|208|DISKURS XXX
Darin einige geschickt gestellte Fragen die Hoffnung, Philos Ptetès aufspüren zu können, wieder entfachen.
»Warum um alles in der Welt steht das Tor zur Festung offen? Wer kommt hierher, um nach den Hühnern zu sehen?« Diesmal versuchte es Hardouin, indem er die zuvor von Guyetus vergeblich gestellten Fragen in liebenswürdigem Ton wiederholte.
»Um die Hühner kümmere ich mich, sonst würden sie sterben. Das Tor zur Torre Vecchia steht immer offen«, antwortete die Frau.
»Wenn ihr auf der Insel keine ständige Garnison habt, warum überlässt der Großherzog dann eine so große Festung dem Ersten, der des Wegs kommt?«
»Wenn die Soldaten des Großherzogs auf die Insel kommen, besetzen sie die Festung nicht«, lautete die Antwort. »Sie verstecken sich in einem fast unsichtbaren Häuschen in den Wäldern. Nur wenn es unbedingt nötig ist, gehen sie in die Burg. Ihre Hauptsorge ist nicht, Nusquama zu schützen, sondern sich selbst, damit sie nicht umgebracht werden. Sie haben Angst, den Korsaren in die Hände zu fallen und kämpfen zu müssen. Außerdem wissen alle, dass die Barbaresken, wenn sie wollen, sogar auf dem Festland weit in das Großherzogtum oder bis nach Ligurien vordringen, um zu rauben, zu verwüsten und sogar die Soldaten zu metzeln.«
Kemal und Mustafa verzogen keine Miene, doch der kleinere von beiden nestelte aus Verlegenheit unaufhörlich an einem Zipfel des weißen Schals, den er um den Hals trug.
»Hört mich an, Signora«, fragte Hardouin wieder, »dies ist eine wichtige Frage: Wann fährt ein Schiff hier vorbei? Gibt es eine regelmäßige Verbindung mit dem Festland?«
»Das weiß ich nicht, ich verlasse die Insel nie. Danach müsst Ihr in der Stadt fragen, dort werden sie Euch alles sagen können. Doch ich bitte Euch, sprechen wir nicht mehr davon, der Gedanke an die Verbannung, die man mir auferlegt hat, schmerzt mich noch immer sehr.« Ihr Blick verlor sich im Leeren, ihre Lippen zitterten.
Vorerst war es angeraten, sie nicht weiter zu bedrängen, die Sache war zu wichtig. Vielleicht konnte man sie später überraschend nach dem Schiff fragen.
|209|»Ein letzte Frage, liebes Mädchen«, bat ich. »Wir suchen einen gewissen Philos Ptetès.«
»Aber gewiss!«, brach es aus der jungen Frau heraus, die sichtlich froh über den Wechsel des Themas war. »Ich weiß genau, von wem Ihr sprecht.«
Einige aus unserem Grüppchen konnten einen fast hysterischen Freudenschrei nicht ganz unterdrücken. Man musste das Eisen schmieden, solange es heiß war, darum fragte ich weiter:
»Vielleicht hat er es Euch gesagt, er ist ein Mönch aus Slawonien. Habt Ihr ihn zufällig mit Taschen voller Papiere gesehen?«
»Ein Mönch, jaja, ich weiß«, bestätigte die junge Frau eifrig, »und diesen Papierkram hat er immer bei sich, er denkt an nichts anderes. Aber warum fragt Ihr nach ihm?«
»Seid unbesorgt, das sage ich Euch zu gegebener Zeit. Er ist vor langer Zeit hier in … in Nusquama gelandet. Was wisst Ihr über ihn?«
»Ein sehr eigenartiger Mensch! Immer kramt er mürrisch in diesen Blättern, erst liest er laut, dann fängt er an, stundenlang darauf herumzukritzeln und merkt nicht einmal, ob es regnet oder die Sonne scheint. Er richtet nie das Wort an mich, auch dann nicht, wenn ich ihn als Erste grüße. Mir scheint, ihm liegen nur zwei Dinge am Herzen: seine Tasche voller Papiere und sein Kruzifix. Er schwenkt es immer vor sich her, wenn er geht, als wollte er damit Fliegen vertreiben. Gerade gestern habe ich ihn oben im Wald gesehen, er saß unter einem Baum. Oder war das vor zwei Tagen? Jedenfalls habe ich keine Ahnung, wo er jetzt sein könnte. Er hat nämlich nicht so ein schönes Haus wie ich, sondern schläft mal hier, mal dort, glaube ich. Ich aber habe mein Hüttchen, ich bin kein Vagabund, und außerdem lese ich jede Woche ein Buch von denen, die ich hier in Nusquama gefunden habe.«
»Wo können wir ihn finden?«, fragte Hardouin, während Guyetus mit Handbewegungen den hocherregt zappelnden Naudé zu besänftigen versuchte.
»Das ist schwer zu erklären. Sicher geht er auch in die Stadt. Ich sehe ihn manchmal in dieser Gegend, mitunter aber auch an der Punta oder auf der Piana dei Morti.«
Die Punta, erklärte sie, sei der höchste Berg der Insel, und die Piana dei Morti ein alter, verlassener Friedhof. Leider weigerte die Frau sich, uns die Lage ihres Hüttchens, wie sie es nannte, zu verraten.
»Ich muss jetzt gehen«, verkündete sie kurz angebunden.
|210|»Und die Hühner? Seid Ihr nicht ihretwegen gekommen?«
»Das ist unwichtig. Ich habe noch viel mehr Hühner in meinem Hüttchen«, antwortete sie, aber es schien, dass sie sich vor allem jeder weiteren Diskussion entziehen wollte.
Das befremdliche Gespräch hinterließ bei uns allen einen bitteren Nachgeschmack des Zweifels. Wenn das Mädchen die Wahrheit über die Anwesenheit von Philos Ptetès auf der Insel gesagt hatte, wie es schien, war es dann möglich, dass alles andere gelogen war? Sie mochte vielleicht übertrieben haben, ganz sicher sogar, aber wenn es am anderen Ende der Insel wirklich eine Stadt oder wenigstens ein Dorf gab, würde es uns ein Leichtes sein, dort Nachrichten sowohl über Philos Ptetès zu erhalten als auch über einen Weg, aufs Festland zurückzukehren.
»Nicht so geheimnisvoll, Frau«, beharrte Guyetus ein wenig zu barsch. »Hilf uns, diesen Mann zu finden! Hat er dir je seinen Namen genannt?«
»O nein, mit mir hat er nie gesprochen. Nur mit einem anderen Bürger, der verbannt ist wie ich.«
»Und wo ist dieser Bürger?«, fragten wir im Chor.
»Er ist tot.«
Sie verabschiedete sich eilig, ohne auf Guyetus einzugehen, der sie erneut bat, uns bei der Suche nach Philos Ptetès zu helfen.
»Wartet, Signora!«, versuchte Hardouin sie aufzuhalten. »Ich bitte Euch, zeigt uns genau, welchen Weg wir nehmen müssen, um in die Stadt zu kommen.«
»Ihr verlasst die Torre Vecchia, schlagt den Weg vor Euch ein und geht direkt hinunter zur Stadt. Ihr könnt sie gar nicht verfehlen.«