Die Frau vor mir trägt kleine Perlenohrringe.
Früher muss sie viel mehr getragen haben, ihr linkes Ohrläppchen ist ganz durchlöchert.
»Fragen Sie ruhig«, sagt sie. Wir sitzen in ihrem Büro, auf dem Tisch zwischen uns liegen Stapel von medizinischen Büchern. Das kleine Namensschild neben dem Telefon weist sie als Oberärztin aus.
»Ich werde versuchen, es zu erklären, wenn etwas unklar sein sollte.«
»Wie groß ist die Chance, dass mein Vater je wieder entlassen wird?«
Sie mustert mich ausgiebig. Schiebt eine blonde Haarsträhne hinters Ohr.
»Ich kann sagen, dass es ihm besser geht. Aber ich will Ihnen keine falsche Hoffnung machen. Es geht ihm besser als vor drei Jahren. Viel besser als vor fünf Jahren …«
»Wird er je entlassen werden?«
Sie blinzelt. »Ich möchte rauchen«, sagt sie.
Ich folge ihr in ein Gemeinschaftszimmer. Sie schließt eine Glastür auf, und wir betreten einen engen Hof, der auf allen Seiten von Mauern umgeben ist. Eine kleine Birke steht in einem Topf.
Sie schüttelt eine lange Mentholzigarette aus dem Päckchen, ich reiche ihr mein Feuerzeug.
»Es gibt keine Chance, dass er je entlassen wird. Das dürfte ich nicht sagen. Wir sollen den Patienten und Angehörigen immer Hoffnung lassen, das gehört zu unserer Arbeit. Hoffnung kann genauso wichtig wie Medizin sein.«
Sie brennt ein Loch in ein Birkenblatt.
»Ich könnte ihn gut darauf einstellen. Aber es würde nie geschehen. Irgendein hohes Tier würde seine Akte auf den Tisch bekommen, und eine rote Lampe würde aufleuchten.«
Sie schnipst die Asche in den Blumentopf.
»Ich möchte gern mit ihm rausgehen, einen Spaziergang machen.«
»Sie können immer in den Hof mit ihm.«
»Dann ziehe ich die Bibliothek vor.«
Sie nickt.
Ich muss die Papiere in mehrfacher Ausfertigung ausfüllen und unterschreiben, dass ich die Verantwortung für meinen Vater übernehme.
Aus der Küche bekommen wir altes Brot für die Vögel mit.
Ein Pfleger schließt uns auf. Mein Vater macht die ersten, tastenden Schritte, der Kies knirscht unter seinen Füßen.
Er dreht sich um und schaut zu den dunklen Fenstern hinauf.
»Glaubst du, sie beobachten uns?«, frage ich.
»Natürlich.«
Wir gehen über den Rasen. Wir dürfen nicht bis zur Straße, dürfen das Klinikgelände nicht verlassen.
Wir setzen uns auf eine Bank und sehen die Autos auf der Straße vorbeifahren.
Ich gebe ihm die Colaflasche. An der Bushaltestelle habe ich sie mit Bier gefüllt.
Er schaut wieder über die Schulter, dann setzt er die Flasche an. Den ersten Schluck trinkt er gierig. Den zweiten behält er lange im Mund, ehe er schluckt. Den dritten spuckt er aus.
»Ich weiß genau, was sie mir geben.« Er dreht die Flasche in den Händen.
»Wenn ich eine neue Medizin bekomme, schlage ich immer in der Bibliothek nach. Wenn ich noch mehr trinke, schwillt mein Kopf an, und meine Augen werden trocken und tun weh.«
Ich öffne die Brottüte und gebe ihm ein trockenes Mohnbrötchen.
»Es gibt eine Methode, um den Weißen Männern zu entkommen«, sagt mein Vater und bricht ein Stück ab. »Eine Tür in der Wand, die man nur sieht, wenn man sie sehen will. Wenn es keinen anderen Ausweg mehr gibt, hat man immer noch diese Tür.«
Er knabbert neugierig an dem Brötchen, bevor er die Vögel damit füttert, die sich um uns versammelt haben.
»Der Körper ist ja nicht so viel wert, er ist nur ein Kasten. Oder ein Käfig.«
Mein Vater lächelt und zeigt auf eine Möwe, die sich mit einem viel zu großen Stück Brot abmüht.
Dann wird er still und kratzt sich am Kopf, ein Krümel bleibt in seinen Haarstoppeln hängen. Ich bürste ihn weg.
»Ihre Wände, ihre verschlossenen Türen und ihre Zwangsjacken halten dich fest, damit du nicht abhaust. Damit du immer dort bist, wo sie dich haben wollen. Abteilung R, Flur 7, Zimmer 314. Und während sie deinen Körper mit Riemen festspannen, hält die Medizin deine Gedanken fest. Du siehst nichts anderes als deine Hände und die Wand.«
Wir schütteln das letzte Brot aus der Tüte, unsere zwölf Minuten sind vorbei.
»Ich habe es versucht«, sagt er, als wir über den Rasen zurückgehen. »Gott weiß, wie sehr ich es versucht habe. Aber ich habe keine Kraft mehr.«
Wir warten vor dem Eingang. Wie ein Schatten erscheint der Wächter hinter den Glastüren, mein Vater redet so leise, dass der Wind ihn fast übertönt.
»Du musst mir helfen, die Tür in der Wand zu finden«, sagt er. Dann lässt uns der Pfleger hinein.