|572|DISKURS LXXXVII
Darin sich Barbara Strozzi von einer Jägerin in eine Jagdbeute und von einer Wilden in Freiwild verwandelt.
Der erste Teil der Nacht verging in völliger Stille, zumindest für mich, der ich zu müde war, um wieder ein Opfer der Schlaflosigkeit zu werden. Bevor ich einschlief, sah ich den falschen Barbello noch in dein Bett kriechen.
Doch je mehr Kräfte mein Körper zurückgewann, desto leichter wurde der Schlaf, und so wunderte ich mich nicht, dass es noch stockfinster war, als ich die Augen öffnete. Ich schaute in deine Richtung. Du warst allein.
Doch etwas hatte mich geweckt. Erstickte Schreie aus der Küche, ein Streit, wie mir schien. Als ich näher kam, erkannte ich, dass jemand um Hilfe rief, doch mit sehr leiser Stimme, aus Angst, gehört zu werden. Ich spähte durch den Vorhang und glaubte meinen Augen nicht zu trauen: Barbara wand sich, Oberkörper und Gesicht auf die Tischplatte gedrückt, unter dem Griff ihres brutalen Angreifers, der sie am Hals festhielt.
»Du hast deinen Hintern diesem anderen Kastraten geliehen«, hörte ich Naudé keuchen, »und du hast dich von allen befriedigen lassen! Aber mir hast du noch nie etwas gegeben. Also nehme ich ihn mir ohne Einladung, diesen schönen Hintern, was meinst du?«
Als ich die leere Flasche auf dem Tisch sah, begriff ich: Naudé hatte den ganzen Rest Wein getrunken und in den Fluten des Bacchustranks jede Beherrschung über seine Triebe verloren. Mazarins Bibliothekar war wie die Neger in Afrika, die Wein nicht vertragen, aber sehr lieben.
Von der armen Frau war nur ein verzweifelter, leise gewimmerter Hilferuf zu hören. Hoffte der falsche Barbello davonzukommen, ohne dass die anderen erwachten? Natürlich fürchtete sie deine Reaktion, wenn du durch Naudé von ihrer heimlichen Zusammenkunft mit Malagigi hören würdest und vielleicht auch von den anderen, die Naudé offenbar erraten hatte. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Natürlich war mir nicht daran gelegen, diesem Weib den sodomitischen Angriff zu ersparen, im Gegenteil, das würde ihr eine Lehre sein, alle aufzureizen und sich allen hinzugeben. Hatte dieses verderbliche Geschöpf |573|nicht ebensolche Gewalt bei mir angewandt? Sie hatte meinen Schlaf genutzt und die Lust genossen, welche ich meiner Gemahlin zu spenden glaubte. Aber was würde geschehen, wenn Barbara am Ende doch um Hilfe schreien würde?
Der Päderast gewann unterdessen die Oberhand über sein Opfer, nachdem er fieberhaft an den Bändern von Barbellos Unterhose genestelt hatte. Ich bebte vor Angst, dass der Bibliothekar Barbellos wahres Geschlecht entdecken würde.
»Und weg mit diesem lächerlichen Sack, den du immer mit dir herumschleppst«, grunzte er, an dem Schulterriemen zerrend.
Der falsche Barbello hob den Kopf, so hoch wie Naudés fester Griff es gestattete, und ließ sich den Sack widerstandslos abnehmen.
»So ein Zeug mit sich herumzutragen, igitt!«, bemerkte der Angreifer und schleuderte den Sack in eine Ecke der Küche.
»Seid vorsichtig!«, flehte die Sängerin, den Flug des Sacks mit ängstlichen Blicken verfolgend.
»Keine Angst, mein schöner Jüngling, ich werde vorsichtig sein. Mit dir!« Lachend beugte er sich über sein Opfer.
Während der folgenden, abstoßenden Verrichtungen dachte ich abermals über Naudés Worte nach. Er hatte den unergründlichen Inhalt des Gepäcks, mit dem Barbara sich gen Frankreich eingeschifft hatte, bissig kommentiert. Was der Sack enthielt, schien Naudés Spott oder Verachtung zu erregen. Naudé wusste also etwas über Barbaras angebliche Mission, schien jedoch andererseits wirklich in Unkenntnis über die weibliche Identität des falschen Kastraten.
Was zum Teufel war noch in diesem Sack außer schäbigen Fetzen ausgetrockneten Leders? Vielleicht war es etwas sehr Kleines und Kostbares, das weder ich noch die Korsaren bemerkt hatten? Dann hätte die venezianische Sängerin klüger daran getan, es an ihrem Körper zu verstecken, statt immer mit diesem Schultersack herumzulaufen, den sie mal über, mal unter den Kleidern trug. Wieder endeten meine Überlegungen in einer Sackgasse.
Unterdessen schritt Naudé mit seiner erotischen Erkundung a tergo voran. Zum Glück erwartete er sich Lust von den Hinterbacken eines Kastraten, hatte also noch nichts Ungewöhnliches entdeckt. Doch was würde geschehen, wenn seine Hände sich tiefer in jene dunklen Höhlen vortasteten, in die das leichtfertige Weib mit einem frechen Hüftstoß meine Finger eingeführt hatte? Wie würde der Päderast Naudé es |574|verkraften, wenn er gewahrte, dass er eine Frau erkannte? Vielleicht hätte er gar nichts dagegen, wer weiß.
Doch wenn nicht Barbara, sondern Barbello zum Singen in Paris erwartet wurde, vorausgesetzt wir kamen endlich heil und gesund dort an, wie würde sie sich weiterhin verstellen können, wenn Mazarins Bibliothekar persönlich ihr wahres Geschlecht auf diese unmissverständliche Weise entdeckt hatte? Und welche Folgen würde dies für deine Zukunft haben, mein lieber Atto?
»Machst du nun mit oder muss ich mir selbst einen Weg bahnen?«, kicherte der fluchwürdige Päderast und begann zur Demonstration mit rhythmischen Angriffen auf die nackten Hinterbacken der unglücklichen Frau.
»Na gut«, gab die Arme endlich nach, »aber nimm mich nicht so.« Mit diesen Worten drehte sie sich um, zog ihn zu sich heran und umklammerte ihn mit einem langen Kuss.
Naudé stieß einen betrunkenen, mit lächerlichen Juchzern gewürzten Seufzer aus. Nun ergriffen die Hände des falschen Kastraten flink sein Glied. Ich schrak zusammen: einen Augenblick lang befürchtete ich eine grässliche Rache der verkleideten Frau, doch ich irrte mich. Sie hatte beschlossen, dass es das Klügste war, den Päderasten auf andere Weise zu befriedigen, um sich der entwürdigenden Stellung zu entziehen.
Die beiden glitten zu Boden. Barbara rollte an die Seite desjenigen, der in dieser Nacht Herr über ihr Schicksal war und schickte sich an, ihm mit dem Mund Lust zu verschaffen – die sicherste Stellung, um ihr Geschlecht nicht zu offenbaren. Naudé war sehr schnell bedient, was im Grunde kein Wunder war, denn außer den beiden betagten Guyetus und Schoppe, in deren Alter die Sorge um Gesundheit über jene um die Liebe obsiegt, war er der Einzige, der seit unserer Einschiffung die Freuden der Venus noch nicht genossen hatte.
»Perverses Schwein.«
Ich drehte mich ruckartig um.
»Ich meine natürlich nicht Euch, sondern diesen obszönen Zweibeiner«, sagte Schoppe, dessen Mund sich in einer Grimasse höchsten Abscheus bis zum Kinn verzog. »Leider bin ich erst jetzt gekommen, da mir grässliche Rückenschmerzen das Liegen zur Qual machen. Jetzt ist es zu spät, um diesem widerwärtigen Päderasten Stockschläge auf den Rücken zu verpassen.«
|575|»Oh, ich bin natürlich auch noch nicht lange hier«, log ich.
»Gewiss doch.« Mein Gefährte nächtlichen Wachens warf mir einen scheelen Blick zu, während wir uns eilig entfernten.
»Armer Barbello, was muss er alles erleiden!«, fing der Verehrungswürdige an, nachdem er mich mit einem Wink in einen Raum geleitet hatte, wo wir ungestört sprechen konnten. »Ich kann mir gut vorstellen, wie dieses Ungeheuer ihn gezwungen hat. Er hat ihm angedroht, ihn bei Mazarin anzuschwärzen und seiner Karriere zu schaden. Ich frage mich wirklich, wie lange der Kardinal noch warten will, bis er sich dieses Verderbten entledigt.«
»Vielleicht weiß Seine Eminenz nichts von Monsire Naudés Sitten.«
»Wenn doch ganz Europa es weiß! Nun, vielleicht habt Ihr recht. Ich habe mich wohl schon zu sehr daran gewöhnt, wie durchtrieben und zynisch ihr Italiener seid, und vergesse darüber den Charakter der Franzosen. Kennt Ihr das?« Er lachte. »Es heißt, wenn ein Franzose eine Mätresse sieht, verwechselt er sie mit der Madonna und kniet nieder, während ein Italiener, der die Madonna sieht, sie für eine Mätresse hält und nach ihrem Preis fragt, haha.«
Das überaus ordinäre Bonmot des erzkatholischen Schoppe entsetzte mich, und ich stimmte mit einem verlegenen Lächeln in seine Fröhlichkeit ein.
»Ein treffendes Wort«, räumte ich ein. Wir setzten uns auf die Strohlager mit den schmutzigen, aber schweren Decken.
»Der Zynismus der Italiener und die Leichtgläubigkeit der Franzosen, das sind die schwersten Mängel dieser Völker! Doch der eure ist schwerwiegender, denn wer nichts und niemandem traut, lebt schlecht.«
»Ihr müsst zugeben, dass mein Land schon seit ein paar Jahrhunderten recht übel dran ist. Und es ist wohl die Ironie des Schicksals, dass unsere Schwierigkeiten mit dem Einfall der Franzosen in Italien begonnen haben.«
»Das stimmt, aber vergesst nicht, dass die Franzosen von Ludovico Sforza, il Moro, dem Herzog von Mailand, geholt wurden, denn ihr Italiener seid auch große Verräter an eurem eigenen Volk. Klar, dass ihr am Ende allen und allem misstraut. Und so emigrieren die Betrüger, Angeber und Bösewichter nach Frankreich, um ihr Glück bei den Leichtgläubigen zu suchen, wie zum Beispiel Scaliger.«
|576|Schoppe versäumte wahrhaftig keine Gelegenheit, die Rede auf sein Lieblingsopfer zu bringen: Johann Justus Scaliger.
»Ich hörte, wie Ihr ihn mehrmals der Unaufrichtigkeit anklagtet, aber mehr weiß ich nicht«, sagte ich, ohne ihm zu enthüllen, dass Naudé und Guyetus, später auch Hardouin mir schon viel von Scaliger erzählt hatten.
»Dieses Mal meinte ich nicht Scaliger den Sohn, der sich unter dem Vorwand seiner Chronologie als Herr der Zeit aufspielte. Ich bezog mich auf seinen Vater: Julius Cäsar Scaliger.«
»Nie von ihm gehört. War er berühmt?«
Ich wusste noch nicht, dass Schoppe zu bitten, über einen Scaliger zu sprechen, in etwa dasselbe war, als hätte man ein Mitglied des Hohen Rates nach seiner Meinung über Jesus Christus gefragt.
»Will man verstehen, wer Joseph Justus Scaliger war«, hub Schoppe an und setzte sich unter der schweren Decke auf, als wollte er sich in die richtige Position bringen, um seine Pfeile abzuschießen, »muss man zuvörderst seine erbärmliche Herkunft kennen, also den Vater Julius Cäsar Scaliger. Ein Name, der nach römischen Heerführern, Ruhm und Glorie klingt, hinter dem sich aber einer der dreckigsten Lügner und Aufschneider aller Zeiten verbirgt.«