Wir sitzen in der Bibliothek, die alte Dame im Sessel, ich auf dem Stuhl neben der Tür.

»Wir haben eine Abmachung«, sagt sie, »und wenn wir noch viel länger warten, kann ich meinen Teil nicht mehr halten, fürchte ich.«

Sie trinkt einen kleinen Schluck Wasser, gerade genug, um die Lippen zu befeuchten.

»Heute will ich dir eine Geschichte erzählen, bevor sie verschwindet. Du kannst sie glauben oder nicht, das spielt keine Rolle.«

Sie sieht mich an, will sichergehen, dass ich zuhöre.

»Mein Vater war ein alter Mann, als er dieses Haus baute, nicht viel jünger als ich heute. Du brauchst gar nicht zu protestieren, ich weiß, dass ich alt bin. Wie Milch, die man im Kühlschrank vergessen hat. Saure, alte Milch. Aber diese Geschichte handelt nicht von mir.«

Sie lehnt sich zurück, legt die Hände in den Schoß.

»Mein Vater war gelernter Uhrmacher. Als er mit der Lehre fertig war, bestieg er noch am selben Tag ein Schiff nach Amerika. Viele wurden auf der Überfahrt krank, manche starben sogar. Als mein Vater an Land ging, war er ganz gelb. Dünn und gelb. Er zog durch alle Straßen, konnte aber keine Arbeit finden, und es ging ihm immer schlechter. Er war schon halbtot, als er auf einen Verkäufer von Smith & Wesson stieß.

Einen wie ihn könnten sie gebrauchen, sagte der Mann. Er bezahlte ihm sogar die Zugfahrkarte nach Massachusetts, wo die Fabrik lag, in der sie Schusswaffen herstellten. Schnell begriffen sie, wie geschickt mein Vater mit seinen Händen war. Als Uhrmacher war er es gewohnt, mit kleinen Metallteilen und einer Lupe vor den Augen umzugehen. Zehn Jahre lang arbeitete er für sie, bis er sein eigenes Gewehr entwickelte, die Johnson – so sprachen sie seinen Nachnamen dort aus. Sie war sehr teuer, schoss aber viel weiter und präziser als jedes andere Gewehr. Über dreißig Jahre lang stellte er sie her, zur Bisonjagd, wie es hieß. In Wirklichkeit schossen die Leute damit keine Bisons, sondern Indianer. Die Johnson hatte viel kleinere Kugeln als die meisten anderen Gewehre – schließlich war mein Vater Feinmechaniker. Einen Büffel konnten sie kaum töten, dafür aber einen Menschen glatt durchschlagen. Es war eine Flinte für die Menschenjagd geworden. Mein Vater wurde ein reicher Mann. Aber als er älter wurde, konnte er die Vorstellung nicht mehr ertragen, zu welchem Zweck man seine Gewehre benutzte. Sie waren einfach zu gut und präzise.«

Die alte Dame atmet mehrmals tief ein, schließt die Augen. Es ist dunkel geworden in der Bibliothek. Einen Moment lang glaube ich, sie sei eingeschlafen.

Ihre Stimme ist heiser, als sie weiterspricht und weitere Bruchstücke der Geschichte aus dem Gedächtnis holt.

»Mein Vater zog zuerst an die Ostküste, aber das war nicht weit genug weg. Jede Nacht hörte er die Seelen der Indianer im Wind. Also ging er zurück nach Dänemark und ließ dieses Haus im amerikanischen Stil bauen. Das Holz wurde aus Schweden eingeschifft. Nicht ein Nagel wurde ohne seine Aufsicht eingeschlagen. Ein paar Jahre später schwängerte er die Haushälterin, und ich kam zur Welt. Vielleicht war das auch ein Versuch, die Geister zu verwirren.«

Sie sieht mir direkt in die Augen. »Das hört sich vielleicht seltsam an, aber genau das wollte mein Vater: die Geister verwirren. Die Geister der Indianer. Er wollte sie in den türlosen Zimmern einsperren. Deshalb ist das Haus so gebaut. Es ist eine alte Tradition aus der Zeit, als wir noch sehen konnten, was wir nicht verstehen. Dein Vater weiß, wovon ich rede. Dein Vater ist ein kluger Mann, vergiss das nie. Egal, was die Leute sagen. Ich habe eine ganze Schublade voller Artikel, die er geschrieben hat. Er hat nicht immer Hecken geschnitten. Aber das ist eine andere Geschichte, sie gehört deinem Vater und dir. Jetzt weißt du fast alles über mein Haus.«

Wie keiner sonst / ebook
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