Wir gehen von Zimmer zu Zimmer. Mein Vater füllt Plastiktüten mit den Sachen der alten Dame. Er nimmt ein Buch aus dem Regal, dahinter liegt ein Bündel Banknoten. Er öffnet den Kleiderschrank im Schlafzimmer der alten Dame, holt einen breitkrempigen Hut heraus und leert ihn. Goldschmuck fällt in die Tüte. Im Wohnzimmer nimmt er die Porzellanfiguren von der Fensterbank. Drei Hunde, die mit einem Ball spielen, ein kleines Hirtenmädchen. Er packt sie in Handtücher. Er hängt ein Bild von der Wand ab, ein Ölgemälde im Goldrahmen. Er liest auf der Rückseite der Leinwand, sieht mich an und stellt sie auf den Boden. Dann setzt er sich neben mich aufs Sofa und nimmt meine Hand.

»Du darfst nicht denken, dass wir sie ausrauben.« Meine Wangen sind feucht.

»Wer ein Haus wie dieses hat, mit solch einem Garten, ja, und ein solches Auto … Allein die Bücher in den Regalen. Wer so viel besitzt, hat auch eine große Familie. Selbst wenn er sie nie sieht.« Ich kann nicht aufhören zu heulen, er drückt mich fest an sich. Ich versuche, die alte Dame nicht anzusehen.

»Nach spätestens zwei Tagen, hat sie gesagt, würden sie die Bretter auf der Terrasse abreißen, auf der Suche nach dem großen Kreuz auf der Schatzkarte. Sie wollte, dass wir so viel mitnehmen, wie wir können.«

Mein Vater hält meinen Kopf zwischen den Händen, sieht mir in die Augen. »Du hast sie so glücklich gemacht«, sagt er. »Du hast sie unglaublich glücklich gemacht.«

Wir gehen durchs ganze Haus, als hätten wir einen langen Einkaufszettel. Meine Augen wollen nicht trocknen, ich wische die Tränen mit dem Ärmel ab. Noch nie wollte ich so gern an einem Ort bleiben. Wir könnten alle Uhren kaputt schlagen. Und alle Spiegel, damit die alte Dame sich nie selbst sehen müsste. Wir könnten hierbleiben, bis meine Haare so lang wie die meines Vaters sind und mir ein Bart wächst. Wir würden mit dem schwarzen Auto zum Einkaufen fahren, aber nie eine Zeitung lesen. Niemand würde uns je hier finden. Es ist der erste Ort, an dem ich nicht ein Mal von den Albträumen meines Vaters geweckt wurde.

Der Motor brummt, der Kofferraum ist vollgestopft mit unseren Sachen, sowohl den alten als auch den neuen.

Wieder sind wir in der Stadt. Sie ist groß und laut wie beim ersten Mal. Mein Vater parkt das Auto unter einem Schild mit leuchtend roten Buchstaben. Das Hotel ist eingeklemmt zwischen einer Bar mit dunklen Fenstern und einem Haus, von dem Vater sagt, es sei ein Stripclub. Er trägt die Koffer zur Rezeption und schlägt auf die Klingel. Wir warten lange, ich betrachte den Teppich, dessen Muster unter etlichen Schichten Schmutz begraben ist.

Jetzt sitze ich auf dem Bett. Ich bin allein. Mein Vater ist zurückgefahren, um das Auto in die Garage zu stellen. Es wird viele Stunden dauern, bis er mit dem Lastenfahrrad wiederkommt. Der Koffer liegt ungeöffnet neben mir. Ich horche auf die Geräusche von der Straße und aus den anderen Zimmern. Neue Geräusche. Unser neues Heim.

Mein Vater isst einen großen Bissen von seinem Brötchen, trinkt einen Schluck Kaffee und steht auf.

»Soll ich dir was mitbringen?« Ich schüttle den Kopf. Er geht an dem Tisch mit den zwei jungen Mädchen vorbei, die beide aussehen, als hätten sie gerade geweint. Mein Vater füllt seine Tasse aus der Thermoskanne auf dem Büfett.

Als wir in den Speisesaal kamen, dachte ich, ich sei in Hundescheiße getreten, aber bald ging mir auf, dass es der Teppich war, der nach alten Handtüchern, nassen Hunden und Zigaretten roch. Mein Vater belädt einen neuen Teller mit Brötchen, Käse und Marmelade. Ich versuche, nur auf unseren Tisch zu schauen. Am Nachbartisch sitzt ein Mann mit einer fetten Silberkette um den Hals. Er hat Zeichnungen auf den Fingern. Sein Haar ist schwarz und kurz geschoren. Mein Vater meint, er sei wohl aus Bulgarien oder Rumänien. Er spielt mit einer Schachtel Streichhölzer und legt Muster auf den Tisch. Formt einen Stern. Wenn er alle verbraucht hat, sammelt er sie wieder ein und legt ein neues Muster. Als er mich ansieht, gucke ich schnell auf meinen Teller.

Mein Vater setzt sich mir gegenüber. Er hat einen Schluck Kaffee auf die Untertasse geschlabbert. »Was den Menschen von anderen Arten unterscheidet«, sagt er und wischt die Untertasse mit einer Serviette ab, »ist seine Anpassungsfähigkeit.«

Ich folge seinem Blick bis zu dem Mann in der Ecke. Er trägt Anzug und Schlips. Auf dem Stuhl neben ihm liegt eine braune Ledermappe. Sein glattes Haar ist links gescheitelt, am Kinn hat er einen kleinen Schnitt, wahrscheinlich vom Rasieren. Der Mann liest Zeitung, summt leise vor sich hin und isst Brötchen.

Mein Vater reicht mir zwei Zuckerwürfel, die ich lutschen darf.

Wie keiner sonst / ebook
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