Der Pfarrer ist jung. Er steht auf der Kanzel und schaut in sein Konzept. Er legt seine Hände aufs Pult, damit niemand sieht, wie sie zittern.
Er kam verspätet an, legte eine Vollbremsung ein und rutschte über den Schotter. Nun schaut er von seinen Papieren auf und blickt über die Versammlung von Fischern. Große Männer mit großen Händen, die auf den Bänken hin und her rutschen, dass das Holz knirscht. Keiner hört ihm zu, was er erst nach der Hälfte seiner Rede bemerkt. Er hält ein, sein Blick sucht die Familie, die gekommen sein muss, um seine Worte zu hören. Wir sitzen in der ersten Reihe. Meine Großmutter hat die Hände gefaltet und schaut auf den Boden. Auch ich schaue weg, will ihm nicht helfen. Plötzlich ist er nicht mehr von seinen Worten überzeugt. Er erzählt von einem Pastor, der sein gesamtes Leben auf der Insel zugebracht hat. Der nie wegging, weil er wusste, wie wichtig es ist, dass die Menschen dort, wo sie leben, an Gottes Gnade teilhaben können. Vielleicht sei dies eine größere Herausforderung, als Gottes Worte nach Afrika zu tragen, denn auch auf einer kleinen dänischen Insel dürfe man diese nie vergessen.
Der Pfarrer blickt starr in sein Konzept, bis er den letzten Punkt erreicht. Dann packt er rasch zusammen.
Meine Großmutter und ich gehen voran, dann kommen meine Tante und ihre Kinder.
Hinter uns folgen die Frauen, eine kleine Gruppe mit bleichen Gesichtern und Fingern ohne Nägel. Sie tragen Schüsseln und Tabletts. Als Letztes kommen die Männer, die Fischer, schweren Schrittes, eine kleine Armee ohne Gleichschritt, auf dem Rückweg von einer verlorenen Schlacht.
Der Pfarrhof ist leer geräumt, wie für einen Kindergeburtstag. Die Sessel im Wohnzimmer sind durch Klappstühle ersetzt worden. Die Anrichte hat einen Kratzer an der Tapete hinterlassen, der Esstisch ist mit Wachstüchern gedeckt. Hier stellen die Frauen ihr Geschirr ab und decken Torten, kalten Braten, Frikadellen und gesalzenen Fisch auf.
Die Männer laufen zaghaft durch das Zimmer, in abgewetzten Anzügen mit Flicken am Ellbogen und alten Schuhen, die vor Schuhcreme glänzen. Ihr Dialekt ist so breit, dass ich kein Wort verstehe. Sie essen von Papptellern und leeren Bierflaschen in einem Zug.
Meine Tante stellt sich so dicht neben mich, dass ich ihre Brust auf meinem Arm spüre. Sie flüstert mir ins Ohr: »Die Männer auf dieser Insel sind Tiere. Das hat mein Vater immer gesagt. Er war ihr Hirte und hat es buchstäblich gemeint, wenn er sie Tiere nannte.«
Die Frauen treten eine nach der anderen vor meine Großmutter, nehmen ihre Hand und sagen ein paar tröstende Worte. Danach kommen die Männer, sie stehen mit hängenden Köpfen da, als wären sie Kinder, die etwas angestellt haben.
Nach wenigen Stunden ist das Büfett geplündert, und die Frauen räumen ab. Sie verabschieden sich von meiner Großmutter und verlassen den Hof.
Die Männer werden immer lauter. Die Dielen knarren unter ihren Füßen.
Meine Tante und Frederik stehen auf dem Korridor und streiten. Sie sagt, er und seine Schwester sollen auf ihre Zimmer gehen. Sofort. Und sie dürfen nicht öffnen, wenn jemand an die Tür klopft. Frederik weigert sich. Er bleibt auf der Treppe stehen, und als er mich sieht, zeigt er auf mich und fragt mit weinerlicher Stimme, warum ich bleiben dürfe. Schließlich geht er widerwillig die Treppe hinauf, und seine Schwester folgt ihm.
»Ich habe dir nicht zu sagen, was du tun und lassen sollst. Aber sei vorsichtig. Sie sind noch nicht mal angetrunken.«
Die Männer breiten sich vom Esszimmer, wo die Klappstühle unter ihrem Gewicht wackeln, in die Küche aus. Dort sitzen sie und trinken Schnaps aus Tassen und Wassergläsern. Der Tisch steht voll mit Flaschen ohne Banderole aus Polen und Deutschland.
Wenn meine Großmutter in der Tür erscheint, senken sie rasch die Stimmen. Nachdem sie ins Bett gegangen ist, gehört das Haus ihnen.
Ich schaue vom Korridor in die Küche, wo meine Tante die Männer bedient. Sie leert Aschenbecher und räumt ausgetrunkene Flaschen weg, sie lächelt und weicht den Händen aus, die nach ihr greifen. Sie trinkt mit den Männern, und als kein Weißwein mehr da ist, füllt sie ihr Glas mit Schnaps oder Bier. Dann setzt sie sich auf den Schoß eines Fischers und kichert, als wäre sie jünger als ihre Tochter. Als der Mann den Arm um sie legen will, springt sie auf, streicht ihm über die Wange und verschwindet aus seiner Reichweite.
Zwei Männer stehen vom Tisch auf und gehen nach draußen. Zehn Minuten später kommen sie wieder, der eine blutet an der Lippe, der andere hat eine geschwollene Augenbraue. In der Küche bekommen sie mehr Schnaps und Bier.
Meine Tante kommt aus der Küche. Ich verstecke mich am dunklen Ende des Korridors und versperre ihr den Weg.
Sie versucht vorbeizukommen, aber ich lasse sie nicht. Ein kleiner Tanz, hin und her, sie grinst. Die Männer in der Küche haben begonnen zu singen, es klingt hässlich und gewaltsam.
»Wofür wollte er Vergebung?«, frage ich. »Mein Großvater bat mich um Vergebung, bevor er starb. Was sollte ich ihm vergeben?«
»Die Männer warten nur auf einen Grund, sich zu prügeln. Wenn ich sie rufe, kommen sie sofort.«
»Setz dich«, sage ich.
Ihre Hände sind zu Fäusten geballt, sie bleibt stehen und sieht mich an. Dann sinkt sie auf die Bank an der Wand. »Ich weiß es nicht«, sagt sie. »Ich weiß es wirklich nicht.«
Ich rühre mich nicht vom Fleck, blockiere weiter die Tür. Als meine Tante endlich weiterredet, ist ihr Inseldialekt viel stärker als vorher.
»Ich erinnere mich an den Sommer, als es anfing. Dein Vater war höchstens sechs oder sieben Jahre alt. Er hatte irgendwas angestellt … eine Scheibe zertrümmert oder so, da rief Vater ihn ins Büro.«
Sie weint lautlos.
»Manchmal habe ich deinen Großvater tagelang nicht gesehen. Ich war meistens in der Küche, er im Wohnzimmer oder im Büro.«
Mit abwesendem Blick starrt sie an die Wand.
»Ich weiß nicht, was er mit deinem Vater gemacht hat. Aber … es war jedenfalls nichts Gutes.«
Sie trocknet die Tränen mit dem Ärmel, wie ein Kind, das sich Rotze abwischt. Ihr Make-up verwischt bis zur Stirn hinauf.
»Ich weiß, was du denkst«, sagt sie. »Du denkst, dass er deinen Vater missbraucht hat. Aber ich weiß nicht, was er getan hat. Ich wäre damals nie auf die Möglichkeit gekommen, ich wusste ja nicht einmal, dass es so etwas gibt. Heute heißt es immer gleich ›Missbrauch‹. Als gäbe es keine anderen Methoden, Kinder zu misshandeln.«
Sie hält ein und schluchzt.
»Aber als dein Vater mit dir abgehauen ist, da wusste ich, dass es damit zusammenhing. Wahrscheinlich ist er deshalb auch krank geworden …«
Sie wartet, bis ihre Tränen getrocknet sind, dann steht sie auf und geht die Treppe hinauf in ihr Zimmer.
Ein Mann drückt mir ein Wasserglas in die Hand und füllt es mit Schnaps. Ich sitze auf der Treppe zur Küche. Die Männer heben ihre Gläser und prosten mir zu. Ich muss an die Tiersendungen denken, die ich mit Clara gesehen habe, an den Taucher im Stahlkäfig und die Haie, die in die Gitterstäbe bissen.
Die Männer trinken, grölen und singen.
In Gedanken zeichne ich sie. Ich zeichne einen Mann, der über dem Tisch hängt und versucht, sein Glas beim Einschenken zu treffen. Ich zeichne einen Mann, der die Flasche an den Mund setzt, Glas und Gesicht verschmelzen miteinander.