|196|DISKURS XXVII

Darin Jagd auf einen Bewohner der Torre Vecchia gemacht und dieser am Ende ergriffen wird.

Alle verstummten und erstarrten, als stünden sie urplötzlich in beißender Kälte.

Ein Rascheln, ein Trappeln oder vielleicht ein Scharren war vernehmlich von draußen auf dem kleinen Platz an unsere Ohren gedrungen. Die beiden Korsaren fuhren unwillkürlich mit der Hand zu den Dolchen, die sie unsichtbar, aber stets griffbereit zwischen Hemd und Gürtel zu tragen pflegen, erinnerten sich dann aber mit Bedauern, dass wir sie ihnen auf dem Boot abgenommen hatten.

»Und die Pistole?«, fragte Naudé.

»Nicht geladen, kein Schießpulver mehr«, antwortete ich.

Einige Minuten vergingen, auf dem Platz war es wieder ruhig. Dann erneut dieses Rascheln und wieder Stille.

»Wer ist da?«, schrie Kemal.

Niemand antwortete. Man hörte jedoch abermals jenes Scharren wie das Geräusch leiser Schritte, die sich entfernten und dann wieder innehielten.

»Gehen wir«, sagte Malagigi, die Hand auf den Griff des Messers gelegt, und machte der Gruppe ein Zeichen mit dem Kopf in Richtung auf den kleinen Platz vor dem Keller.

Zu fünft oder sechst traten wir über die Schwelle des Lagerraums, stiegen die Treppe hinauf und kehrten an die Oberfläche zurück. Der Platz lag so still und leer da, wie wir ihn vorgefunden hatten. Wir ließen unsere Blicke schweifen. Nichts. Die beiden Korsaren überprüften den gesamten Weg, der aus der Festung herausführte und kehrten ohne Ergebnis zurück. Auch auf dem Platz vor dem Eingang zur Torre Vecchia sei keine Menschenseele, sagten sie. Das geheimnisvolle Individuum musste sich demnach noch innerhalb der Mauern der Festung befinden. Hatten wir es vielleicht im Turm überrascht, und jetzt wusste es nicht, wie es sich verdrücken oder gegen uns wehren sollte? Es ist immer besser, Jäger zu sein als Gejagter und auf das Zuschlagen des Feindes warten zu müssen. Wir beschlossen also, uns über die Burg zu verteilen und dem Unbekannten nachzustellen. Eine schwierige Aufgabe, denn die Festung war mit ihrer bizarren, unregelmäßigen |197|Form, ihren engen Innenhöfen und den vielen winzigen, hintereinander gebauten oder wie kleine Höhlen an den zinnenbewehrten Turm geklammerten Behausungen in ihrer Gänze nahezu unmöglich zu überblicken.

Kam man aus dem Kirchlein und den Räumen des Kaplans, sah man sich zur Linken einem Abschnitt der gewaltigen Umfriedungsmauer und zur Rechten dem Turm gegenüber. Der Turm hatte drei Räume im Erdgeschoss, weitere drei im oberen Stockwerk und ebenso viele im Dachgeschoss. Alle Räume waren von der Soldateska des Großherzogs gründlich leergeräumt worden und enthielten außer ein paar alten Möbelstücken nichts Interessantes. Im dritten und letzten Stockwerk erwartete uns die erste Überraschung: Noch immer aufs Meer zielend, standen hier zwei alte Bombarden. Nach Meinung der Barbaresken waren sie noch voll funktionstüchtig. Von dem Individuum ohne Gesicht aber keine Spur.

Wir setzten die Erkundung fort, indem wir auf den Platz zurückkehrten. Von hier aus gelangte man rechts vom Turm in einen weiteren kleinen Hof, doch der Weg dorthin führte durch einen so engen Gang, dass ein Mann mittlerer Größe darin nur mühsam vorankam. Auf diesem nicht überdachten Platz, den wir den Kleinen Platz tauften, befand sich ein Ofen zum Brotbacken. Über dem Eingang zu einem kleinen Gelass stand MUNITIONI geschrieben – er war offenbar als Vorratsraum für Schießpulver benutzt worden. An seiner linken Wand öffnete sich eine Tür zu einem weiteren, langgestreckten offenen Hof, auf dem sich ein zweiter Brunnen befand. Die Wasserquellen von Gorgona schienen üppig zu sprudeln. Rechts führte ein Treppchen in einen großen, überdachten Lagerraum, an dessen Rückwand wir zwei Reihen hölzerner Bottiche erblickten, darunter einige mit Wein gefüllte. Wir hatten also noch mehr Weinvorräte, doch in diesem Moment waren alle Gedanken auf das unsichtbare Individuum gerichtet, das wir jagten. Hinter dem Weinkeller am anderen Ende des Hofes befand sich eine kleine Kasematte, in die man über eine Treppe gelangte. Durch ein auf den Vorplatz vor der Festung blickendes Fenster konnte man im Falle eines feindlichen Überfalls von hier aus den Eingang beschießen. Jetzt befanden wir uns an einer Stelle, die dem Eingang genau gegenüberlag. Die Inspektion war beendet.

»Nichts. Hier ist niemand außer uns«, erklärte Naudé.

|198|»Das bedeutet, dass unser Freund fortgeflogen ist«, scherzte Malagigi.

»Keiner fliegt, wir haben uns einfach getäuscht«, erwiderte Barbello.

»Alle acht? Dieses Geräusch von Schritten auf dem Platz habt ihr auch gehört«, wandte Hardouin ein.

In der Ungewissheit und da die Angst nunmehr verflogen war, löste die Gruppe sich auf. Nur du und ich blieben in Gesellschaft von Malagigi zurück, während die anderen zum Vorratsraum zurückkehrten, wie wir den Keller, wo wir die Lebensmittel gefunden hatten, bereits nannten.

Wir betrachteten das Panorama ringsum. Der Felsen, auf dem sich die Torre Vecchia erhob, war nicht der höchste Gipfel der Insel. Ein Berg weiter südlich war deutlich höher. Von dort oben hatte man wahrscheinlich eine vollständigere Übersicht über die Insel.

»Wir sollten später versuchen, dort oben hinaufzukommen«, sagtest du, auf den Gipfel zeigend.

»Sehr richtig«, stimmte Malagigi zu, »und dann müssten wir … einen Moment!«

Wir sahen ihn fragend an, er hielt schnuppernd die Nase in die Luft, als folgte er einem Geruch.

»Das ist wirklich sonderbar, das riecht fast wie …«

Das Blut gefror uns in den Adern, denn in diesem Moment hörte man wieder das Geräusch. Der Eindringling war mitten unter uns.

»Da bist du!«, schrie Malagigi und hob die Arme, bereit, ihn zu packen, doch das Wesen ließ sich nicht täuschen und suchte mit einem flinken Sprung das Weite, sodass Malagigi, der ohnehin so lachen musste, dass er fast strauchelte, die Verfolgung aufgab.

Hüpfend und flügelschlagend kehrte das große Huhn eilig in den Hühnerhof zurück, dessen Geruch der Wind uns vor kurzem zugetragen hatte. Der Ausflug, bei dem das Federvieh unsere ganze Gruppe durch sein etwas zu lautes Scharren auf dem Platz in Panik versetzt hatte, war beendet.

Das Mysterium der Zeit
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