|145|DISKURS XIX

Darin man sich im Rudern erprobt und alsbald von einer Geschichte abgelenkt wird.

Die vier Ruderer mühten sich tapfer, doch um das Boot stabiler im Wasser zu halten, mussten wir anderen uns hinlegen oder uns wenigstens auf die Bänke kauern. Innerhalb weniger Minuten ließen die Müdesten sich vom regelmäßigen Eintauchen der Ruder in den Schlaf wiegen. Auch du warst entschlummert und neben dir Barbello. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass Naudé, der noch hellwach schien, seinen schweren, prall gefüllten Ledersack geöffnet hatte und darin wühlte. Ich hob die Augen, und er sah, dass auch ich wach war.

»Ich bin zu Tode erschöpft«, sagte er, »doch ich kann nicht schlafen, bevor ich mich nicht vergewissert habe, dass Kardinal Mazarins Bibel unversehrt ist.«

»Ich verstehe Euch, Monsire Naudé, auch ich habe nur wie durch ein Wunder die Aufzeichnungen für den Großherzog der Toskana gerettet. Wer hätte diese Katastrophe vorhersehen können? Pasqualini war klüger, er hat nicht mal einen roten Heller Bargeld mitgenommen, er kam aus Rom nur mit den Wechselbriefen an, die ihm der Kardinal geschickt hatte.«

»Rom! Ach, was gäbe ich nicht dafür, wenn ich es nie verlassen hätte«, seufzte Naudé.

Darauf erzählte ich ihm, dass ich vor dreizehn Jahren einen Franzosen wie ihn kennengelernt hatte, einen gewissen Jean-Jacques Bouchard, der im Dienst der Kardinäle Antonio und Francesco Barberini stand, den Neffen Papst Urbans VIII., der unserem derzeitigen Papst Innozenz X. Pamphili vorausgegangen war.

»Er kam auf der Durchreise gen Rom nach Florenz und trieb ein ähnliches Gewerbe wie Ihr, Monsire Naudé, er suchte Bücher und Handschriften für die Bibliothek seines Padrone, in seinem Fall Kardinal Barberini.«

Bouchard war in die Toskana gekommen, um den großen Galileo Galilei zu besuchen, so wie auch Naudé ihn in Padua besucht hatte. Nachdem Galileo vom Papst wegen seiner Ideen über die Bewegung der Himmelskörper verurteilt worden war, hatte er seine Haftstrafe im eigenen Haus verbüßen dürfen. In der Toskana genoss der angesehene |146|Wissenschaftler den besonderen Schutz des Großherzogs, der ihn sogar persönlich aufsuchte. Der wahre Grund für Bouchards Reise war freilich ein anderer: er suchte einen Kopisten, der einen alten griechischen Kodex mit Schriften eines sehr geheimnisvollen Autors, eines gewissen Georgios Synkellos, entziffern konnte. Der Text war in einer sehr komplizierten Minuskel geschrieben, die sogar er selbst kaum lesen konnte, und Bouchard wollte ihn in einer modernen Ausgabe veröffentlichen lassen. Das Großherzogtum der Toskana war für die unübertreffliche Geschicklichkeit seiner Kopisten berühmt, wie Naudé wusste. Doch Bouchard hatte sich nicht, wie Naudé, an die offiziellen Kopisten des Großherzogs gewandt, sondern einen privaten Skribenten aufgesucht, wahrscheinlich weil die Expansionsbestrebungen der Barberini, seiner Herren, den Medici ein Dorn im Auge waren und er deshalb nicht in den Genuss jener Gunstbeweise gekommen wäre, die Mazarin und der Regentin Anna von Österreich, überdies eine Cousine des Großherzogs, gewährt wurden.

Der junge Franzose war zufrieden nach Rom zurückgekehrt. In der Toskana hatte er den Mann gefunden, den er brauchte, und ihm nicht nur die Entschlüsselung des Kodex von Synkellos, sondern auch das getreue Kopieren vieler anderer Schriften anvertraut.

»Ich kannte Bouchard auch.«

»Das dachte ich mir, Monsire Naudé. Beide Franzosen, um dieselbe Zeit in Rom …«

»Ihr habt recht. Unmöglich, sich unter Landsleuten nicht kennenzulernen und miteinander Umgang zu pflegen«, antwortete er und kramte wieder in seinem Sack. »All jene Franzosen, die zwischen Frankreich und Italien hin- und herfuhren: Bourdelot, Quillet, Montereul, Saint-Amant …«

Der Bibliothekar Seiner Eminenz verstummte. War er in ernste Überlegungen versunken, die er mir nicht offenbaren konnte? Vielleicht wagte ich mich zu weit vor, Naudé war ein enger Mitarbeiter des wichtigsten Staatsmanns von Frankreich, und nur die ungewöhnlichen Begebenheiten dieser Stunden zwangen ihn zu einer gewissen Vertraulichkeit mit mir, dem bescheidenen Secretarius.

»Apropos, erzählt mir doch bitte von der Gutenbergbibel für den Kardinal«, sagte ich, in der Hoffnung, ein Wechsel des Themas würde ihm gefallen.

Er öffnete den Sack und befühlte seinen Inhalt.

|147|»Unversehrt, dem Himmel sei Dank«, seufzte er erleichtert. »Seit zwei Jahren wird mein ganzes Tun und Denken, jedes Wort, das ich spreche, jede Träne, jedes Lachen, jeder Bissen, den ich esse, sogar jeder Atemzug während des Schlafes, alles, mein ganzer Geist und Körper, von einem einzigen Wunsch durchdrungen: für Seine Eminenz Kardinal Mazarin die größte Bibliothek der Welt zu erschaffen.« Er wurde lebhafter, der Jagdinstinkt des fanatischen Bücherliebhabers kam hervor. »Es ist gleichgültig, wie viel ich reisen muss und dass ich meine Jugend und meine Kräfte aufzehre, um diese Aufgabe zu erfüllen. Trotze ich nicht sogar zusammen mit Euch den Folgen eines Überfalls durch Korsaren? Im Sommer vor zwei Jahren war ich in der Picardie, dann in Flandern. In den folgenden Monaten in Italien: Rom, Florenz, Ferrara, Mantua, Venedig und das geliebte Padua. Auf der Rückreise nach Frankreich bin ich kreuz und quer durch die Schweiz und das Veltlin gereist. In diesem Jahr habe ich Genf, Basel und Philippsbourg in Lothringen durchkämmt. Im nächsten Jahr sind die Niederlande und England an der Reihe, wenn die Kriege es erlauben. Jedes Mal kehre ich beladen wie ein Esel nach Paris zurück, mit hunderten äußerst kostbarer Ausgaben und Handschriften von größter Seltenheit. Wenn meine Arbeit beendet sein wird, das schwöre ich, wird die Bibliothek Seiner Eminenz die Ambrosiana in Mailand, die Angelica in Rom und die Bodleiana in Oxford übertreffen. Sie wird die Ideale Bibliothek sein.«

Naudé machte eine kleine Pause und sah sich um, als wollte er kontrollieren, ob jemand ihn belauschte. Doch ihr schlieft alle, während Hardouin und Malagigi mit den beiden Barbaresken am Ruder schwitzten.

»Wir werden diese Insel Gorgona niemals finden«, schnaubte Malagigi, missmutig den Horizont absuchend.

»Es gibt keine Insel, die nicht gefunden werden kann«, entgegnete der Statthalter von Ali Rais verächtlich.

»Willst du uns auf den Arm nehmen?«, fragte Hardouin.

»Ihr wisst nicht, was ihr sagt«, erwiderte der Barbareske zwischen zwei Ruderschlägen. »Es hat Männer wie Murad Rais gegeben, ein holländischer calvinistischer Hund aus Haarlem, der in Wirklichkeit Jan Jansz hieß, aber eine ganze Sammlung an falschen Namen hatte und sich zum Beispiel auch John Barber oder Caid Morato nannte. Er ist im vergangenen Jahr gestorben, und sein Leben war eines Korsaren würdig. Er war ein elender Renegat wie ich, seine Schiffe lagen bei Salé |148|vor Gibraltar. In Holland hatte er Frau und Kinder, aber auch in Algier. Als ein dänischer Sklave ihm erzählte, er sei einmal auf einer Insel irgendwo im Nordmeer gewesen, wo es kalt und fast immer dunkel sei, hat er gleich gesagt, gut, fahren wir hin, und er hat sie gefunden. Diese Insel war Island. Dort hat Murad Rais sich einen Hafen ausgesucht, den Angriff befohlen und vierhundert Sklaven, Häute und Trockenfisch erbeutet. Außerdem hat er zwei Schiffe erobert und alles nach Salé, in seine Heimat, gebracht. Ein anderes Mal hat er seine Männer, Marokkaner, Janitscharen, alles Menschen mit einer Haut so schwarz wie Leder, in die eiskalten Gewässer in der Bucht von Baltimore in Irland springen lassen. Er hat ihnen befohlen, nachts anzugreifen, und seine Männer haben sich auf Baltimore gestürzt wie die Bestien, bewaffnet mit Krummsäbeln, Fackeln und Brechstangen. Nachdem sie alles verwüstet und verbrannt hatten, hat Murad Rais über dreihundert Sklaven heil und gesund bis nach Algier gebracht. Und du willst mir sagen, wir können nicht bis nach Gorgona kommen, das man von der Küste aus mit bloßem Auge sieht? Hahaha!«

Das hässliche Lachen des Korsaren hallte unheimlich über die Schlucht aus Wasser und Dunkelheit, die uns einzusaugen schien. Trotz seiner Erzählung hatte Kemal keine Sekunde lang den Rhythmus seiner regelmäßigen Ruderschläge unterbrochen. Malagigi dagegen stöhnte immer noch zwischen zwei Ruderschlägen auf.

»Und du, junger Singvogel«, sagte der Korsar zu Malagigi, »wenn du dich weniger anstrengen willst, halte das Ruder in größerem Abstand zur Dolle fest. Siehst du, wie ich es mache? Richtig, brav, mach so weiter. Und danke dem Himmel, dass auf diesem Boot nicht der berühmte Murad Rais das Kommando führt. Wenn die Galeeren der Cavalieri von Malta ihn verfolgten und er seine Rudersklaven antreiben wollte, schnitt er einem von ihnen den Arm ab und schwenkte den blutenden Stumpf durch die Luft, um den Rhythmus vorzugeben: eins, zwei, eins, zwei … Hahaha! Und du, Buchhändler, wie steht es mit dir?«

»Dieses Boot scheint aus Blei zu sein«, war Hardouins Antwort.

»Ihr kommt mir vor wie die Ruderer von Bostan Rais«, erwiderte der Barbareske. »Die beklagten sich auch immer: Warum ist dieses Schiff bloß so schwer? Dann ging jemand im Laderaum nachsehen und fand ihn bis oben hin gefüllt mit abgeschnittenen Nazarenerköpfen! Hahaha!«

|149|»Du scheinst eine ganze Menge Geschichten über deine Korsarenkumpane zu kennen«, sagte Malagigi angeekelt und neugierig zugleich.

»Klar doch. Das ist wichtig«, antwortete Kemal, der wieder ernst geworden war. »Sie dienen der Rudermannschaft zur Belehrung und Inspiration. Aber noch wichtiger ist das Vorbild. Und niemand ist ein besseres Vorbild als Ali Rais. Er ist ein Vorbild für alle. Das zeigt die Geschichte seines Lebens, die ist so außergewöhnlich, dass niemand es mit ihm aufnehmen kann. Und wenn ihr sie nicht wenigstens einmal vernehmt, wird euer Leben nicht vollständig sein, wie es sich gehört.«

Das Mysterium der Zeit
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