|355|DISKURS XLVIII

Darin drei Bewohner der Insel die ganze Gruppe noch mehr verwirren.

Einer der ersten beiden hatte gesprochen. Er klopfte sich die dürren Zweige und trockenen Blätter von den Schultern, die sich während des Marsches durch das Unterholz auf ihn gelegt hatten.

»Mein Freund hat recht«, erklärte der zweite, dem eine große Ledertasche um die Schulter hing, prall gefüllt mit irgendwelchen landwirtschaftlichen Werkzeugen.

»Wer seid ihr?«, fragte Kemal argwöhnisch und erhob sich, bereit, im Falle böser Überraschungen sofort loszuschlagen.

»Wir sind nur drei ehrbare Männer, Signore, Bewohner dieser Insel, ergebenst zu Euren Diensten.«

»Der letzte Dienst, den man uns hier auf Gorgona erweisen wollte, war ein großer Braten«, brummte Schoppe.

»Ein Braten? Ach, jetzt verstehe ich. Ihr meint den Brand des Hauses von Nummer Drei! Wären wir Euch früher begegnet, hätten wir Euch vor dieser Irren gewarnt. Jetzt ist sie in den Flammen gestorben, aber sicher hat sie ihre wahnhaften Ideen auch bei Euch verbreitet, das macht sie bei allen Besuchern dieser Insel«, sagte der erste, während seine Gefährten hinter ihm eifrig nickten.

»Woher wisst Ihr, dass das Mädchen tot ist?«, fragte der Korsar, wieder misstrauisch geworden.

Die drei Inselbewohner hatten den Brand des Häuschens, bei dem auch wir fast gestorben wären, bereits bemerkt. Sie setzen sich zu uns ans Feuer, und wir erzählten ihnen, was in der gestrigen Nacht geschehen war: unsere erzwungene Rast im Haus von Nummer Drei, der nächtliche Überfall und sein tragischer Ausgang.

»Was wisst Ihr von dieser Unglücklichen?«, fragte Malagigi.

»In den schlichtesten Worten gesagt, zu denen menschlicher Ausdruck fähig ist«, hub der Erste an, »sie war völlig verrückt. Allen erzählte sie, dass sie ein Gesetz übertreten habe, das die Besuche zwischen den Bürgern regelt, und dass sie von einem grausamen, unbarmherzigen Richter verbannt worden sei.«

»Sie hat gesagt, wir befänden uns auf der Insel Nusquama«, erzählte Naudé, der unterdessen, vielleicht dank der neu erwachten Hoffnung, den ersehnten Philos Ptetès alsbald aufzustöbern, zu bester körperlicher |356|Verfassung und vollständiger Geistesgegenwart zurückgefunden zu haben schien.

»Oh! Habt ihr das gehört? Sie hat sich schon wieder etwas Neues ausgedacht«, lachte der zweite, an seine Kameraden gewandt, dann sagte er zu uns: »Jedes Mal erfindet sie einen neuen Namen, aber die Geschichte ist immer dieselbe. Ehrenwerte Fremde, wir müssen uns im Namen der ganzen Insel entschuldigen. Jetzt, wo Nummer Drei tot ist, können wir endlich …«

»Hieß sie denn wirklich so?«, fragte Caspar Schoppe.

»Natürlich nicht!«, erwiderte der zweite freundlich lachend, »den Namen hatte sich das Mädchen selbst gegeben, niemand von uns hier auf der Insel wusste, wie sie wirklich hieß. Nummer Drei kam aus der Umgebung von Livorno, wo sie durch eine Erbstreitigkeit, bei der ihre engsten Verwandten sie betrogen haben sollen, ins Elend stürzte. Wir haben versucht, mehr aus ihr herauszubekommen, aber sie wollte nie darüber sprechen. Sie war wie viele, die ihre Phantasien besser ausschmücken können als ein Dichter, die aber, wenn sie über sich selbst sprechen müssen, stumm sind wie die Fische.«

»Einen Augenblick«, warf Schoppe wieder ein, »wollt Ihr damit sagen, dass alles, was uns dieses arme Mädchen erzählt hat, Gott sei ihrer Seele gnädig, nur Einbildung war?«

»Ich weiß nicht, was Nummer Drei euch im Einzelnen erzählt hat, aber ich kann es mir vorstellen!«, rief der Erste herzhaft lachend aus. »Ihre Phantasie kannte jedenfalls keine Grenzen. Es machte ihr Spaß, Namen zu ändern, um Fremde zu verwirren. Alles schmückte sie mit unwahrscheinlichen Details aus, verdrehte, verschwieg Tatsachen. Das Talent der Verrückten besteht darin, von einer wahren Grundlage auszugehen, um dann ein ganzes Lügengebäude darauf zu errichten. Seid unbesorgt, wir sind auf Gorgona, nicht auf Nusquama! Der Unterschied zwischen den Wahnideen von Nummer Drei und der Wirklichkeit ist der, dass es bei uns in der Stadt keine grausamen Richter gibt, die Bürger verbannen, und ebenso wenig jene ungerechten, absurden Gesetze, von denen diese arme Irre immer sprach.«

»Sehr gut, dann können wir ja hingehen, ohne Angst haben zu müssen«, sagte Pasqualini.

»Wohin denn?«, fragten die drei.

»In die Stadt natürlich, wohin sonst?«

»In die Stadt?«, wiederholten die ersten beiden, die der Sprache |357|mächtig waren, während der Krüppel stumm blieb und nur die Augen vor Verwunderung aufriss. »Dann wisst Ihr also nichts?«

Sie erklärten uns, dass das leider verstorbene Mädchen uns geradewegs in den Tod geschickt hatte. Die Straße, die bei der Torre Vecchia begann, führte zwar in die Stadt, war aber im Moment völlig unbegehbar, wie das Mädchen sicher gewusst hatte. Nicht nur wegen der dichten Vegetation, denn selbst wenn wir die von umgestürzten Bäumen versperrte Wegstrecke überwunden hätten, an der unser Marsch in die Stadt gestern gescheitert war, wären wir früher oder später auf eine Reihe von Schluchten mit steilen Abgründen gestoßen, die wir zu dieser Jahreszeit niemals, es sei denn unter Lebensgefahr, hätten durchqueren können.

»Nach dem ersten, ebenen Stück Weg«, erklärte der Erste, »setzt sich die Straße in einer Reihe von Serpentinen fort, die in den Fels und die bloße Erde gegraben sind, weshalb niemand auf die Idee käme, zu dieser Jahreszeit dort entlangzugehen. Wenn in diesen Kurven ein Felsen oder ein Stück Boden abrutscht, kann man erfasst und zerquetscht werden. Das ist schon mehrmals geschehen, wie alle in der Stadt wissen. Kommt man jedoch von oben, von der Torre Vecchia, gewinnt man nicht die geringste Vorstellung davon, wie unsicher der Pfad ist, auf den man seine Füße setzt. Signori, glaubt mir, Ihr seid einer großen Gefahr entronnen! Die Serpentinen auf dieser Insel werden die Todeskurven genannt oder auch einfach Die Kurven.«

»Wann können wir dann in die Stadt gelangen?«

»Oh, sicherlich nicht bevor der Boden getrocknet ist, in ein paar Tagen also. Vorausgesetzt, es regnet nicht wieder.«

»Und wie bleibt Ihr in Kontakt mit der Stadt?«, fragte Guyetus.

»Kontakt im Winter?«, entgegnete der Zweite, die Augenbrauen hebend, als habe er einen Fluch vernommen. »Gott bewahre uns davor. Wir haben alles, was wir brauchen, unsere Tiere, Früchte, Mehl …«

»Tiere?«, fragte Mustafa, ein gieriges Flackern im Blick.

»Natürlich, Hühner, Kaninchen …«, antworteten die beiden, während Kemal seinem Gefährten heimlich einen sehr schmerzhaften Stoß in die Rippen versetzte und ihm eine entsetzliche Morddrohung zuflüsterte, um ihm seine Plünderungsvorhaben auszureden.

»… während in der Stadt fast immer Hunger herrscht, wegen der Preise der Waren, die uns der Großherzog mit Schiffen schickt«, |358|schlossen unsere Gäste, von denen immer nur die ersten beiden zu sprechen schienen.

»Wann kommen die Schiffe denn vorbei?«, fragte ich.

»In dieser Jahreszeit ist das schwer zu sagen, kein Kapitän riskiert gerne einen Überfall der Piraten«, sagte der Zweite, wobei er einen skeptischen Blick auf unsere beiden Korsaren und ihre türkische Bekleidung, einschließlich des ungewöhnlichen weißen Schals von Mustafa, warf. Er musste jedoch bemerkt haben, dass die beiden groben Gesellen sich bestens mit uns zu verstehen schienen, ja, dass Kemal sogar Italienisch wie jeder ehrbare Untertan sprach.

»Was können wir dann tun, um von hier wegzukommen? Wir haben bei einem Überfall von Barbaresken Schiffbruch erlitten und müssen unsere Reise nach Frankreich fortsetzen«, fragte Schoppe ungeduldig. Wie wir alle vermied er die kleinste Anspielung auf unsere gescheiterte Rettung durch die Livorneser Schebecke.

Schoppe berichtete kurz von dem Unglück, das uns auf diese Insel verschlagen hatte, verschwieg jedoch den Grund, warum sich zwei Individuen unter uns befanden, die Korsaren sehr ähnlich sahen.

»Ihr Armen, welch unglückliches Geschick habt Ihr erlitten!«, bemerkten die beiden in bedauerndem Tonfall, während der Hinkende mit ernster Miene nickte. »Ihr habt keine andere Wahl, als abzuwarten, bis der Regen aufhört und euch dann in die Stadt zu begeben, bis ein Schiff vorbeikommt, das zum Festland fährt. Wir bedauern, dass wir Euch nicht sofort gastfreundlich aufnehmen können, unser Häuschen ist sehr weit entfernt.«

»Das macht nichts, wir können zur Torre Vecchia zurückkehren, wo wir sogar zu essen gefunden haben«, sagte Naudé in enttäuschtem Ton.

»Die Torre Vecchia? Ausgezeichnet!«, rief der Erste hocherfreut. »Brüder, wir begleiten Euch gerne!«

»Wartet. Warum habt Ihr ›Brüder‹ gesagt? Seid Ihr etwa Mönche?«, fragte Naudé, dessen Augen in der Hoffnung glänzten, doch noch eine Spur von Philos Ptetès gefunden zu haben.

»Oh nein, entschuldigt, das ist nur Gewohnheit«, rechtfertigte er sich ein wenig verlegen. »Unten in der Stadt nennen sich alle Sohn oder Tochter, Bruder oder Schwester, je nach dem Altersunterschied. Das findet Ihr seltsam, nicht wahr? Bei uns ist es aber so Brauch. Bei einem Altersunterschied von über fünfzehn Jahren ist man Sohn und |359|Vater oder Tochter und Mutter, sonst Brüder oder Schwestern. Ich weiß, es ist wunderlich, anfangs ist es einem peinlich, doch am Ende erweist es sich als sehr bequem. Die Stadt ist nicht groß, und alles funktioniert anders als in Florenz, welches ihr sicherlich sehr gut kennt.«

Das Mysterium der Zeit
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