DISKURS CV

Darin an einer ungewöhnlichen Stelle angelegt wird.

Die Überfahrt verwandelte sich rasch in ein hilfloses Abdriften. Nach wenigen Stunden Rudern in Kälte und Regen verließen uns langsam die Kräfte.

»Immer fleißig gerudert, ihr beiden kleinen Kastraten! Na los, Nazarenerschlafmützen, |699|ich will nicht euretwegen zu Fischfutter werden«, spornte Alis Statthalter, der allein mit mehr Kraft als wir alle drei zusammen ruderte, uns an.

Alle wurden wir mittlerweile von der übermenschlichen Anstrengung, dem Hunger und Durst, vor allem aber von der Verzagtheit erdrückt.

»Wir werden es nie schaffen«, sagtest du, über das Ruder gebeugt, während Barbello, den nunmehr alle im Boot als Frau kannten, doch keiner als solche entlarven wollte, schon aufgegeben hatte.

»Nun lass dich doch nicht entmutigen, verflucht!«, schrie Kemal, »weißt du nicht, dass man auf See nur stirbt, wenn man den Mut verliert? Ein Schiffbrüchiger kann allein bis zu vierzig Tage aushalten, wenn er an seine Rettung glaubt!«

Doch der Statthalter hatte uns genau beobachtet und verstanden. Auch ich bewegte das Ruder nur noch schwach, entkräftet von all den Aufregungen, Entbehrungen und tausenderlei Unglücken. Also hörte auch er auf zu rudern. Nur manchmal tat er noch einen Schlag, um den Kurs des Bootes zu korrigieren.

Dann frischte der Wind auf. Die Wellen, auf deren Kämmen erst lebhafte, weiße Täubchen getanzt hatten, schwollen nun an wie der faulende Leib von tausend Höllenwächtern. War unser kleines Gefährt erst sanft vor- und zurückgeschaukelt, begann es jetzt verrückt zu spielen. Wir griffen wieder zu den Rudern, um den Tanz der Wellen, dem wir immer stärker ausgesetzt waren, in Schach zu halten. Der Seesturm ließ uns wie ein Korken hüpfen, und wenn niemand sich übergab, lag das nur daran, dass unsere Mägen seit geraumer Zeit leer waren. Manchmal ließ Kemal das Ruder los und blickte in alle Richtungen, vielleicht auf eine höchst unwahrscheinliche Rettung hoffend. Ich spürte den Wind des Todes, der einzige warme Hauch, über unsere Nacken streichen.

»Die Strömung treibt uns nach Südosten«, erklärte der Barbareske schreiend, um den Wind und das Klatschen der Wellen zu übertönen.

»Ja und?«, fragte ich, während ich das Ruder mit der Kraft eines Sterbenden bewegte.

Eine Welle griff uns am Bug an und warf uns fast von den Sitzen. Ich musste mich umdrehen und mich vergewissern, dass du nicht ins Wasser gefallen warst.

»Wenn wir nicht zu weit in nördlicher Richtung gerudert wären«, |700|erklärte Kemal, »würden wir uns immer noch auf Livorno zubewegen. Und vielleicht ist es genauso.«

»Das nennt man Optimismus«, bemerktest du.

»Hä?«, fragte der Korsar zerstreut, als hätte ihn ein Gedanke abgelenkt.

Eine nächste Welle warf fast das Boot um und besprühte uns mit tausend Spritzern. Wir schrien vor Wut und Angst.

Der Statthalter musterte wieder den Horizont, es war fast ein Wunder, dass er aufrecht stehen konnte, während das Boot sich erst am Bug aufbäumte, um dann heftig auf die Wellen zurückzufallen und das Heck in die Höhe ragen zu lassen. Dabei schöpfte es eimerweise eiskaltes Wasser. Die Nüstern des alten Korsaren waren gebläht wie die eines Jagdhundes, der die Beute wittert, seine Augen zusammengekniffen wie die eines Raubvogels und die Lippen lechzten danach, das gelobte Land anzukündigen. Tatsächlich sagte er:

»Seht mal geradeaus.«

Alle drei hoben wir gleichzeitig den Kopf, und nachdem wir es gesehen hatten, senkten wir ihn nicht wieder.

Der Anblick war irreal und gesegnet zugleich.

Mitten im Meer, von Fluten und Sturm gepeitscht, erhob sich ein kleiner Turm.

Augenblicklich überkam uns die Lust zu rudern. Wir nahmen unsere letzten, kargen Kräfte zusammen, und obwohl Beine und Arme vor Schwäche zitterten, gelang es uns, das Boot zwischen den Wellen hindurch zu manövrieren und an dem kleinen Haufen aus Steinen anzulegen, über dem der Turm aufragte. Wir sprangen sofort aus dem Boot, und die Freude schnürte mir fast die Kehle zu. Wir hatten ein wenig festen Boden unter den Füßen: ein winziger Fleck aus Steinen, verlassen und kahl.

»Heiliger Himmel, ihr Toskaner seid schon ein seltsames Völkchen«, scherzte Barbara mit einer gespensterhaft verfremdeten Stimme, während sie ihre müden Füße durch das Wasser schleppte. »Bei uns in Venedig gibt es keine Türme mitten im Meer.« Ich betrachtete die Arme. Sie war ausgezehrt von Müdigkeit und Angst wie ein Säckchen aus Knochen und Blut, das die Mühen von innen entfleischt hatten, aber sie war lebendig und wollte es bleiben. Von wegen Kastrat, dachte ich, und von wegen Frau: Dies war ein richtiger Mann.

|701|»Du wusstest von diesem Ort, nicht wahr, Secretarius?«, fragte Kemal.

»Ja, aber ich habe nicht gewagt, mir vorzustellen, dass wir schon so nah an diesem Turm sind. Die Strömung muss uns mit der Kraft eines Riesen mit sich gezogen haben. Wenn dieser Nebel nicht wäre, könnten wir Livorno schon sehen.«

»Stimmt. Aber vor dieser letzten teuflischen Anstrengung müssen wir ausruhen. Kommt, wir setzen uns unter das Dach.«

Der Turm ruhte auf vier Pfeilern, die zu zweit jeweils einen eleganten Bogen bildeten. Zwischen diesen Pfeilern konnte man sich, durch den Turm vor Regen geschützt, niedersetzen, was wir sofort mit größter Erleichterung taten. Dieses Eckchen hatte eine wunderbare Eigenschaft: es war trocken. Der Wind kam an, aber die Wellen und die Spritzer der Gischt nicht.

»Wir sind hier am Turm von Meloria, mitten in einem Gebiet voller Untiefen, dem die Schiffe sich nicht nähern dürfen, wenn sie nicht riskieren wollen, auf Grund zu laufen. Im Sommer werden Feuer auf dem Dach des Turms entzündet, um die Seefahrer zu warnen«, erklärte Kemal.

»Oder um vor Korsaren zu warnen«, fügte ich hinzu.

»Jaja, auch deswegen.« Kemal lachte müde. »Darum schickt uns der geniale Ali Ferrarese manchmal mit dem Beiboot hierher, um das Feuer zu löschen und euch Nazarenern einen feinen Streich zu spielen, auf den ihr regelmäßig hereinfallt. Ach, was für ein Mann!«

Ich betrachtete ihn. Er war klatschnass, schmutzig und stank aus den Kleidern, die ihm seit vielen Tagen am Leib klebten, aber in seinen Augen war dasselbe wilde Flackern und in seinem Körper dieselbe Lebenslust, die ich an ihm wahrgenommen hatte, als wir einander zum ersten Mal begegneten.

Endlich kehrten wir den Wellen, die sich mit feindseligem Gemurmel an der schmalen Felsschicht der kleinen Insel brachen, den Rücken. Du, Barbara und ich saßen lange schweigend da, leichenblass, erschöpft und bis ins Mark unter Kälteschauern erzitternd, leblos auf die Steine geworfen wie die Figuren, die ich als kleiner Junge am Strand aus Algen und Muscheln formte. Keiner hatte noch Kraft zu sprechen oder die Augen offenzuhalten. Kemal ruhte aus. Manchmal öffnete er die Augen einen Spaltbreit und warf einen Blick aus dem Viereck unter den Pfeilern. Man sah die Gischt der Wellen, hier und da |702|eine Möwe und den fahlblauen Himmel, aus dem es ununterbrochen goss.

»Verflucht, das Boot!«, schrie Kemal plötzlich.

Wir waren soeben von einer mörderischen Welle erfasst worden, denn das Gewitter hatte sich in ein Unwetter verwandelt. Die Wellen waren doppelt so hoch wie zuvor und überfluteten nun die ganze winzige Insel bis hinauf zu den Pfeilern des Turms. Sie hatten das Boot mit sich gerissen, denn wir hatten versäumt, es aufs Trockene zu ziehen, damit es nicht von der rücklaufenden Brandung verschlungen würde. Wir waren verloren.

Eine nächste Welle fuhr uns so heftig gegen die Beine, dass wir uns an den Pfeilern festhalten mussten, um nicht von den Steinen gespült zu werden. Barbello schrie, endlich wie eine Frau.

»Wir holen das Boot zurück!«, schriest du und wolltest dich schon ins offene Meer stürzen, als Kemal dich packte und dir, so stark wie seine Erschöpfung es erlaubte, mit der Faust ins Gesicht schlug.

»Wo zum Teufel willst du hin, verdammter Idiot?«, schrie er, schüttelte dich wie eine Puppe und steckte deinen Kopf zwischen zwei Pfeiler des Turms, von wo aus man unser Bötchen sehen konnte.

Das Boot war schon sehr weit abgetrieben, fast versunken zwischen meterhohen Wellen, die es wie eine Herde tollwütiger Hunde zu zerfleischen schienen. Du begannst zu weinen, endlich wie ein Junge.

Neue Brecher überspülten die Insel in immer kürzeren Abständen und durchnässten uns bis auf die Knochen. Es war, als wollten die kalten Zungen des Meeres unsere Beine kosten, bevor sie uns verschluckten.

»Scheißnazarener«, fluchte Kemal, ließ uns ohne eine Erklärung unter dem Turm zurück und trat ins Freie.

Er stellte sich an einen der Pfeiler, die den Turm stützten und betastete das Mauerwerk, bis seine Hand an einer Stelle liegenblieb. Nachdem er tief Atem geholt hatte, sprang er mit einem Anlauf auf den Pfeiler und hangelte sich hinauf, indem er seine Füße in Aushöhlungen der Mauer setzte. In den Turm waren Stufen gehauen worden, die geschickten und mutigen Männern erlaubten, den Turm zu erklimmen. Der Korsar kletterte bis auf das Dach des Turms.

Schwankend folgten wir seinem Beispiel und versuchten, seine Bewegungen nachzuahmen. Zäh um jede Stufe kämpfend, uns gegenseitig schiebend und im letzten Abschnitt von Kemal hinaufgezogen, |703|konnten wir uns schließlich alle auf das Dach des Turms flüchten. Auf diesem dem Wind ausgesetzten Höcker war der Regen unerträglich, aber das war immer noch besser, als dort unten von den Wellen ins Meer gerissen zu werden. Das Dach des Turms war voll kleiner, mit Wasser gefüllter Löcher. Wir probierten, es war kein Meerwasser, sondern frisches, süßes Regenwasser. Seit Stunden hatten wir nichts getrunken. Wir tränkten uns wie Vieh, saugten jedes noch so kleine Loch leer und leckten an den Steinen wie Säuglinge an den warmen Brüsten, aus denen die gute Muttermilch quillt.

»Hört mir gut zu, ihr drei«, sagte Kemal, während er sich den Mund mit dem Jackenärmel trocknete. »Wir müssen uns gegenseitig wach halten und dafür sorgen, dass wir nicht erfrieren, das ist alles. Früher oder später legt sich der Sturm. Wichtig ist, nicht aufzugeben und den Mut nicht zu verlieren. Manch anderer wäre in unserer Lage schon tot. Aber wir sind hier, und wir werden es schaffen. Irgendwann, in einem, drei oder zehn Tagen wird ein Schiff hier an der Meloria vorbeikommen. Und in dem Moment werden wir leben. Wir müssen nur warten und nicht an den Tod denken. Der Tod ist wie ein Magnet, wenn man allein mitten auf dem Meer ist. Man darf sich ihm nicht in Gedanken nähern, man muss einen großen Bogen um ihn machen. Wir müssen nur die Zeit totschlagen, egal wie. Überlegt doch mal, im Grunde haben wir als Schiffbrüchige ein enormes Glück: wir sind an Bord eines Schiffes aus Stein, das sich nicht bewegt und nicht untergehen kann. Ist das nicht großartig? Haha!«

Er brach in ein herzhaftes Gelächter aus und zauberte einen Augenblick lang ein Lächeln auf unsere Gesichter.

»Wisst ihr was? Auf Gorgona habt ihr Nazarener andauernd über einen Haufen Dummheiten geredet«, sagte Alis Statthalter lachend. »Die Geschichte, die Zeit … Nun, jetzt müssen wir die Zeit totschlagen! Aber nur sie darf auf diesem Turm krepieren, wir nicht! Scheiße, macht keinen Fehler, ich warne euch!« Wieder grinste er, auch wir lachten, und einen Augenblick lang mischten sich die Tränen der Verzweiflung mit denen der Heiterkeit. Dann senkte sich die Stille wieder über uns.

Auf den mit Regenwasser gefüllten Löchern zu sitzen, war unerträglich, also blieben wir stehen, bizarre Vogelscheuchen mitten im Meer, die unter den heftigen Böen schwankten. Kemal sah Barbara mit mühsam verhehlter Zärtlichkeit an, dann wandte er sich an dich:

|704|»Na los, fangen wir an. Erzähl mir eine Geschichte, kleiner Kastrat Atto Melani. Irgendeine.«

Du blicktest ihn verwirrt an, in deinen starren Augen lag nur Angst. Der Barbareske begriff, dass er den Falschen ausgesucht hatte und wandte sich an mich.

»Secretarius, du bist Toskaner. Du kennst die Geschichte dieses Turms, oder?«

Auch ich war am Ende, aber ich wollte mich nicht drücken.

»Natürlich kenne ich sie. Mal sehen … Also, vor vielen Jahrhunderten, als Livorno noch zur Seerepublik von Pisa gehörte, wurde der Turm schon als Leuchtfeuer benutzt. Dann gab es kurz vor dem Jahr 1300 eine große Schlacht in diesen Gewässern. Zwischen Pisa und Genua, den beiden großen Seerepubliken, herrschte Krieg. Am Tag des heiligen Sixtus stachen die Genueser mit dreißig Galeeren von ihrem Hafen aus in See. Die Pisaner waren in der Überzahl. Kaum hatten sie das bemerkt, verließen sie ihren Anlegeplatz, der Porto Pisano hieß, denn damals gab es Livorno noch nicht. Die beiden Flotten eröffneten den frontalen Zusammenstoß. Die Schlacht war sehr grausam, gekämpft wurde mit der Armbrust, mit kochendem Pech, mit Steinwürfen und Kalkpulver. Dutzendfach wurde geentert, es gab Tote sonder Zahl, das Meer färbte sich blutrot. Die Pisaner waren sich ihres Sieges gewiss, weil sie in der Überzahl waren, aber sie wussten nicht, dass die Genueser weitere dreißig Galeeren besaßen, die sich just hinter dieser kleinen Insel versteckten. Als die Schiffe aus ihrer Deckung kamen, gab es eine Katastrophe. Die Flotte der Pisaner verlor fünfzig Schiffe, die Hälfte wurde geentert, die anderen versanken. Es gab sechstausend Tote. Zwölftausend Gefangene wurden in Ketten nach Genua gebracht. Pisa verlor durch diese Niederlage so viele Einwohner, dass damit sein Niedergang begann, der in der Eroberung Pisas durch Florenz gipfelte. Die nach Genua deportierten Gefangenen waren so zahlreich, dass man ihnen ein eigenes Stadtviertel zuweisen musste. Damals entstand das berühmte Sprichwort: ›Wenn du Pisa sehen willst, geh nach Genua‹. Offenbar sind im Laufe der Jahre weniger als tausend Gefangene in die Heimat zurückgekehrt. Die anderen blieben für immer in Genua.«

»Gut gemacht, Secretarius, du hast schön erzählt. Aber ich sage dir, das ist alles Unsinn.«

»Wie bitte?«

|705|»Klar doch. Schau dich um. Siehst du nicht, dass eine Flotte aus dreißig Schiffen sich unmöglich hinter den wenigen Steinen dieser winzigen Insel verstecken kann? Ein ausgemachter Schwindel ist das. Dreißig Schlachtschiffe lassen sich nirgendwo verstecken, nicht einmal hinter einer richtigen Insel wie Gorgona. In Kriegszeiten sind die Meere voller Spione, keine Flotte kann sich dem Schauplatz einer großen Schlacht nähern, ohne dass der Feind es bemerkt. Und weiter: Glaubst du wirklich, dass die Genueser sich viele tausend Gefangene nach Hause mitgenommen haben? Weißt du, was es kostet, tausende Mäuler zu stopfen, zu versorgen, zu regieren? Die Pisaner Gefangenen waren allesamt Soldaten, also kampferfahren. Sie als Gruppe zusammen zu lassen hätte bedeutet, mitten in Genua ein feindliches Heer zu unterhalten, das jederzeit Aufstände anzetteln konnte. Und wer gab ihnen zu essen? Sollte man sie etwa umsonst unterhalten? Oder sollte man ihnen Arbeit geben und damit zulassen, dass tausende Feinde das Leben der Stadt unterwanderten? Es ist sonnenklar, dass die ganze Geschichte ein Riesenhumbug ist, den nur Leute schlucken, die vom Meer und vom Krieg keine Ahnung haben.«

Er verstummte mit einem herausfordernden Lächeln, weil er auf eine Erwiderung von uns dreien wartete. Aber wir waren zu erschöpft, und er fuhr fort:

»Ich habe euch gut zugehört, Nazarener, als ihr euch über eure Philosophen, eure Historiker, die Zeit und all diese komplizierten Probleme, die euch so gefallen, in die Haare gekriegt habt. Und ich frage euch: Ist es möglich, dass ihr nicht sofort erkennt, was falsch ist und was nicht? Einem echten Seefahrer wie Ali Rais genügt ein Blick, um zu begreifen, ob jemand lügt oder die Wahrheit sagt. Und ihr braucht Jahrhunderte, um zu erkennen, dass eure Historiker allesamt abgefeimte Lügner sind? Ich kannte die Geschichte von der Schlacht bei Meloria schon. Viele Korsaren, die im Mittelmeer kreuzen, kennen sie. Darum habe ich dich gebeten, sie zu erzählen, Secretarius. Ich wollte sehen, ob auch du auf dieses Lügenmärchen reingefallen bist. Und jetzt antworte mir, venezianischer Kastrat! Stimmt es oder nicht, dass ihr in Venedig jahrzehntelang die ruhmreiche Schlacht von Capo Salvore auf Bildern und Wandteppichen verewigt habt, bis ihr entdecken musstet, dass die Schlacht nie stattgefunden hat?«

Vollgesogen mit Wasser wie eine Strohpuppe im Regen, fand Barbara nur die Kraft zu einem schwachen Nicken.

|706|»Siehst du?«, rief der Korsar triumphierend aus. »Immer wieder sage ich meinen Männern: je schöner und großartiger die Geschichte ist, die sie euch erzählen, desto misstrauischer müsst ihr sein. Und wenn ihr über eine Sache keine Gewissheit habt, haltet den Mund. Denkt immer daran, Nazarenerhunde! Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.«

Er schwieg einen Augenblick lang, auf eine Antwort wartend, die nicht kam. Nur der Wind ließ sich vernehmen und die Peitsche des Regens.

»Soll ich euch etwas sagen? Ihr seid große Drückeberger, ihr Nazarener. Ihr solltet die Zeit totschlagen, stattdessen lasst ihr nur mich reden. Aber jetzt habe ich keine Puste mehr. Also macht euch an die Arbeit! Erzählt mir eine Geschichte, aber schnell!«

Wir kauerten alle am Boden, das Wasser, das von allen Seiten bis zum Rücken und zur Brust in unsere Kleider drang, war uns mittlerweile gleichgültig. Die innere Kälte, die die Gesichter wächsern und die Lippen violett färbte, ging bereits über die Grenzen der Sinneswahrnehmung hinaus, keiner zitterte mehr. Du, Kemal und ich waren steif wie Holzscheite, ein gut gezielter Tritt hätte uns womöglich in zwei Teile zerbrochen. Barbara dagegen war schlaff wie eine verwelkte Blume. Du bettetest ihren Kopf sanft auf deine Beine. Wir wechselten einen verwirrten Blick und sahen, dass wir den Schatten des Todes im Gesicht trugen. Ich konnte deine Gedanken lesen: Woher nahm dieser teuflische Barbareske, der dreimal so alt war wie du, bloß all seine Kraft? Wo fand er den Schwung, immer weiter zu reden?

»Na gut, ich habe verstanden«, sagte er. »Ihr seid nicht Manns genug, eine Geschichte zu erzählen, ein bisschen Kälte genügt, und schon verliert ihr die Lust. Aber ihr wollt Historiker und Philosophen spielen, wie diese anderen Idioten, von denen ihr auf Gorgona die ganze Zeit geredet habt? Ha, geht mir doch weg! Auf den Schiffen von Ali Ferrarese könntet ihr nicht mal als Schiffsjungen anheuern!«

In diesem Moment fielen mir die Augen zu, ich hatte keine Kraft mehr, die Lider zu heben.

»Schlaf nicht ein, Secretarius«, mahnte mich Kemal.

»Keine Angst, ich leide an Schlaflosigkeit.«

»Haha!«, lachte der Barbareske. »Das ist gut, so gefällst du mir!« Kemal klapperte mit den Zähnen, sein Gesicht war marmorweiß, der Körper steif und gelähmt wie der einer Marionette.

|707|»Woher nimmst du nur die Kraft, noch immer zu reden«, fragtest du ihn nuschelnd.

»Ich hab’s dir doch schon gesagt, verflucht. Wenn man auf dem Meer verschollen ist, darf man die Hoffnung nie aufgeben. Niemals. Und ich finde immer einen Grund, um zu hoffen. Auch jetzt. Weil ich die Augen offenhalte. Das ist das Geheimnis des Lebens auf See.«

»Ich glaube nicht, dass ich verstanden habe«, sagtest du, während du schwach über Barbaras Kopf strichst, der reglos auf deinen Beinen lag.

»Egal, später wirst du verstehen.«

Uns allen hatte die Entkräftung, die dem Ende vorausgeht, mittlerweile die Augen versiegelt. Allen außer Kemal.

»Wann werde ich verstehen?«, fragtest du nach einem Augenblick, der Jahrhunderte dauerte.

Der Wind heulte, der Regen war wie ein Steinhagel. In deiner belegten Stimme kündigte sich die Ohnmacht an, und ich sah deinen Kopf gefährlich schwanken. Ich wollte dir helfen, merkte aber, dass ich selbst schon schwer wie ein Stück Holz am Boden lag, das nur noch eine fremde Hand hätte bewegen können. Wenn das der Tod ist, dachte ich, geht er recht sanft vonstatten.

»Sehr bald wirst du verstehen«, antwortete dir der Barbareske, »es fehlt nur noch ein Augenblick. Du brauchst dich nur umzudrehen und tun, was ich tue: die Augen offenhalten.«

Kemal stand wieder auf. Mit übermenschlicher Kraft hob ich die Lider und sah, warum er aufgestanden war. Der Korsar empfing mit einem angemessenen Gruß die letzte Überraschung dieses endlosen Tages.

Lautlos wie ein Dieb in der Nacht hatte der Eindringling sich herangeschlichen, mächtig wie eine Festung und schwarz wie der Tod.

Er hielt in sicherem Abstand zu den Untiefen und trug gut sichtbar am höchsten Mast eine von den Matrosen aller Nationen gefürchtete Fahne mit der italienischen Aufschrift, die wir seit langem auswendig kannten:

DIE CHRISTLICHE RELIGION IST FALSCH

|708|Gleich einer Bulldogge mit unfehlbarem Geruchssinn hatte die Karacke von Ali Ferrarese uns gefunden.

Noch wussten wir es nicht, doch auf dem Deck des Korsarenschiffs erwartete uns ein alter Bekannter. Und als das Beiboot uns bis zu dem großen Schiff brachte, sahen unsere Augen zwar, wollten aber noch nicht glauben.

Von der Höhe des Schiffes aus grüßte uns jemand und lächelte seinem Kemal ergeben zu. Es war ein Mann, den jemals wiederzusehen wir nie erwartet hätten. Mit lauten Rufen und rauen Befehlen lenkte er die vier jungen Barbaresken, die uns von der Leuchtturminsel geholt hatten. Kemal rief ihm zu: »Gut so, Mustafa!«

Das Mysterium der Zeit
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