DISKURS LXXIV

Darin man bei Barbello weitere unvermutete Talente entdeckt.

»Du hast dich geschickt angestellt bei dieser Verfolgung«, sagte Hardouin, der versuchte, seinen Schrecken zu unterdrücken. »Aber warum gibst du dich erst jetzt zu erkennen?«

»Ihr wart kurz davor, die Klippen hinunterzusteigen. Ich musste euch anhalten, sonst hätte ich euch aus den Augen verloren.«

»Lieber Kastrat, du bist ein wirklich reizender … kleiner Spion.« Kemal, der Barbellos wahres Geschlecht nur allzu gut kannte, hatte Mühe, sie als Mann anzusprechen.

»Aber du hast dich verraten: Du hast Mustafas Schal genommen, bevor wir an dem Baum vorbeikamen«, erklärte Hardouin.

»Falsch. Ich war die ganze Zeit hinter Euch.«

»Wirklich?«, staunte der Buchhändler.

»Früher oder später hätte ich dich trotzdem erwischt!«, versicherte der Statthalter von Ali Ferrarese.

»Aber ich wollte ja von dir erwischt werden«, antwortete Barbara |487|mit einem maliziösen Lächeln, das Hardouin nicht verstehen konnte, während ich nicht zeigen durfte, dass ich es verstand.

Ach, wie gerne hätte ich diese Lügnerin in eine Ecke gedrängt, ihr eine Ohrfeige gegeben und ihr ins Gesicht geschrien: So sprichst du zu deinem Liebhaber, die du soeben in jener Küche bei Mondlicht von einem anderen genossen wurdest? So sprichst du, die du mich, da ich noch schlief, heimlich in deinem Schoß aufgenommen hast? So sprichst du, die du Liebe in meinem jungen Schützling entfacht hast und ihm mit deinem schamlosen Treiben das Herz brechen würdest? So sprichst du, undurchdringliches Weib, in das alle eindringen, gibst dich als Entmannter aus und erlaubst dir, alle Männer in unserer Gruppe mit deinem Geheimnis, deinen Lügen, deinem heimlichen Hasardspiel an der Nase herumzuführen?

Aber ich musste schweigen, um dir, mein Atto, der du weit weg auf deinem Lager schliefst, von diesem ganzen Gewirr aus Sünden und Lügen nichts ahnend, noch größere Schwierigkeiten zu ersparen.

»Das Einzige, was ich nicht wollte«, sagte Barbara in vorwurfsvollem Ton, »war, hier auf dieser Insel zurückgelassen zu werden.«

Wohl oder übel mussten wir ihr unser heimliches Vorhaben erklären: das Rettungsboot wieder seetüchtig machen und nach Livorno rudern, um Hilfe zu holen.

»Das tröstet mich, ich glaubte, ihr hättet ein Treffen mit einem, der euch noch heute Nacht fortbringt«, sagte sie.

»Jetzt weißt du es auch. Du kannst mit uns kommen, aber wenn du jemandem aus der Gruppe ein Wort sagst, schneide ich dir die Kehle durch«, kündigte Kemal an.

»Ich kann Geheimnisse besser wahren als du, Barbareske«, entgegnete die verkleidete Frau ohne ein Zeichen von Furcht.

Deinem falschen Barbello fehlte die Schminke, mit der sie in den ersten Tagen ihr Gesicht getarnt hatte. Nur das Mondlicht und die Künste der erfahrenen Schauspielerin schützten sie noch davor, sich allen offenbaren zu müssen. Doch vier kannten die Wahrheit bereits: du und ich, Kemal und Pasqualini, und bald mochten es mehr werden. Nur eines konnte ich mir noch immer nicht erklären: warum um alles in der Welt sie sich als Kastrat verkleidet hatte. Ich dachte an die jüngste Überraschung, die sie uns bereitet hatte. Um sich zu erkennen zu geben, hatte sie Hardouin unterbrochen und die Namen zweier Philosophen genannt, von denen selbst ich nichts wusste.

|488|»Gehen wir weiter, doch vorher habe ich eine Frage«, sagte Hardouin zur Strozzi. »Was weißt du von Alhazen, Profazio und Abramo di Balmes?«

»Man merkt, dass Ihr Venedig nicht kennt und die Bildung, die uns Kastraten neben dem Studium der Musik mitgegeben wird.«

»Nun, ich weiß, dass in Venedig tatsächlich einige Akademien für Musiker und Literaten blühen …«, sagte Hardouin verlegen.

»Wie die berühmte Accademia degli Incogniti, nicht wahr?« Ich wollte die verkleidete Frau provozieren.

Barbara Strozzi war von ihrem leiblichen Vater in diese Versammlung gelehrter Geister und mächtiger venezianischer Persönlichkeiten eingeführt worden. Mehr noch, er hatte sogar nur für sie die Accademia degli Unisoni gegründet, in der sie Zusammenkünfte leitete und ihre Talente als Komponistin, Musikerin und Sängerin vorführte.

»Genau. In den Akademien werden die Wissenschaften, die schönen Künste, die Literatur und auch das Studium der Astronomie gepflegt«, antwortete Barbello, ohne auf die Päderastie einzugehen, die Schoppe den Mitgliedern der Akademie zuschrieb. »Man trifft sich, veranstaltet Diskussionen, Konzerte … und wir Kastraten sollen mit unserem Gesang unterhalten, müssen aber auch imstande sein, an den Konversationen teilzunehmen, die vor und nach unseren Darbietungen zum Vergnügen der Herren Akademiker stattfinden.«

»Ich verstehe«, sagte Hardouin voll Bewunderung.

War es Ironie des Schicksals oder vielleicht doch kein Zufall, überlegte ich, während Barbara Strozzi noch sprach, dass sie eine Verschleierung ihres wahren Wesens gemäß der Philosophie der Accademia degli Incogniti gewählt hatte? Denn dort wurden der Hermaphroditismus und der Rollentausch von Mann und Frau gefeiert.

Bis jetzt war die Strozzi sorgsam bedacht gewesen, ihre Bildung zu verheimlichen, nie hatte sie sich anders als mit laienhaften Fragen in unsere Gespräche eingemischt. Doch in Anbetracht der Überfahrt bis nach Livorno, die sie mit Kemal, Hardouin und mir unternehmen würde, ohne ihre beiden Schutzgeister, Malagigi und dich, hatte sie offenbar beschlossen, sich nach und nach zu offenbaren, um sich mehr Respekt zu verschaffen.

Das Mysterium der Zeit
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