Ulrichs Stimme weckt mich, er steht in der Küche und sagt: »Darf es noch etwas Cava sein. Oder lieber Sekt? Ich glaube, wir haben sogar noch eine Flasche Champagner irgendwo. Das ist der Vorteil eines großen Kühlraums.« Dann lacht er etwas zu laut.

Als ich in die Küche komme, tut er so, als ob er eine Flasche in der Hand halten würde.

»Alles wird gut«, sagt er.

Die Ränder unter seinen Augen sind dunkler geworden, er sieht aus, als würde er sich schminken. Mehrmals pro Nacht wecken mich seine Schritte, vom Schlafzimmer in die Küche und wieder zurück.

Heute fragt Ulrich nicht, ob ich Hunger habe, wir fahren direkt zur Galerie. »Alles wird gut«, sagt er immer wieder.

Er scheuert den Boden, wie gestern schon, aber er ist noch nicht zufrieden. Alles soll glänzen. Er richtet die Bilder, obwohl sie überhaupt nicht schief hängen. Ein Stück nach links, ein Stück nach rechts. Ulrich hält eine Wasserwaage in der Hand.

»Glaubst du, es wird jemand kommen? Schließlich ist heute Silvester.«

»Natürlich kommt jemand. Alle wollen sagen: ›Ich war der Erste, ich habe die Bilder zuerst gesehen.‹ Sie wollen ein Teil der Geschichte sein. Wie damals, als Kennedy erschossen wurde und alle zusahen.«

Er zündet sich eine Zigarette an und hält die Hand unter die Glut, um nicht auf den Boden zu aschen.

»Ich hoffe, es wird jemand kommen. Und selbst wenn nicht … Wenn du einen Berg besteigst, ist es ja auch nicht so wichtig, wer dir dabei zusieht.« Er klingt, als wolle er sich selbst überzeugen.

Zuerst warte ich auf den Bus, aber ich habe viel Zeit und beschließe, zu Fuß zu gehen.

Ich trage einen schwarzen Anzug, den ich in einem türkischen Laden in der Nähe der Wohnung gekauft habe. Er hat weniger als eine gute Jeans gekostet. Darunter trage ich ein weißes Hemd, darüber den Wintermantel. Meine neuen Lederschuhe knarren.

Es ist ein klarer Tag, leichter Frost liegt in der Luft. Ich rieche Rauch und höre Knaller, die Kinder als Vorboten anzünden.

Mona wartet unter der Markise eines Gemüsehändlers auf mich. Sie trägt ein schwarzes Samtkleid und rote, hochhackige Schuhe. Sie nimmt meinen Arm. »Wenn ich falle, musst du mich halten.« Ein paar Straßen weiter gehen wir durch ein Tor in einen Hinterhof mit einer Fahrradwerkstatt.

Ich soll ihren Arm weiter festhalten, als wir die schmale Treppe hinaufgehen, sie vertraut den Absätzen nicht. Ihr Parfüm riecht nach Veilchen. Sie stößt mich mit dem Ellbogen und entschuldigt sich, sie streift mich mit einer Brust und entschuldigt sich nicht.

Mona klopft an eine Tür, von der grüne Farbe blättert. Eine schwarzhaarige Frau mit Schleifen im Haar öffnet.

»Hallo, Süße«, sagt sie und umarmt sie fest, dann erblickt sie mich. »Ist das der Maler, von dem du erzählt hast?« Sie küsst mich auf beide Wangen, dann wendet sie sich wieder Mona zu und macht ein ernstes Gesicht.

»Thomas ist da. Irgendeiner muss ihn eingeladen haben, ich kann ihn schlecht rauswerfen.« Mona nickt nur.

»Du bist aber schick«, sagt die Frau zu mir, und ich glaube, sie würde mir am liebsten in die Wange kneifen.

Als wir das Wohnzimmer betreten, verstehe ich, was sie meint. Während die Frauen Kleider tragen und schön geschminkt sind, tragen die meisten Männer Wollpullover, ausgeleierte Strickjacken und verwaschene Hemden.

Viele kommen zu uns, begrüßen Mona mit einem Kuss und mich mit einem Händedruck.

Die Wohnung ist ein Dachgeschoss mit schrägen Wänden, die freigelegten Bodendielen sind voller Farbkleckse. Ich versuche, die Farben zu identifizieren, aber Mona nimmt meinen Arm, und wir setzen uns an einen langen Tisch.

Wir essen kaltes Fleisch, Käse und ein paar warme Gerichte, die die Gäste mitgebracht haben. Es gibt keine Heizung in der Wohnung, erfahre ich von einer Frau. Sie hat eine große Lücke zwischen den Schneidezähnen und sagt, dass sie Gedichte schreibe. Keine, die veröffentlicht werden, denn sie schreibt sie auf die Rückseite von Postkarten und hinterlässt sie auf Parkbänken.

Neue Weinflaschen landen auf dem Tisch. Gegenüber von mir sitzt Thomas, ich bin mir sicher, dass er Monas Exfreund ist. Sie weicht seinem Blick aus, und je mehr er trinkt, desto intensiver starrt er sie an.

Er lächelt und füllt mein Glas, fragt, wie lange ich schon in Berlin sei und ob ich schon die schwarze Galerie gesehen habe. Ich sage Ja, und er lächelt noch breiter.

Er ist bei seinem sechsten Glas, ich bei meinem zweiten, als er fragt, ob ich glaube, dass ich eine Sonderbehandlung bekomme.

»Sonderbehandlung?«

»Ja, so etwas gibt es.«

Ich schaue ihn verständnislos an.

»Weil du Türke bist. Ich habe nichts gegen Türken, aber …«

»Ich habe nie behauptet, dass ich Türke sei.«

Er hält ein, viele Worte gehen ihm durch den Kopf. Er trinkt einen Schluck Rotwein und will noch mehr sagen, als jemand mit dem Messer gegen ein Weinglas klopft. Am Tischende ist ein Mann aufgestanden. Er trägt einen Gürtel. Sein helles Haar steht in die Höhe, als wäre er gerade in einen Sturm geraten.

»Du hast zu viel getrunken«, ruft einer. »Setz dich wieder.«

Der Mann bleibt stehen, klopft noch einmal gegen sein Glas und macht klar, dass er sich nicht setzen wird, bevor er reden darf.

»Ich hoffe, dass in ein paar Stunden alles zusammenbricht«, sagt er und zeigt uns zwei gekreuzte Finger. »Die können ihre Computer und Fernseher behalten, und ihre Mikrowellen und Handys.« Er stößt sein Weinglas um, ohne es zu bemerken, die Frau neben ihm wischt den Tisch mit Servietten sauber.

»Ich habe den Keller mit Konservendosen gefüllt.«

»Du lebst doch sowieso von Dosenfraß«, ruft ein Gast. »Setz dich jetzt, Hannes.«

Ich stehe auf dem Gang vor der Toilette, die Frau dort drinnen kotzt seit zehn Minuten. Ich spüre eine Hand auf meinem Arm. »Wir gehen jetzt«, sagt Mona.

Ich pisse in eine Toreinfahrt, und als ich aus dem Schatten trete, hat sie ein Taxi gefunden. Kein offizielles, sondern ein junger Mann in einem Honda Civic, sie diskutiert den Preis mit ihm. Die Hälfte, höre ich sie sagen. Er lässt den Motor aufheulen, und Mona bietet ein paar Mark mehr.

Eine armenische Flagge klebt an der Windschutzscheibe, auf dem Armaturenbrett steht eine Hula-Tänzerin, die mit der Hüfte wackelt, als er von der Bordsteinkante fährt. Mona sagt, sie wolle zum Brandenburger Tor.

»Wir kommen schon noch in die Galerie.« Sie legt die Hand auf mein Knie. »Aber wer will schon um Punkt zwölf dort sein, allein mit Ulrich? Das ist zu traurig.«

Das erste Stück des Weges haben wir für uns, dann fahren wir auf eine Hauptstraße, und der Verkehr wird immer dichter. Alle fahren in dieselbe Richtung. Nach zehn Minuten kommen wir nicht mehr weiter, Massen von Fußgängern haben die Straße eingenommen. Der Fahrer fährt zur Seite und macht den Motor aus. Mona fragt, wie viel er haben möchte, damit er hier wartet.

»Nichts«, sagt er. »Das will ich selbst sehen.«

Wir lassen uns in der Menschenmenge treiben, Mona hält meine Hand fest, damit wir nicht auseinandergerissen werden. Plötzlich bleiben alle stehen. Ich schaue hinauf, wir stehen direkt vor dem Brandenburger Tor, auf dem die Quadriga prangt. Wir sind umgeben von Großbildwänden. Nie habe ich so viele Menschen auf einmal gesehen. Der Countdown beginnt, mehrere Hunderttausend zählen im Chor.

Drei, zwei, eins, dann ein Brüllen, dass die Erde bebt.

Auf den Bildwänden blinkt die Zahl 2000.

Mona sagt etwas, aber ich kann sie nicht hören. Sie umarmt mich und küsst mich auf die Wange, während die Welt ringsum im Licht explodiert. Das Feuerwerk strahlt hell wie der Tag am Himmel und taucht die Gesichter rings um uns in rotes und grünes Licht.

Wir bleiben stehen, bis es in den Ohren pfeift und die Augen wehtun. Auf dem Rückweg finden wir den Taxifahrer wieder, er steht an einer Kreuzung und schreit unverständliche Worte in sein Handy, wahrscheinlich Frohes neues Jahr auf Armenisch.

Mona überzeugt ihn, dass wir besser fahren sollten, wenn er sein Auto heute Nacht noch benutzen wolle.

Kurz nach eins erreichen wir die Galerie, nachdem wir um zahllose zerbrochene Flaschen und auf der Straße liegende Menschen herumgekurvt sind.

Im Fenster hängt kein Plakat, nur eine Neonröhre erleuchtet die alte Metzgerei, aber die Tür ist offen.

»Er ist so verdammt stur«, sagt Mona. »Ich glaube, er hat nicht einmal annonciert.«

Wir stehen vor den Schwingtüren und sehen einander in die Augen, dann stoße ich sie auf.

Ulrich wartet drinnen.

»Ich dachte schon, ihr würdet nicht kommen«, sagt er, aber er lächelt breit, die Galerie ist nicht leer. Fünf oder sechs Besucher stehen im ersten Raum, aus den anderen Räumen dringen Stimmen. Ulrich drückt uns je einen Katalog und ein Glas Champagner in die Hand. Wir trinken es aus und gehen in den Kühlraum, wo Mona die beste Flasche aussucht. Wir tragen sie mit uns herum und tun, als wären wir Besucher, fragen: »Ist das Karminrot?«, oder kommentieren: »Wie gut, dass es noch Künstler gibt, die Ölgemälde machen.«

Mona füllt unsere Gläser. »Ich habe gehört, dass er mit den Füßen malt. Er hat beide Arme auf einem Jahrmarkt verloren.«

Im Lauf der nächsten Stunde kommen noch mehr Besucher, Ulrich begrüßt sie mit Handschlag und verteilt Kataloge.

Mona und ich versuchen zunächst, ein Taxi zu bekommen, aber es ist unmöglich, und wir gehen zu Fuß nach Kreuzberg.

Wir treffen ihre Freunde im Wongs, einem ehemaligen Chinarestaurant, das heute ein Nachtclub ist. Nichts ist verändert, die goldenen Drachen hängen noch immer an den roten Wänden, nur ein paar Tische wurden entfernt, um Platz für die Tanzfläche zu schaffen. Mona meint, wir sollten Cocktails in allen Farben probieren, aber vor allem hellrote, schließlich sei Neujahr.

Wir sitzen an einem der Tische. Nach ein paar Runden darf ich auch spendieren. Ich bestelle Cocktails für den ganzen Tisch. Die ganze Zeit bin ich mit dem umgetauschten Geld in der Tasche herumgelaufen und konnte es nicht ausgeben.

Allmählich höre ich auf, »der Junge« zu sein. Der Junge, den Mona mitgebracht hat. Ihre Freunde betrachten mich noch immer als sonderbar, aber inzwischen bin ich eher eine Kuriosität als ein Halbwüchsiger auf Schulausflug. Viele haben von meiner Ausstellung gehört und versprechen, in den nächsten Tagen vorbeizukommen. Mona lehnt sich an mich. »Wenn sie erst deine Bilder gesehen haben, werden sie sagen: ›Wir haben mit ihm Neujahr gefeiert!‹« Sie leert ihr Glas. »Wir wollen noch mehr Hellrote.«

Wir trinken, bis der DJ nur noch langsame Lieder spielt und die Paare auf der Tanzfläche nicht mehr die Füße bewegen. Manche liegen auf den Sitzbänken.

Die Sonne geht auf, als wir aus der Bar kommen.

»Mein Sofa ist mindestens so gut wie Ulrichs«, sagt Mona. Wir stützen einander, sie wohnt ganz in der Nähe.

Wir betreten ihre Wohnung, und plötzlich spüre ich, wie müde ich bin, nicht nur von heute Nacht und der letzten Woche. Ich suche das Sofa, sehe aber nur ein paar Sitzkissen um einen kleinen, lackierten Tisch.

»Ich habe gelogen«, sagt Mona. »Ich habe kein Sofa.«

Sie zieht das Kleid über den Kopf. Ihr Mund schmeckt nach Champagner, hellroten Cocktails und Zigaretten.

Ihr Körper ist warm, weder Knie noch Ellbogen kommen in die Quere. Jetzt weiß ich, dass ich mich geirrt habe. Die Muttermale in ihrem Gesicht setzen sich über ihre Brust fort. Sie sind keine Karte von Mikronesien, sondern ein Sternenatlas. Ich erkenne den Großen und den Kleinen Bären.

Eingewickelt in Decken und Laken, schlafen wir ein.

Ich weiß nicht, wie lange ich geschlafen habe, bis die Träume kommen.

Ich bin zu ermattet, um mich selbst aus dem Schlaf zu reißen.

In meinem Traum stehe ich am Ufer und betrachte die zwei Gestalten im See. Ein Junge und ein Mann. Der Junge beugt sich über den Mann, hält ihn unter Wasser. Ich sehe die Krämpfe, die den Mann schütteln. Den Körper, der kämpft, um wieder hochzukommen, um zu atmen. Dann das Akzeptieren. Selbst vom Ufer aus sehe ich die Augen meines Vaters. Der Mann schaut zu dem Jungen auf. Durch das grüne Wasser hindurch sehe ich die Ruhe in seinem Gesicht und das sanfte Lächeln.

Dann lässt der Junge den Mann los. Die Gestalt bleibt unter der Wasseroberfläche, schwebt weg, auf die Mitte des Sees zu. Der Junge watet zurück ans Ufer, grüne Wasserpflanzen hängen an seinen Kleidern, wollen ihn nicht loslassen, bis er sie abreißt. Der Junge findet eine Tasche, die am Waldrand unter Zweigen versteckt ist. Seine Bewegungen sind steif und mechanisch. Er zieht sich aus, seine Haut leuchtet im Dunkeln. Dann holt er trockene Kleidung aus der Tasche und zieht sie an. Die nassen Sachen steckt er in Plastiktüten, nimmt die Tasche und geht. Ich sehe seine Augen, sie sind längst nicht so ruhig wie die des Mannes.

Ich erwache mit dem Geschmack von eiskaltem Wasser im Mund. Ich drücke den Kopf ins Kissen, schreie auf. Meine Tränen durchnässen den Stoff.

Dann spüre ich Monas Arme. Sie hält mich fest, ihr Mund ist dicht an meinem Ohr. »Alles wird gut«, flüstert sie. »Alles ist in Ordnung.« Ich schluchze, und sie drückt mich fest an sich, schlägt die Arme um meinen Nacken und die Beine um meinen Rücken. Ich bleibe eine Weile still liegen. Als ich wieder reden kann, sage ich, dass ich ihr bald eine sehr lange Geschichte erzählen möchte. Ein Märchen. Sie streicht mir über die Haare. Morgen holen wir meine Sachen bei Ulrich.

Als der Schlaf wiederkommt, ist er dunkel, aber nicht schwarz.

Wie keiner sonst / ebook
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