|319|NOTIZ
Darin man erfährt, dass im Mittelmeerraum die Geschäfte der europäischen Reiche von den Barbaresken und die Geschäfte der Barbaresken von den europäischen Reichen geführt werden.
Seit Jahrhunderten schon ist das Mittelmeer, das wir wie unsere römischen Ahnen noch immer stolz Mare Nostrum nennen, in zwei Teile geteilt, den östlichen Teil, den die ungläubigen, mörderischen Türken dem Christentum entrissen, und den westlichen Teil, der sich bis zum katholischen Spanien und davor noch bis zum Frankenreich erstreckte. Zwischen diesen beiden Feuern üben andere alte Mächte Einfluss aus, ruhmreiche Mächte, die mit den übermächtigen Flotten Frankreichs, Spaniens und des Osmanischen Reiches jedoch kaum mehr wetteifern können: die Republik Venedig, das Großherzogtum Toskana, das Papstreich und die Republik Genua.
Wie alle wissen, eroberten die Türken schon vor fast zweihundert Jahren Konstantinopel, es war das blutige Ende des Oströmischen Reiches. Kurz zuvor hatten sie die Balkanländer, Rumelien, die Walachei und davor Griechenland unter ihre Kontrolle gebracht. In den folgenden Jahrhunderten setzten sie ihren Vormarsch fort, besetzten Syrien und das Heilige Land, und 1517, nach ihrem Sieg über die schiitischen Perser, eroberten sie Ägypten.
Am anderen Ende Europas behauptete sich das spanische Königreich als mächtiges Bollwerk der gesamten Christenheit, denn mit dem Sieg bei Granada 1492 waren die Mauren von der Halbinsel vertrieben worden. Spanische Heere hatten sodann die Meerenge von Gibraltar überquert und im Lauf der Zeit wichtige Brückenköpfe in Nordafrika aufgebaut, wie Orano, Melilla und die Festung Velez.
Damit sahen die drei kleinen Stadtherrschaften Tripolis, Tunis und Algier sich zwischen dem Osmanischen und dem spanischen Reich eingezwängt. Es waren grobe Gemeinwesen, auf Raub, Mord und Diktatur gegründet. Sie baten den osmanischen Sultan um Hilfe, dessen Oberherrschaft sie zum Dank anerkannten. Nur Marokko schuf sich ein eigenes Heer und blieb vom Sultan unabhängig. Unterdessen konnte sich Venedig dem osmanischen Vormarsch mühsam entgegenstemmen, indem es durch diplomatisches Geschick und verlustreiche |320|Kriege seine Besitztümer in der Adria, im griechischen Meer und in Candia verteidigte.
Im Laufe weniger Jahrzehnte schworen viele tausend Christen ihrer Familie, Religion und Staatsbürgerschaft ab und gesellten sich zu den Korsaren. Manche waren einfache Matrosen, die in die Hände tunesischer oder algerischer Korsaren gefallen waren. Sie wurden wie Geiseln behandelt, aber in ihrer Heimat wollte oder konnte keiner Lösegeld bezahlen. Um der Sklaverei zu entgehen, konvertierten sie in einer eiligen Zeremonie zur Religion des Propheten und wurden freie Männer. Sie heirateten, häufig mehrere Frauen zugleich, gründeten Familien, bauten sich Häuser. Viele stiegen in der Marine der Barbareskenreiche rasch in hohe Ränge auf, wo List, Befähigung zum Kommando und Grausamkeit im Kampf benötigt und gut bezahlt wurden.
Aber auch ein gewaltiger Tross Hungerleider, Bettler und Nichtstuer machte sich nach Tunis, Tripolis und Algier auf. In der Heimat gab es keine Hoffnung für sie: arm waren sie und arm würden sie bleiben. Bei den Korsaren jedoch stehen alle Türen offen: Matrosen wie Kapitäne bekommen etwas von der Beute, jeder kann reich, mächtig und berühmt werden. Die Korsarenreiche wussten ihre Feinde geschickt zu kaufen: sie boten die Möglichkeit eines besseren Lebens, wo Frauen unterdrückt und Fremde nicht geächtet werden, wo es keinen Adel gibt, also auch der Arme bis zu den höchsten Stufen der Gesellschaft aufsteigen kann. Die Religion kennt nur wenige einfache Gebote, es gibt kein Fleischverbot am Freitag, und jedermann kann seine Abenteuerlust und seinen Groll gegen das alte Vaterland ausleben. Im Nu ist man in die schmutzigen Truppen der Barbareskenmarine aufgenommen, wo Tapferkeit, oder besser Gräueltaten mit klingender Münze bezahlt werden.
Bereitwillig verkaufen die Renegaten ihre Ortskenntnisse: sie kennen sichere Häfen, wo Proviant beschafft werden kann, sie wissen, an welcher Reede man für den Feind unsichtbar ist oder welches Küstenstädtchen leicht auszuplündern ist. Oft führen sie selbst die Überfälle auf ihre Heimatorte an, denn schlaue Kapitäne, wie der griechische Renegat Kair Eddin, der berühmte Barbarossa, versprechen ihnen Lehen in diesen Ländereien. Oft vermitteln sie zwischen den Korsaren und den Nazarenern, was ihnen Ansehen und weitere Erträge einbringt. Es ist die infame Rache des Armen am Reichen, des |321|Pechvogels am Glücklichen, des Neidischen am Bescheidenen: Der Teufel weiß genau, dass Neid das beste Mittel ist, Zwietracht und Unglück zu säen; es genügt, die Armen und Enterbten zu überzeugen, dass ihr Zustand nicht Gottes Wille, sondern eine Ungerechtigkeit ist, die mit Gewalt, Raub und Mord ausgerottet werden darf.
Die ganze Macht der Barbareskenreiche gründet sich auf die Piraterie oder vielmehr auf den Seekrieg, der nichts anderes ist als Piraterie im Namen eines Staates oder Königsreichs dank einer offiziellen Ermächtigung, dem sogenannten Kaperbrief. Mit blitzschnellen Aktionen werden Handelsschiffe verfolgt, beschossen und geentert. Ergibt die Mannschaft sich nicht sofort, wird sie mit erbarmungslosen Massenexekutionen bestraft. Manche, wie Kamal Rais, ertränkten jedoch die Matrosen aller eroberten Schiffe oder schickten dem Sultan bis zu hundert abgeschlagene, aufgespießte Köpfe. Alle Art Waren, Öl, Wein, Getreide, sogar Wäsche und die Schiffe selbst werden fortgeschleppt. Eine besonders begehrte Beute sind Menschen, für die Lösegeld erpresst werden kann. Wenn es wichtige Persönlichkeiten sind, lassen sich mit diesem Faustpfand politische Verhandlungen führen. So kann eine Bande Schurken wider alle menschliche Logik von gleich zu gleich mit dem Papst oder dem französischen König verhandeln.
Marineoffiziere, Geistliche, Adelige oder Botschafter sind die besten Beutestücke, denn für sie zahlt fast immer jemand. Dann kommen Händler oder Passagiere, die meist unter Verwandten und Landsleuten eine Kollekte für sich organisieren können. Wer nicht zahlen kann, bleibt für immer unter den Barbaresken und wird zum verachteten, unterernährten Sklaven für eine große Familie. Religiöse Bruderschaften sammeln Gelder, um die Armen freizukaufen, doch das ist mühsam und langwierig, und bis zur Befreiung können Jahre vergehen.
Diese menschliche Ware wird bei Überfällen auf Handelsschiffe oder sogar bei Siegen gegen spanische, venezianische, päpstliche Kriegsschiffe erbeutet. Noch größere Erträge bringen jedoch die Streifzüge an Land: ganze Flotten nähern sich den Küsten bei Nacht und überfallen Dörfer und Städte, um die Einwohner zu Hunderten zu deportieren. Hier wird besonders grausam gewütet: zum Beispiel überfallen die Korsaren dasselbe Dorf an zwei aufeinanderfolgenden Tagen, weil die Bewohner nach dem ersten Mal glauben, der Feind sei |322|abgezogen. Oder sie schneiden die Glockenstränge der Kirche durch, damit kein Alarm geläutet werden kann. Korsarennamen wie Christenschlächter sagen schon alles.
In Tunis, Tripolis oder Algier angekommen, werden die Gefangenen in die Zellen der Sklavenbäder geworfen, wo sie Hunger leiden und krank werden. Wer nicht losgekauft wird, dem bleibt nur die Konversion. Auch hier ist der Weg geebnet, die Sache so einfach, dass fast niemand der Versuchung widersteht. »Es gibt keinen anderen Gott als Allah, und Mohammed ist sein Prophet« – schon erledigt! Mit dem rechten Zeigefinger zum Zeichen des Schwurs auf den Himmel weisend, spricht man diese Formel vor dem eigenen Herrn und wenigen Zeugen.
Nun beginnt ein neues, aufregendes Leben, wo Meere und Küsten eine Ernte bieten, die nicht einmal ausgesät werden muss, wo schändliche Lust am Brandschatzen, Plündern und Morden öffentlich gelobt und wie Tugenden belohnt wird.
Ganze Heerscharen von Christen erliegen dieser Versuchung. In Algier leben mehr Renegaten als ursprüngliche Einwohner. In den befehlshabenden Rängen finden sich fast nur Italiener, sie sind gerissener als alle anderen. Wie der große Occhialì aus Kalabrien, wie der Sizilianer Vincenzo Cicala, wie der Venezianer Mohammed di Chio, Gatte der Tochter von Ramadan, des Pascha von Tripolis. Mit einem Komplott stürzte er seinen Schwiegervater, übernahm die Macht, verhandelte als Ebenbürtiger mit den Nachbarregionen, tauschte mit ihnen Kamele, Eunuchen, Sklaven und Mädchen. Er unterdrückte Verschwörungen, ermordete Rivalen, zwang einen Augustinerpater zur Konversion und ließ ihn von anderen Renegaten lynchen, als er sein Wort zurücknahm. Dann aber bereute er und erlaubte sogar Franziskanerpatern, in seinem Reich zu missionieren. Erst als man seinen zwölfjährigen Sohn vergiftete, wurde er schwermütig und brachte sich um.
Nur sehr wenige haben sich einen Rest Ehrgefühl bewahrt, wie der englische Pirat Digby, ein katholischer Baronet. Während seiner Überfälle in Griechenland ging er auf die Suche nach antiken Statuen, und als er ein wehrloses Schiff mit einer vollkommen betrunkenen Mannschaft hätte entern können, ließ er es ziehen.

|323|»Viele wechseln zur Gegenseite über, weil sie schon in zartem Alter dazu gezwungen werden«, wandte Hardouin ein.
Der bretonische Buchhändler berichtete, dass für das Janitscharenkorps, das tapferste und gefürchtetste im Heer des Sultans, jedes Jahr viele tausend christliche Kinder in den Balkanländern entführt werden. Sie werden ihren Familien entrissen und zunächst feige in einer Art verwässertem Christentum mitsamt vorgetäuschter Beichte und Kommunion erzogen, damit sie ihren ursprünglichen Glauben nicht zu sehr vermissen. Doch dann geht man nach und nach zu den Vorschriften Mohammeds über, damit diese Menschen jedes Jahr höhere Aufgaben im Osmanischen Reich übernehmen, sich bereichern, Macht und Zufriedenheit erwerben können, bis sie zuletzt ihre Ursprünge vergessen und zu Mördern ihrer einstigen Landsleute werden, ja, selbst Kinder entführen.
»Das ist wahr«, sagte der Korsar. »Denn die Janitscharen sind keine Verräter. Aber bei den Nazarenern habe ich Brudermörder gesehen. Ich habe mit Überlebenden aus Ceriale in Ligurien gesprochen. Vor vielen Jahren wurden die Familien dieses Ortes nachts von einem seit Jahren verschwundenen einstigen Nachbarn überrascht, der mit vier oder fünf bewaffneten Barbaresken in ihre Häuser eindrang. Er legte seine Spielkameraden, seinen Lehrer und seinen Pfarrer von einst in Ketten, zündete ihre Häuser an und verschleppte sie nach Tunis oder Algier, um sie als Sklaven zu verkaufen.«