Ich zeichne einen Drachen. Zuerst übe ich auf dem Block, dann zeichne ich ihn auf ein Stück Pappe, das wir aus einer Kiste vom Supermarkt ausgeschnitten haben. Der Drache hat Schlangenaugen, die Brauen zeigen nach unten wie ein V, er ist wütend. Die Zunge ist gespalten, und die Zähne sind sehr scharf.

Ich male den Hals aus. Grün und Blau. Der Drache soll aussehen, als würde er in einem See oder einem Moor wohnen. Er ist gerade aus dem Wasser gestiegen, weil er Hunger hat und Beute riecht.

Seit ich aufgestanden bin, habe ich an dem Drachen gearbeitet. Ich habe keinen Ton von draußen gehört, nicht einmal das Ticken der Uhr im Zimmer. Habe nur daran gedacht, den Drachen so gefährlich wie möglich zu machen. Aber er ist ganz ausdruckslos geworden. Der Kopf ist größer als der Körper. Die Klauen sehen klein und lächerlich aus. Die Sonne steht hoch am Himmel, und ich weiß, dass der Junge im Hof auf mich wartet. Ich will ihn nicht wiedersehen, das habe ich beschlossen. Ich male den Schwanz des Drachens aus. Vielleicht füttert der Junge gerade die Ratten mit Käse. Ich nehme den dunkelgrünen Stift, will Schuppen auf den Körper des Drachen zeichnen. Der Stift bleibt auf dem Papier stehen.

Der Junge grinst, als ich durch die Tür trete. Er sieht aus, als hätte er die ganze Zeit gewusst, dass ich kommen würde.

»Heute sollst du Schmiere stehen«, sagt er. »Wie als wir Scheiße auf die Klingeln geklebt haben.«

Er geht los und weiß, dass ich ihm folgen werde.

»Was hast du vor?«, sage ich zu seinem Rücken.

»Du wirst schon sehen«, sagt er, ohne sich umzudrehen. Ich bin sicher, dass er grinst. »Wenn ich es dir verrate, ist es ja keine Überraschung mehr.«

Wir gehen an den Verschlägen und den rostigen Fahrrädern vorbei.

»Überraschungen sind immer gut«, sagt er.

Ich nicke, er hat wohl recht. Wenn ich mit ihm zusammen bin, denke ich langsamer.

»Du bist mein Freund«, sagt er. Wir stehen vor der Kellertür zur Werkstatt des Hausmeisters. Der Junge zeigt auf eine Platte vor mir.

»Bleib hier und pass auf. Wenn du die Schlüssel des Hausmeisters hörst, komm runter und klopf drei Mal an.« Der Junge schlüpft durch die Tür. Ich bleibe auf der Platte stehen, auf die er gezeigt hat. Eigentlich will ich wegrennen, aber ich tue es nicht. Ich höre die Blätter im Wind rascheln, höre meinen eigenen Atem, der immer rascher wird, aber keine Schlüssel.

Dann geht die Tür auf, der Junge hält einen Schlüssel in die Luft, wie einen Pokal. Er greift meinen Arm und zieht mich davon.

»Jetzt wirst du staunen«, sagt er.

Wir gehen über den Hof an einer Vogeltränke vorbei, bis wir vor einer anderen Kellertür stehen. Der Junge zieht mich die Treppe hinunter. Er steckt den Schlüssel ins Schloss und schließt auf. Drinnen ist es total dunkel. »Beeil dich«, sagt er. »Steh nicht rum und glotze.« Die Tür fällt hinter uns zu.

Wir gehen durch einen kurzen Gang. Ich rieche etwas Scharfes, vielleicht Leim. Ich höre den Jungen tasten. Das Licht an der Decke blinkt ein paar Mal, bevor es angeht. Wir sind umgeben von Katzen, die Pfeifen rauchen, und rothaarigen Mädchen mit buschigen Schwänzen, die unter den Kleidern hervorragen.

An den Wänden stehen Arbeitstische und stapelweise Stoffe in verschiedenen Farben und Mustern. »Überraschungen sind immer gut«, sagt der Junge. Wir stehen in einer Puppenwerkstatt.

Ich weiß, dass ich gehen sollte, aber ich kann den Blick nicht von dem Ameisenbären mit Hut oder dem Affen mit Spazierstock und roten Schuhen abwenden. Ich gehe von Tisch zu Tisch und sehe mir alle Puppen an. Giraffen mit langem Schlips, so lang wie ihre Hälse. An einer Pinnwand hängen Fotos einer alten Dame, die sich über eine Nähmaschine beugt, sie gibt einem Kaninchen Ohren und näht einem Hund Pfoten an. Auf anderen Bildern sitzt sie zwischen Kindern, die Puppen im Schoß halten. Die Kinder lachen, und sie lächelt stolz in die Kamera. Auf dem letzten Bild sitzt ein kleines Mädchen ohne Haare in einem Krankenhausbett. Es umklammert ein Krokodil mit Brille.

Plötzlich höre ich ein Knurren hinter mir, wie von einem Hund, der einen Knochen im Maul hält. Der Junge steht neben einer mannshohen Puppe. Zuerst denke ich, er würde sie umarmen, aber dann sehe ich, dass er der Puppe in den Hals gebissen hat. Er reißt ihr den Kopf halb ab, gelbliche Füllung quillt hervor. Wir sehen einander an, und er wirft die Puppe von sich. Dann nimmt er eine Schere und vergisst mich wieder, schneidet Puppenarme und Puppenbeine ab. Ich gehe rückwärts aus der Werkstatt. Der Junge schneidet einem Zebra die Ohren und einem Elefanten den Rüssel ab. Ich gehe durch den Gang hinaus.

Auf der Kellertreppe bleibe ich stehen, um meine Augen wieder ans Licht zu gewöhnen, als ich Schlüsselrasseln höre. Ein großer Schlüsselbund, der immer näher kommt.

Ich springe hinter die Büsche an der Hausmauer und lege mich flach auf den Boden. Durch die Blätter sehe ich die Hosenbeine des Hausmeisters. Er bleibt direkt vor meinem Busch stehen. Ich schließe die Augen und hoffe, dass er mich nicht entdeckt.

Er hält kurz inne, dann geht er die Kellertreppe hinunter und öffnet die Tür zur Puppenwerkstatt.

Ich liege im Bett, kann nicht schlafen. Mein Vater ist spät von der Arbeit gekommen, er sitzt in der Küche und isst belegte Brote.

Ich höre ein Zischen, er öffnet eine Flasche Bier.

Ich höre, wie mein Vater den Teller spült. Dann steht er in der Tür und fragt, ob er unser Märchen weitererzählen solle. Seit ein paar Tagen wandern der König und der Prinz durch einen verzauberten Wald. Sie gehen auf einem schmalen Pfad, der von fleischfressenden Pflanzen gesäumt ist. Ich frage meinen Vater, ob wir bis morgen warten könnten mit dem Märchen. Ob die Pflanzen sie dann fressen würden? Natürlich könnten wir warten, sagt er. Der König und der Prinz würden schon durchkommen. Mein Vater küsst mich auf die Stirn, lässt die Tür einen Spalt offen. Ich höre dünnes Papier knistern, er dreht sich eine Zigarette.

Er blättert in einem Buch, und ich höre das metallische Knirschen der Lampe, er verstellt sie, damit er besser lesen kann.

Ich weiß nicht, ob ich richtig gehandelt habe. Man soll niemanden verpfeifen. Aber ich habe ja keinem etwas gesagt. Es gibt kaum falsche Entscheidungen, sagt mein Vater. Am wichtigsten ist, dass man sie trifft und dazu steht. Ich drehe mich zur Wand.

Wie keiner sonst / ebook
titlepage.xhtml
part0001.html
part0002.html
part0003.html
part0004.html
part0005.html
part0006.html
part0007.html
part0008.html
part0009.html
part0010.html
part0011.html
part0012.html
part0013.html
part0014.html
part0015.html
part0016.html
part0017.html
part0018.html
part0019.html
part0020.html
part0021.html
part0022.html
part0023.html
part0024.html
part0025.html
part0026.html
part0027.html
part0028.html
part0029.html
part0030.html
part0031.html
part0032.html
part0033.html
part0034.html
part0035.html
part0036.html
part0037.html
part0038.html
part0039.html
part0040.html
part0041.html
part0042.html
part0043.html
part0044.html
part0045.html
part0046.html
part0047.html
part0048.html
part0049.html
part0050.html
part0051.html
part0052.html
part0053.html
part0054.html
part0055.html
part0056.html
part0057.html
part0058.html
part0059.html
part0060.html
part0061.html
part0062.html
part0063.html
part0064.html
part0065.html
part0066.html
part0067.html
part0068.html
part0069.html
part0070.html
part0071.html
part0072.html
part0073.html
part0074.html
part0075.html
part0076.html
part0077.html
part0078.html
part0079.html
part0080.html
part0081.html
part0082.html
part0083.html
part0084.html
part0085.html
part0086.html
part0087.html
part0088.html
part0089.html
part0090.html
part0091.html
part0092.html
part0093.html
part0094.html
part0095.html
part0096.html
part0097.html
part0098.html
part0099.html
part0100.html
part0101.html
part0102.html
part0103.html
part0104.html
part0105.html
part0106.html
part0107.html
part0108.html
part0109.html
part0110.html
part0111.html
part0112.html
part0113.html
part0114.html
part0115.html
part0116.html
part0117.html
part0118.html
part0119.html
part0120.html
part0121.html
part0122.html
part0123.html
part0124.html
part0125.html
part0126.html
part0127.html
part0128.html
part0129.html
part0130.html
part0131.html
part0132.html