädel stark zurückdatiert und sie somit wesentlich älteren Epochen zugeordnet als den realen. Danach verschwanden die Fundstücke, denen Protsch in seinen Berichten ein außergewöhnliches Alter bescheinigt hatte, auf mysteriöse Weise, bevor sie von anderen untersucht werden konnten (eine Abfolge, die interessanterweise an die Biographie Poggio Bracciolinis erinnert). Protsch wurde beschuldigt, er habe wissenschaftliche Funde und Materialien, die von Ärzten und Forschern wie dem berüchtigten Josef Mengele im Dritten Reich verwendet worden waren, verschwinden lassen, nachdem er vorher ihre Existenz bestritten hatte. Dabei kam die seltsame Blindheit der universitären Welt |806|ans Licht: Man hatte Protsch einen akademischen Grad verliehen und ein Gehalt bezahlt, auf das er kein Anrecht hatte, da er weder die entsprechenden Studienabschlüsse noch eine Habilitation besaß. Nur ein kolossaler Fehler seinerseits hatte ihn in die Falle geführt: Er hatte, ohne die notwendige Erlaubnis der deutschen Behörden einzuholen, versucht, einem amerikanischen Kollegen für 70 000 Dollar eine Sammlung von 278 Schädeln afrikanischer Affen zu verkaufen, die eigentlich seiner Universität gehörten. Zuletzt wurden strengste Disziplinarverfahren eingeleitet, die Staatsanwaltschaft interessierte sich für den Fall und Protsch wurde strafrechtlich vor Gericht verurteilt. Das vorläufige Resümee der Affäre ist, neben der Kündigung und der öffentlichen Demütigung des Übeltäters, dass sich die internationale wissenschaftliche Gemeinschaft gut dreißig Jahre lang, in denen Protsch wissenschaftliche Instrumente und Fundstücke gefälscht, entwendet und zerstört hatte, aber vor allem die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung verunreinigt hatte, an der Nase hat herumführen lassen. Viele seiner Arbeiten waren nämlich von angesehenen Anthropologen und Paläontologen unterschrieben worden. Schließlich wurde das Institut, dessen Präsident er war, geschlossen. Welche und wie viele irreführende wissenschaftliche Daten Protsch bei seinen Kollegen aus aller Welt in Umlauf gesetzt hat und zu wie vielen gegenstandslosen wissenschaftlichen Arbeiten sie Anlass gegeben haben, ist bis zum heutigen Tag nicht bekannt.
Etwas fällt ins Auge: Wie bei den Fälschern vor vierhundert Jahren zielt der Betrug auch im Fall des Anthropologen Protsch darauf ab, die Vergangenheit zu verlängern. Über die ideologischen, politischen oder finanziellen Ziele hinaus sieht die menschliche Rasse sich offenbar gerne als alte Spezies. Das biologische Bedürfnis nach einer unendlichen Zeit richtet sich nicht nur auf die Zukunft, sondern auch in die Vergangenheit. Vielleicht gibt ein sehr alter Planet Anlass zur Hoffnung, noch lange zu existieren.
Platon und Aristoteles
Die an sich schon märchenhafte, unglaubliche Geschichte der Handschriften des Aristoteles entnahmen wir den Berichten einiger angesehener Wissenschaftler: J. Bidez, Un singulier naufrage littéraire dans l’antiquité. À la recherche des épaves de l’Aristote perdu, Bruxelles 1943; L. Canfora, La biblioteca scomparsa, Palermo 1986-10 2000; E. Zeller, Die Philosophie der Griechen. Eine Untersuchung über Charakter, Gang und Hauptmomente ihrer Entwicklung, II/2, Tübingen 2 1862. Der Begriff »Loch« für den Ort, an dem die Erben das |807|einzige, äußerst wertvolle Exemplar der Werke des Aristoteles vergruben, stammt von Canfora (ebd., S. 67).
Man beachte, dass der aberwitzigen Erzählung von Plutarch und Strabo über die Überlieferung der aristotelischen Texte, die heute ein großes Revival erleben, schon im 19. Jahrhundert kein Glauben geschenkt wurde, und dass die Debatte über Platons Werke damals dazu geführt hatte, etwa die Hälfte der Dialoge, die heute für authentisch gehalten werden, als unecht zurückzuweisen.
Zu Schoppes Erzählung über die Bibliothek von Alexandria kann erneut La biblioteca scomparsa von Canfora konsultiert werden, um sich vor Augen zu führen, dass die Zweifel an der Existenz der berühmtesten Büchersammlung der Antike, zumindest so wie sie von der Überlieferung (sowie von den Medien und Fremdenverkehrsagenturen) verbreitet wurde, mittlerweile seit einigen Jahrzehnten bestehen.
Der Unsicherheit, die unangefochten über das Leben des Aristoteles herrscht, entspricht der über die Biographie Platons. Wie Giovanni Reali, ein großer italienischer Platon-Forscher, bemerkt, »passt im Grunde alles, was wir [über Platon] wissen, oder zumindest mit Gewissheit über ihn wissen, auf eine halbe Seite«.
Im 19. Jahrhundert wurde die Hälfte der Dialoge Platons als unecht angesehen. Das Misstrauen in Bezug auf die Texte flaute mit der Zeit ab, und die Mehrzahl der verdächtigten Schriften ist heute, vielleicht mit einer gewissen Erleichterung der wissenschaftlichen Gemeinschaft, in den offiziellen Kanon der platonischen Werke aufgenommen.
Synkellos und der Nebel von Byzanz
»Die Fälscher hatten durchaus nicht die Absicht, die Daten und Fakten in den byzantinischen Chroniken aufeinander abzustimmen, im Gegenteil, sie wollten sie so verworren, verwickelt und widersprüchlich wie nur möglich machen. Ihr Ziel: freie Hand zum Erfinden haben, ohne sich um Inkongruenzen kümmern zu müssen. Historiker wissen sehr gut, dass keine seriöse Geschichte der byzantinischen Kultur geschrieben werden kann.«
Diese imaginäre Aussage aus Bouchards Überlegungen, die wir ihm angedichtet haben, findet ihre Bestätigung in dem wirklichen Satz eines Gelehrten, der vor etwa hundert Jahren ausgesprochen wurde:
»Die Geschichte der byzantinischen Gesellschaft wird noch viele Jahre lang |808|nicht geschrieben werden. Sie kann so lange nicht geschrieben werden, bis jede darauffolgende Epoche gründlich untersucht wurde und ihre charakteristischen Merkmale klar bestimmt wurden.«
Dies sind die Worte des großen Byzantinisten J.B. Bury aus dem Jahr 1912. An sie erinnerte 1979, gut 60 Jahre und einige tausend wissenschaftliche Abhandlungen und Artikel später, ein anderer hervorragender Byzantinist, Warren D. Treadgold, (The Chronological Accuracy of the »Chronicle« of Symeon the Logothete for the Years 813–845, Dumbarton Oak Papers, 33, (1979), S. 157–197), der kommentierte: »Vermutlich würde kein Byzantinist sagen, dass die von Bury gestellte Aufgabe heute kurz vor ihrer Lösung steht, auch wenn einige Nicht-Byzantinisten fälschlicherweise glauben, dass auf dem Feld der byzantinischen Studien die Grundlagen schon gelegt sind. Das Buch, für das Bury mit diesen Worten die Einleitung schrieb, ist noch immer unser Standardtext für die erste Hälfte des 9. Jahrhunderts […] Der Großteil der Probleme, die Bury offen gelassen hat, ist weiterhin ungelöst.«
Treadgold fügt hinzu: Nach 867 n. Chr. »haben wir keine historischen Erzählungen, bis wir zu den Werken von vier Autoren des 10. Jahrhunderts kommen: Simon Logothetes, Pseudo-Simeon, Ioseph Genesios und sein Nachfolger Teophanes. In der Erzählung der Ereignisse, die ihnen hundert Jahre und mehr vorausgingen, widersprechen die ersten beiden unrettbar den zwei Letzteren und alle zeigen Spuren von Verwirrungen. Das Ergebnis ist, dass moderne Wissenschaftler je nachdem entweder die eine oder die andere Version übernehmen, und was die Zeitangaben betrifft, können sie nur raten. Genesios und Teophanes Nachfolger wurden so eindeutig als Chaosstifter in der Zeitrechnung und als Urheber wissentlicher Fälschungen identifiziert, dass man sie, so schlussfolgert Henry Grégoire, »mit dem größten Misstrauen lesen und voraussetzen muss, dass sie zu allem fähig waren«.
Wenn der eine oder andere Leser also glaubt, Bouchards Aufzeichnungen über die Fälschungen der byzantinischen Geschichtsschreiber seien übertrieben, wird er seine Meinung nach diesem kurzen exemplarischen Abschnitt vielleicht noch einmal ändern.
Augustinus und kein Ende
Während uns Ägyptens Sandwüsten in regelmäßigen Abständen amüsante und unvorstellbare Episoden wie die des Hearst-Papyrus liefern, dauern auch in Europa die unaufhaltsamen, wundersamen Funde von Pergamenten an. In |809|Erfurt hat ein Manuskript aus dem 12. Jahrhundert jüngst nichts Geringeres als sechs bisher unbekannte Predigten des heiligen Augustinus zutage gefördert. Das Staunen der Spezialisten war unbeschreiblich: Wie konnten sie Scharen von Dozenten und Studenten, die den Kirchenvater jahrhundertelang ohne Unterlass studiert, übersetzt und veröffentlicht hatten, entgangen sein? Der englische Gelehrte Peter Brown definierte den Fund als so »unwahrscheinlich wie ein Exemplar der ersten Ausgabe Shakespeares in irgendeinem Antiquariat zu finden«. Natürlich äußerte niemand offen den Verdacht, dass es sich um einen unechten Augustinus aus der Feder irgendeines Mönches hätte handeln können. Und dies ist schon der dritte Fund bis dato unbekannter, einziger Exemplare von Augustinus-Texten innerhalb von knapp dreißig Jahren. Wichtig ist, einmal mehr, daran zu glauben.
Poggio, der Supermann, und seine Zeugen
Bouchards gesamte Erzählung (Diskurs IC) von den seltsamen Handschriften-Funden, die Poggio Bracciolini im Kloster von St. Gallen machte, ist den Briefen Poggios und seiner Freunde sowie allgemein anerkannten Quellen der offiziellen Philologie entnommen. Im 19. Jahrhundert erhoben sich einzelne Stimmen, die den Held der aufkommenden Philologie beschuldigten, die Werke von Tacitus gefälscht zu haben.
Im 20. Jahrhundert brandmarkte der Gelehrte Leo Wiener die Germania von Tacitus, mit dessen Entdeckung sich der gerissene toskanische Emporkömmling geziert hatte, als »stumpfsinnige Fälschung«. Nichtsdestoweniger werden die Geheimnisse um Poggios unglaubliches Glück als Entdecker von Manuskripten heute ohne allzu großes Misstrauen akzeptiert, obwohl die Echtheit einiger uns überlieferter Werke ausschließlich von seinem Wort als Ehrenmann abhängt: Wir müssen also seinen Berichten trauen, wenn er erzählt, dass er dieses oder jenes Manuskript entdeckt, dass er es kopiert und dann das Original verloren habe. Dies geschah zum Beispiel mit den Werken von Silius Italicus, Asconius Pedianus und Statius. Wer diesem abgefeimten Abenteurer, der sich mit dem Handel von Manuskripten bereicherte, blind trauen möchte, dem steht es frei, dies zu tun. Wie Bouchard in seinen düsteren Überlegungen anmerkt, hatte Poggio sich offen damit gebrüstet, ganze Mannschaften von Schreibern zu befehligen, die fähig waren, jeden antiken Schriftstil nachzuahmen: Es scheint fast, als hätte er provokativ dazu auffordern wollen, an seinem Talent als Trüffelschwein zu zweifeln.
|810|Die Schatten, zu viele um sie sämtlich zu vertreiben, bleiben also. Welcher und wo der komplette Quintilian ist, den Poggio in St. Gallen entdeckt haben will, und welcher der ist, den er kopiert hat, konnte man nie mit Gewissheit herausfinden. Mehrere Handschriftensammlungen und Bibliotheken beanspruchen diese Ehre für sich, in einigen Fällen auf ziemlich unbeholfene Art und Weise.
Laut der Webseite der Universität von Illinois (siehe http://imagesearch. library.illinois.edu/cdm4/item_viewer.php? CISOROOT=/classics&CISOPTR= 263&CISOBOX=1&REC=1, zum letzten Mal vor dem Druck dieses Buches besucht) befindet sich der Kodex Quintilian, den Poggio in St. Gallen entdeckt hatte, in Zürich: auf seinen Seiten tauchten nämlich die Notizen »15 rige«, »20 rige« usw. auf. Dies soll ein Beweis dafür sein, dass er von Italienern benutzt und kopiert wurde. Den Verfassern der Webseite entgeht aber, dass »rige« kein italienisches Wort ist (wenn überhaupt ist es »righe« als Plural von »riga«), sondern niederdeutsch (vgl. unter dem Schlagwort riga in C. Ducange, Glossarium Latino-Germanicum mediae et infimae aetatis. Supplementum lexici mediae et infimae latinitatis, Francofurti 1857, S. 498). Dies ist der Kodex, auf den Bouchard in seinen Aufzeichnungen Bezug nimmt, als er mit Verachtung von den angeblichen Unternehmungen Poggios und seiner Freunde spricht.
Es ist bekannt, dass direkte Beziehungen zwischen Poggios Wiederentdeckungen der Werke von Manilius, Silius und Statius und den Fälschern aus Reichenau bestehen (vgl. P. Thielscher, Ist »M. Manilii Astronomicon Libri V« richtig?, in: »Hermes«, 84/3 (1956), S. 353–372).
Andererseits hat Poggios gesamter modus operandi, jeder seriösen Überprüfung feindlich gesonnen, Nachahmer von nicht geringem Stellenwert gehabt. Der deutsche Humanist Beatus Rhenanus (1485–1547) behauptete, dass einzige existierende Manuskript des historischen Werks von Velleius Paterculus in der aus Reichenau hervorgegangenen Abtei zu Murnau im Elsass gefunden zu haben. Er hatte es, so berichtete er, dank eines unerklärlichen Glücksfalls ausgegraben. Kaum kopiert, verschwindet das Manuskript, das die Jahrhunderte auf wundersame Weise überstanden hatte, erneut und für immer.
Auch die Zeugen der Funde zu Poggios Lebzeiten waren imstande, literarische Dokumente »à la maniere de« so zu erstellen, dass sie selbst ihre abgeklärtesten Zeitgenossen täuschen konnten. So zum Beispiel der päpstliche Sekretär Piercandido Decembrio, dessen vorgetäuschte lateinische Gedichte aus seiner Jugendzeit viele Zeitgenossen, unter ihnen sogar Niccolò Niccoli, Poggios Kompagnon, in die Irre führten (vgl. D. Schaps, The Found and Lost Manuscripts |811|of Tacitus’ Agricola, in: »Classical Philology«, 74/1 (1979), S. 28–42, und W. Speyer, Die literarische Fälschung im heidnischen und christlichen Altertum, München 2 1971, S. 317). Die literarische Fälschung zählte auch berühmte Namen wie Leon Battista Alberti zu ihren Anhängern (vgl. A. Grafton, G. W. Most, S. Settis, The classical tradition, Harvard 2010, S. 138). Als eine Art Bewährungsprobe für erlesene, geistreiche Köpfe, eine ebenso raffinierte wie spielerische Übung war das Schmieden von falschen lateinischen oder griechischen Originalen weit verbreitet und wuchs auf demselben Nährboden, der auch das seltsame, unsinnige und höhnische Spiel hervorgebracht hatte, das Poggio – sich über die Maßen bereichernd – unter den Augen ganz Europas spielte.
Die Schlachten von Meloria und Punta Salvore
Wie Kemal andeutet, nachdem er sich mit Barbello, Atto und dem Secretarius auf den Turm der Meloria geflüchtet hat, fand die Schlacht von Punta Salvore zwischen der venezianischen und der römischen Flotte niemals statt und ist eine reine Erfindung der Serenissima zu propagandistischen Zwecken. Die These wird zum ersten Mal in den Annales Ecclesiastici des Kardinals Baronius (1605–1612) aufgestellt, wie J. Fried in Der Schleier der Erinnerung, op. cit., S. 157 ff. darlegt.
Ähnliche Zweifel könnten an der anderen vom Barbaresken angesprochenen Schlacht geäußert werden: die berühmte Seeschlacht bei Meloria zwischen Pisa und Genua im Jahr 1284. Obwohl in der Überlieferung versichert wird, dass gut zehn pisanische Schiffe in den Untiefen der Meloria versanken, ergaben sämtliche Unterwassergrabungen vor Ort ein negatives Resultat. Zwar wurden Überreste römischer Schiffe gefunden, aber von mittelalterlichen Waffen, Galeeren oder anderen Artefakten keine Spur (vgl. S. Bargagliotti, F. Cibecchini, P. Gambogi, Prospezioni subacquee sulle secche della Meloria: alcuni risultati preliminari, in: »Atti del Convegno Nazionale di Archeologia Subacquea. Anzio 1996«, hrsg. v. AIA Sub, Bari 1997, S. 43–53).
Schließlich muss angemerkt werden, dass in der von mittelalterlichen Chronisten überlieferten Liste der Kämpfer in der Schlacht bei Meloria nur erfundene Namen auftauchen (vgl. E. Cristiani, I combattenti della battaglia della Meloria e la tradizione cronistica, in: »Bollettino storico livornese«, n.s. II/1 (1952), S. 13–23).
Vielleicht ist Kemals Skepsis gegenüber den verhassten Nazarenern und ihren Geschichtsschreibern nicht völlig haltlos.
|812|Gegen Ende des 19. Jahrhunderts veröffentlichte der französische Gelehrte Polydore Hochart seine Abhandlung über die hypothetischen Fälschungen des Tacitus von Poggio Bracciolini; seltsamerweise vergingen nur wenige Jahre, bis 1906 unter ungewöhnlichen Umständen und an einem ungewöhnlichen Ort das wertvollste und älteste Manuskript der Germania von Tacitus auftauchte. Sonderbarer Zufall.
Im Spiel der Wiederkehr der Geschichte ist nach dem Erscheinen dieses Buches also nicht ausgeschlossen, dass irgendein toskanischer Fälscher, irgendein Nachahmer der Modigliani-Spaßvögel, schnell eine Hakenbüchse oder einen schönen mittelalterlichen Krug bei der Meloria ins Wasser wirft, um sie dann von einem befreundeten Taucher finden zu lassen und das Wunder zu verkünden: Die Schlacht bei Meloria lebt wieder. Auf das geschriebene Wort reagiert die Welt immer, und in solchen Fällen ist der Autor leider machtlos.
Gastmahl mit Überraschungsbesuch
Aus dem Gastmahl des Trimalchio haben wir eine eklatante Fälschung gemacht, die wir Poggio Bracciolini zuschreiben. Der Leser, der uns diese Kühnheit nicht verzeihen möchte, sollte jedoch wissen, dass nicht einmal diese Idee eine pure Erfindung ist.
Das Gastmahl des Trimalchio ist Protagonist einer der obskursten und beunruhigendsten Begebenheiten in der gesamten Geschichte der antiken Literatur. Wie Experten versichern, war das Satyricon, diese zügellose Schwulenkomödie über Giton und Encolpius, die von nymphomanischen Matronen und sadistischen Priesterinnen gequält, von dunklen Flüchen verfolgt, von Betrügern und Schwindlern bedroht und von Eifersucht und Impotenz geplagt werden, schon im Mittelalter im Umlauf. In den antiken Handschriften stürzten die beiden Protagonisten sich mitten in ihren unglücklichen Abenteuern in eine riesige Orgie im Haus des Freigelassenen Trimalchio. An diesem Punkt brachen die Erzählungen aber ab, um ganz woanders wieder einzusetzen: Alle existierenden Kopien gingen offensichtlich auf ein- und dasselbe unvollständige Exemplar zurück.
Im Jahr 1664 erscheint in Padua plötzlich eine neue Ausgabe des Satyricon mit einer aufsehenerregenden Neuheit: der Fortsetzung und dem Ende des Gastmahls des Trimalchio. Sofort kommen Zweifel und Polemiken auf (vgl. die an diesem Punkt einsetzende Rekonstruktion von N. Pace, Ombre e silenzi |813|nella scoperta del frammento di Petronio e nella controversia sulla sua antichità, in: P.F. Moretti, C. Torre, G. Zanetto (Hrsg.), Debita dona: studi in onore di Isabella Gualandri, Napoli 2008, S. 373–399).
Das Satyricon war in mehreren handschriftlichen Kopien schon seit Jahrhunderten im Umlauf; einige Passagen waren von antiken Autoren, wie Johannes von Salisbury im 13. Jahrhundert, zitiert worden. Wo kommt der neue Text mit dem kompletten Gastmahl also plötzlich her? Von einem im fernen Traù (heute Trogir), Dalmatien, wiedergefundenen Manuskript, wird behauptet. Einem Sammelkodex, der neben Petronius auch einige Gedichte von Tibull, Properz, Catull, Vergil (das Moretum), den Phoenix von Claudian und einen anonymen Brief an einen gewissen Leone Ebreo enthält. Der Kodex, der quasi aus dem Nichts auftaucht, ist also der einzige auf der Welt, der das komplette Gastmahl des Trimalchio überliefert: Das Risiko einer Fälschung ist unvermeidlich. Aus der Einleitung der Druckausgabe erfährt man, dass das Manuskript, das nach dem lateinischen Namen des Fundorts Traguriensis genannt wird, um 1645 entdeckt wurde. Es war also gut 18 Jahre versteckt gewesen, bevor es den Schriftsetzern zur Veröffentlichung geschickt wurde. Warum so lange?
Doch es gab noch mehr seltsame und unerklärliche Umstände. Der Kodex Traguriensis war von dem Humanisten Marino Statilio, der in Padua gerade seinen Abschluss in klassischer Philologie gemacht hatte, in der Bibliothek des Hauses der Familie Cippico, eines alten dalmatischen Adelsgeschlechts, entdeckt worden. Aber laut Aussagen seiner Zeitgenossen zweifelte Statilio selbst an der Authentizität des Textes. Er war voller Fehler, Merkwürdigkeiten, ungewöhnlicher und sonderbarer Ausdrücke, die Statilio eine Fälschung wittern ließen. Und wie er dachten auch viele andere in den Fluren der Universität von Padua.
Drohungen und Einschüchterungen
Nun regen sich die einflussreichen Förderer der Edition: der Botschafter der Republik Venedig beim Papst, Pietro Bassadonna, der aus Traù stammende Historiker Giovanni Lucio und sein dalmatischer Landsmann Stefano Gradi, Vizekustode der Vatikanischen Bibliothek, die den Herausgeber und sogar den Drucker bedrohen und verlangen, die Zweifler zum Schweigen zu bringen, die Arbeiten zu Ende zu führen und den Text nicht vor dem Druck zu zeigen. Strohmänner werden bezahlt, die auf die Fragen der skeptischen Kritiker |814|antworten; man setzt das unwahre Gerücht in Umlauf, der Text sei in Rom von einer Kommission Gelehrter untersucht und anerkannt worden. Tatsächlich hatte aber nur ein in Padua lebender, gelehrter dänischer Arzt ein positives, allerdings blindes Urteil abgegeben, allein auf Grundlage dessen, was ihm berichtet worden war und ohne den Text je gesehen zu haben. Eigenartig ist, dies nur am Rande, dass eben jener Arzt, Johann Rhode, ein Paracelsianer aus demselben Kreis war wie Pierre Potier, Pietro Castelli und Marc Aurelio Severino, denen wir schon im mysteriösen Fall von Bouchard begegnet sind. Und darüber hinaus stand er in Kontakt mit Cassiano dal Pozzo. In dubiosen Geschichten scheint man immer auf dieselben Menschen zu treffen.
Schließlich erscheint das Buch. Sofort breiten sich in ganz Europa Polemiken aus. In Paris bezeichnen der Franzose Valois und der Deutsche Wagenseil das Gastmahl, gestützt auf eine Fülle von Argumenten, als grobe Fälschung. Um den Anschuldigungen zu entgegnen, beschäftigen die Förderer des Traguriensis sogar Ghostwriter, die eine Antwort in Statilios Namen veröffentlichen, der aber gar nicht an die Echtheit glaubt. Die Flammen der Polemik schlagen hoch.
Zugunsten der Authentizität taucht jedoch ein Schlüsseldatum auf, das in der Handschrift selbst notiert ist: 1423. Just in diesem Jahr verkündete Poggio Bracciolini, der große Jäger verlorener literarischer Werke, seinem Freund Niccolò Niccoli an, dass er in den Besitzt eines Fragments von Petronius gekommen sei: Vielleicht war es das von Traù, das dann auf rätselhaften Wegen in Dalmatien landen sollte.
Aber statt das Problem zu lösen wirft diese Hypothese neue Fragen auf. Warum spricht Poggio, nachdem er in einem Brief angekündigt hat, einen wertvollen Petronius in den Händen zu halten, mit niemanden mehr darüber? Und was wurde aus seinem geheimnisvollen Petronius? Es ist nicht einmal sicher, ob Poggio zwei oder nur ein Petronius-Manuskript in Händen hatte und ob sie aus England oder Deutschland kamen. Poggio gelangte durch den Handel mit Manuskripten zu Geld und Ansehen; es ist absolut unwahrscheinlich, dass er ein so vorzügliches Stück wie das Gastmahl des Trimalchio mir nichts, dir nichts aus den Augen verlor. Nichtsdestoweniger gibt es in seinen Schriften keine erwähnenswerten Hinweise auf Petronius.
Wie man sieht, ist die ganze Geschichte gespickt mit zwielichtigem Schweigen und missverständlichen Unterlassungen, die jedoch mit einer einzigen logischen Erklärung beseitigt werden könnten: Das Gastmahl des Trimalchio ist eine Fälschung. Die Polemiken dauerten nach der Veröffentlichung in Padua jahrelang an, dann aber verständigte sich ein Großteil der Philologen darauf, das Manuskript von Traù als authentisch anzusehen. Andererseits hatte man um dieses Ergebnisses willen von Beginn an auf Schikanen und Drohungen gesetzt. Das Geheimnis um die achtzehn Jahre, die der Kodex Traguriensis in einer Schublade verschlafen hatte, wurde schließlich nicht geklärt; aber die Zeit brachte alle Meinungsverschiedenheiten zum Schweigen.
Im Jahr 2005 gab es eine Überraschung. Der kroatische Gelehrte Bratislav Lučin entdeckte auf anderen Seiten des Kodex, der das Gastmahl enthielt, die Handschrift einer berühmten Persönlichkeit: des Poeten Marko Marulić Splićanin (B. Lučin, Marul, Katul i trogirski kodeks Petronija, in: »Colloquia Maruliana«, XVI (2007), S. 5–48). Marulić, der sich als der »kroatische Dante« bezeichnete, ist eine Art geistiger und literarischer Vater Dalmatiens. 1450 in Split geboren und 1524 gestorben, war er der Autor der Judita, des ersten epischen Gedichts auf Kroatisch. Marulić hatte in den Kodex Traguriensis Claudians Dichtung Phoenix kopiert, darüber hinaus hatte er im gesamten Manuskript, außer im Gastmahl, Anmerkungen und Korrekturen gemacht. Er war also vermutlich der Besitzer des Kodexes gewesen, bevor dieser Eigentum der Familie Cippico geworden war.
Marulić besaß auch einiges Talent als Fälscher. Wie der große deutsche Historiker Theodor Mommsen bereits im 19. Jahrhundert herausfand, hatte der »kroatische Dante« in seine Sammlung antiker Inschriften, In epigrammata priscorum commentarius, die von ihm aufs Schönste erfundenen Texte einiger lateinischer Gedenktafeln eingefügt (B. Lučin, CIL 190*: A Proposal for Marulić, in: »Colloquia Maruliana«, 7 (1998), S. 47–56).
Marulić war ein ausgezeichneter Kenner der lateinischen Poesie und konnte alle großen Autoren der Antike imitieren. Der Traguriensis war sicher lange in seinen Händen, schaut man sich die Notizen und Randbemerkungen an, mit denen er den Kodex von vorne bis hinten angereichert hatte. Allein im Gastmahl des Trimalchio hatte Marulić, obwohl es das Juwel des ganzen Kodexes war, nicht eine Silbe notiert. Dies legt die Vermutung nahe, dass er von der Unechtheit des Gastmahls gewusst und es daher nicht mit Kommentaren oder Korrekturen gewürdigt hatte.
|816|Vor allem aber sprach Marulić mit niemandem über das wertvolle Manuskript in seinem Besitz. Petronius taucht unter den klassischen Autoren in seiner Bibliothek nicht auf (vgl. G.J. Gutsche, Classical Antiquity in Marulić’s Judita, in: »The Slavic and East European Journal«, 19/3 (1975), S. 310–321, insbesondere S. 314). Das verwundert vor allem, wenn man bedenkt, dass Marulić gezeigt hatte, dass er »potentiell alle epischen Dichter der römischen Antike kannte (Lukrez, Vergil, Lucan, Manilius, Statius, Silius Italicus); die Satyriker Juvenal und Persius, dann Catull, letztlich die Elegiker Properz und Tibull sowie Horaz. Er kannte Ovid bis ins kleinste Detail, einschließlich der Amores und der Ars Amatoria. Offensichtlich hatte er sich von Martial die Regeln des epigrammatischen Genres angeeignet« (D. Novaković, Two Recently Discovered Manuscripts of Marko Marulić in Great Britain, in: »Colloquia Maruliana«, 6 (1997)). Vom Petronius in seinem Besitz scheint der »kroatische Dante« jedoch nichts gewusst zu haben. Und doch hatte sein Verleger Bernardo Vitali 1499 den bereits bekannten Teil des Satyricons gedruckt. Ist es möglich, dass Vitali und Marulić nie daran gedacht hatten, auch das Gastmahl in Druck zu geben? Für das seltsame Schweigen des »kroatischen Dante« gibt es nur eine Erklärung: Entweder hatte er gewusst, dass der Petronius eine Fälschung war, oder das Gastmahl wurde dem Kodex erst in einer Zeit nach Marulić hinzugefügt.
Cippico, Begna und Ciriaco
In einigen Randbemerkungen erkennt man im Kodex Traguriensis die Handschrift von Giorgio Begna, dem mit der Familie Cippico verbundenen Kopisten von dalmatischen Originalmanuskripten. Durch einen Vergleich der biographischen Daten gelangte man zu der Annahme, dass der Kodex von Traù zunächst Begna, dann den Cippico, dann Marulić und schließlich erneut den Cippico gehört hatte, in deren Bibliothek er letztendlich von Marino Statilio zutage gefördert wurde (B. Lučin, Petronius in Dalmatia: the Codex Traguriensis and the Croatian Humanist Marko Marulić. Beitrag zum Kongress »Humanism on the Eastern Adriatic Coast«, Venedig, 8. April 2010).
Aber auch Begna, der den Kodex Traguriensis in den Händen hatte, hätte den Wert des Gastmahls nicht ignorieren können, trotzdem sprach er unerklärlicherweise mit niemandem darüber, noch kopierte er ihn. Begna und Cippico waren mit dem berühmten herumreisenden Gelehrten Ciriaco di Ancona (1391–1455) befreundet, dem man einige Fälschungen von Inschriften |817|zuschreibt, die er auf seinen Reisen gefunden haben wollte (vgl. R. Weiss, La scoperta rinascimentale dell’età classica nel Rinascimento, Padua 1989, S. 163 und 171; eine Zusammenfassung in M. Mayer, Ciríaco de Ancona, Annio de Viterbo y la historiografía hispánica, in: »Ciriaco di Ancona e la cultura antiquaria dell’Umanesimo«, Rom 1998). Um seine Inschriften-Sammlung zu komplettieren, benutzte Ciriaco unter anderem auch Texte, die ihm Begna und Pietro Cippico geliefert hatten (vgl. I. Babić, Oporuke Pelegrine, Petra i Koriolana Cipika, in: »Radovi Instituta za povijest umjetnosti«, 30 (2006), S. 29–49).
Es war also in diesem, literarischen Betrügereien alles andere als feindlich gesonnenen, engen Umfeld, in dem der Petronius von Traù ans Licht kam. Eine gewisse Neigung der dalmatischen Humanisten zu betrügerischen Praktiken wird übrigens auch im nachfolgenden Jahrhundert von Figuren wie dem bekannten Plagiator Ivan Tomko Mrnavic (1580–1637), alias Joannes Tomcus Marnavitius belegt (vgl. M.B. Petrovich, Croatian Humanists and the Writing of History in the Fifteenth and Sixteenth Centuries, in: »Slavic Review«, 37/4 (1978), S. 624–639, insbesondere S. 628).
Alle wussten es, niemand sagte etwas
Zwischen 1423, dem mutmaßlichen Entstehungsjahr des Kodex Traguriensis, und 1664, dem Jahr der Veröffentlichung in Padua, verschließt vor dem Gastmahl des Trimalchio jeder Augen und Ohren. Das Gastmahl geht durch viele Hände, aber niemand lässt diese Nachricht nach außen dringen, niemand bespricht es, niemand gibt es einem Drucker, und – noch unerklärlicher – niemand fertigt eine Kopie an. Eine mit bloßen Augen erkennbare Absurdität, für die bisher kein Gelehrter eine Erklärung finden konnte. Es ist also anzunehmen, dass das Petronius-Fragment des Kodex Traguriensis im humanistischen Umfeld von Spalato und Traù seit jeher als Fälschung bekannt war (wir haben gesehen, dass sogar sein Entdecker Marino Statilio diesen Verdacht hegte), die das Risiko eines Skandals in sich trug, wie er nach der Veröffentlichung in Padua auch tatsächlich ausbrach.
Es ist keine Überraschung, dass dies gerade mit Petronius geschah. Das Satyricon zog auch später die Aufmerksamkeit der Fälscher auf sich: Gegen Ende des 17. Jahrhunderts publizierten der Franzose Nodot und zu Beginn des 19. Jahrhunderts der Spanier Marchena weitere bisher nicht veröffentlichte Teile von Petronius – die dann als dreiste Täuschungen entlarvt wurden.
|818|Der Traguriensis allerdings setzt sich durch. Am Ende ist es der dalmatische Historiker Giovanni Lucio, einer der einflussreichen Förderer der Paduaner Edition, der Statilio überzeugt, das Petronius-Fragment aus der Schublade zu ziehen und es in Druck zu geben. Doch Lucio treiben spezielle Beweggründe an: Sein Interesse gilt der Bestätigung eines dalmatischen Nationalbewusstseins gemäß der alten römischen Tradition und der Aufwertung der Stadt Trogir, über die er Jahre später eine große Sammlung historischer Erinnerungen publizieren wird (vgl. V. Brunelli, Giovanni Lucio, in: F. Semi und V. Tacconi (Hrsg.), Istria e Dalmazia. Uomini e Tempi, Udine 1992). Wahrscheinlich sieht Lucio in der Veröffentlichung eines lokalen »Schatzes« die Möglichkeit, in seinem Vaterland zu Bekanntheit und Ansehen zu kommen.
Es verwundert nicht, das viele Hintergründe dieser Geschichte lange unbekannt blieben: Der größte Erforscher des dalmatischen Humanismus und des Personenkreises um Begna und Cippico ist der Wissenschaftler Giuseppe Praga, der in den Jahren zwischen den beiden Weltkriegen seine Beiträge zur Familiengeschichte der Cippico veröffentlichte (G. Praga, Indagini e studi sull’umanesimo in Dalmazia: il codice di Giorgio Begna e Pietro Cippico, in: »Archivio storico per la Dalmazia«, 13/77 (1932), S. 210–218). Praga war jedoch vermutlich wenig geneigt, unangenehme Dinge über die Cippico zu schreiben, denn die Zeitschrift, in der er seine Studien veröffentlichte, war von Antonio Cippico, während des faschistischen Regimes Senator des Reiches, gegründet worden. Der Jude Praga befand sich – derweil in Italien die Einführung der Rassengesetze drohte – in einer riskanten Situation.
Aber auch von anderer Seite wurde darauf verzichtet, die Wahrheit zu erforschen. Nicola Pace (Ombre e silenzi, op. cit., S. 374 und 379), der die Abfolge der Einschüchterungsversuche und Drohungen rekonstruiert hat, über die man schließlich zur Edition von Padua gelangt war, kommentiert dies so: »Es scheint, als hätte eine seltsame Blindheit viele Petronius-Kritiker davon abgehalten, zu offensichtlichen Schlussfolgerungen zu kommen«. Aber »das, was am meisten verwundert« sind nicht so sehr die »Ungenauigkeiten, Widersprüchlichkeiten und falschen Schlussfolgerungen« der Gelehrten, sondern die Tatsache, dass entscheidende und schon seit langer Zeit bekannte Dokumente »unglaublich vernachlässigt« wurden. Das Schweigen der Gelehrten, so sagt Pace »ist seltsam, wenn nicht sogar beunruhigend«.