Wir setzen mit der ersten Fähre über. Heute bin ich mit meiner Großmutter allein. Wir folgen den blauen Pfeilen. Meine Großmutter spricht mit der Krankenpflegerin und erfährt, dass seit gestern alles unverändert ist.
»Aber der Oberarzt möchte mit Ihrem Enkel sprechen …« Meine Großmutter ist schon auf dem Weg ins Zimmer.
Der Mann im Bett ist weiter geschrumpft, seine Haut spannt sich immer strammer über den Schädel.
»Er hat nie viele Worte gemacht«, sagt meine Großmutter. »Er hat seine Stimme geschont, weil er jeden Sonntag mit dem Wind um die Wette schreien musste. Und er konnte schreien, glaub mir, er konnte schreien.«
Nach Stunden des Wartens gehen wir in die Cafeteria und trinken Kaffee aus einer Kanne, die zu lange auf der Wärmeplatte gestanden hat. Meine Großmutter isst ein halbes Stück Rührkuchen, ich bekomme ein Sandwich mit Eiersalat. Dann setzen wir uns wieder neben den Mann im Bett. Ich höre den Maschinen zu, die für ihn atmen, und blättere in einer vier Tage alten Zeitung.
Ich gehe zu dem Servierwagen auf dem Flur, lege ein paar Kronen in die Münzschale und hole zwei Tassen Kaffee. Als ich die Tür mit der Schulter aufstoßen will, kommt ein junger Arzt auf mich zu. Er fasst mich am Ellbogen und lächelt.
»Du bist der Enkel?«
Ich höre, dass er aus Kopenhagen stammt. Er ist Anfang dreißig, wahrscheinlich haben sie ihn aufs Land geschickt.
»Vielleicht kannst du mit ihr reden. Es gibt eigentlich keine Chance, dass er aufwacht.«
»Heute nicht?«
»Heute nicht. Und auch nicht in fünf Tagen. Tut mir leid, dass ich es so direkt sage.« Sein T-Shirt unter dem Kittel ist verwaschen. Ich spüre den heißen Kaffee von innen brennen.
»Ich habe Mitleid mit ihr«, sagt der Arzt. »Und mit ihm, weil er in diesem Zustand bleiben muss.«
Er sieht mich an und hofft, dass ich etwas sagen oder wenigstens nicken werde. Dass ich ihm ein Zeichen gebe.
»Natürlich sollst du das nicht entscheiden, aber vielleicht könntest du mit ihr reden?«
Als ich das Zimmer wieder betrete, steht meine Großmutter am Fußende und stützt sich auf den Bettrahmen.
»Die Ärzte irren sich«, sagt sie, als hätte sie uns gehört. »Er wird aufwachen.« Ich stelle die Tassen neben die Pappschachtel mit Latex-Handschuhen auf den Betttisch.
»Ich wünschte, dein Vater wäre hier.« Sie wischt sich Tränen aus den Augen.
»Was ist mit ihm geschehen?«
»Nichts.« Sie starrt den Mann im Bett fest an. »Es ist das Alter, sonst nichts.«
Die Krankenpflegerin erinnert uns freundlich daran, dass die Besuchszeit zu Ende sei. Beim zweiten Mal mahnt sie resolut zum Aufbruch. Meine Großmutter nimmt ihren Mantel vom Stuhl, und wir folgen den Pfeilen.
Der Parkplatz ist leer, wir steigen in den alten Opel.
»Was ist mit meinem Vater geschehen?«, frage ich, als wir auf die Schnellstraße fahren.
Sie richtet sich im Sitz auf, die Falten um ihren Mund werden tiefer.
»Es heißt, er sei schwer erkrankt«, antwortet sie schließlich.
»Ja … aber weißt du, was geschehen ist?«
»Nein.« Sie richtet den Blick starr auf die Straße.
Nach der Überfahrt halten wir am einzigen Geschäft der Insel an. Ein kleiner Laden, in dem Seile, Motorenöl, Alkohol, ein paar Lebensmittel und verblichene Taschenbücher verkauft werden.
Der Mann hinter der Theke hat einen Vollbart und wiegt mindestens einhundertfünfzig Kilo. Er riecht stark nach Tabak. Meine Großmutter kauft Milch und Zigarillos.
»Gibts was Neues über den Sturm?«, fragt sie und legt Münzen auf die Theke.
»Wird schlimm diesmal.«
Der Preis, den er eintippt, ist viel zu niedrig.
»Meine Hunde laufen im Kreis und beißen einander. Vielleicht gehts heute Abend schon los. Oder morgen, aber kommen wird er. Und er wird schlimm.«