Über eine Woche vergeht, bis ich wieder im Zug sitze.

An jedem Bahnhof bin ich kurz davor, auszusteigen, will aus dem Zug rennen, als hätte ich nicht bezahlt. Über platt getrampelte Kaugummis hasten, Zigaretten und eine Zeitung am Kiosk kaufen und nichts wie zurück in die Stadt. Aber ich bleibe sitzen. Ich warte auf den Bus, steige ein und zähle die Haltestellen. Diesmal brauche ich den Fahrer nicht mehr zu fragen.

Derselbe Pfleger wie beim letzten Mal holt mich an der Rezeption ab.

Wir gehen durch die Gänge, ich zeichne eine Karte im Kopf, behalte mir, wann wir nach rechts oder links gehen. Jetzt weiß ich, wie groß das Gebäude ist. Es ist sehr groß.

Der Pfleger steckt den Schlüssel ins Schloss.

»Sie dürfen ihm nichts geben. Kein Feuerzeug, keinen Kugelschreiber. Keine Behälter oder Glasflaschen …« Er reißt die Tür auf, während er noch seinen Spruch herunterleiert, dann verstummt er jäh. Wir schauen in einen leeren Raum. Der Pfleger stürzt zum Kleiderschrank und reißt die Türen auf. Nur Jeans und verwaschene T-Shirts. Er läuft auf den Gang, schaut nach beiden Seiten und zieht das Funkgerät aus dem Gürtel.

»Bewohner 314 ist nicht auf seinem Zimmer, soll ich Alarm auslösen?« Er schreit fast, dann hört er der Stimme am anderen Ende zu, sein Gesichtsausdruck verändert sich von beherrschter Panik zu Wut.

»Das hättet ihr mir verdammt noch mal mitteilen müssen. Nein, es reicht nicht, es nur Poulsen zu sagen.«

Er steckt das Funkgerät wieder in den Gürtel und schließt das Zimmer meines Vaters ab. Dann gibt er mir mit einer Handbewegung zu verstehen, dass ich ihm folgen soll.

Er durchschreitet schnell und wütend mehrere Gänge und Schleusen.

»Keiner von denen ist so lange hier wie ich«, sagt er und geht langsamer, lässt mich aufholen. »Die waren noch nicht hier, als Ihr Vater eingeliefert wurde. Sie könnten die Akte lesen, aber die meisten sind zu faul dazu.«

Wir gehen weiter, der Pfleger betrachtet mich aus dem Augenwinkel.

»Ich kam aus der Neurologischen, hatte gerade angefangen. Ihr Vater hatte sich auf der Toilette eingeschlossen. Natürlich haben wir einen Schlüssel, aber er hat es geschafft, das Schloss zu blockieren, sodass wir die Tür aufbrechen mussten. Er hatte die Glühbirne an der Decke zerschlagen, es war völlig dunkel. Er hatte sich ganz ausgezogen und von Kopf bis Fuß mit Seife eingeschmiert, wir konnten ihn nicht ergreifen, obwohl wir zu viert waren.«

Der Pfleger bleibt stehen und zieht am Ausschnitt seines Sweaters, damit ich die Narbe sehen kann. Sie beginnt über dem Schlüsselbein und endet irgendwo unter dem Pullover.

»Er hatte eine Seifenschale aus der Wand gerissen und als Waffe benutzt.«

Wir erreichen zwei Türen aus Plexiglas. Auf einem Schild steht »Bibliothek«. Der Pfleger hält mir die Tür auf.

»Henrik hat fast ein Auge verloren, er sieht immer noch schlecht.«

Die Tür fällt hinter uns zu, wir gehen an den Regalen entlang. Es sieht aus wie in einer Schulbibliothek.

Am Schreibtisch sitzt ein Mann mit Namensschild, er steckt Leihkarten zurück in die Bücher. Er schaut auf, sieht meinen Ausweis und wendet sich wieder der Arbeit zu.

Mein Vater sitzt an einem Tisch im kleinen Lesesaal, die Tageszeitungen sind vor ihm ausgebreitet.

»Ich darf nichts ausschneiden«, sagt er und lächelt. »Deshalb verstecke ich die Artikel hier drinnen.«

Er tippt sich an die Schläfe. Hinter meinem Vater holt ein Mann Bücher aus dem Regal. Er studiert sie kurz und stellt sie an einen anderen Platz zurück.

»Ein Mensch kann sich an fast alles gewöhnen«, sagt mein Vater. »Aber es ist anders, wenn er es muss. An manche Dinge sollte man sich nie gewöhnen. Ich vermisse Bier. Wie ich mich nach dem Geschmack sehne.«

Der Pfleger mit den Leihkarten kommt an unseren Tisch, er hat eine Zeitung in der Hand, legt sie vor meinen Vater.

»Die lag auf dem Boden.« Plötzlich erblickt er den Mann am Regal.

»Holger, verdammt.«

Er eilt zu ihm und reißt ihm ein Buch aus der Hand.

»So stehen sie besser.«

»Holger, verdammte Scheiße.«

»Das Alphabet ist nicht …«

»Wer zum Teufel hat dich hier reingelassen?«

Holger wird aus der Bibliothek gezogen, wir hören, wie etliche Bücher zu Boden fallen.

»Man sieht es ihnen kaum noch an.« Mein Vater ergreift meine Hände. »Sie tarnen sich viel besser heute. Man könnte fast glauben, dass sie es selbst nicht wissen.«

Holger prügelt sich mit zwei Pflegern, ich höre einen dumpfen Aufprall, als er zu Boden fällt und fixiert wird.

»Wie hier in der Klinik«, sagt mein Vater. »Für die meisten ist es nur ein Job. Sie kommen am Morgen, verdienen ihr Geld und gehen wieder heim. Aber es gibt auch ein paar Weiße Männer. Sie sind schwer zu erkennen. Du musst sie lange beobachten, besonders wenn sie glauben, dass sie allein sind.«

Der Pfleger kommt zurück und begutachtet resigniert das Regal, das Holger umsortiert hat.

»Wenn es etwas hilft: Er war mehrere Stunden lang hier«, sagt mein Vater.

Der Pfleger flucht und beginnt zu sortieren.

Wie keiner sonst / ebook
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